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2. Berlin-Reise / 2000

#2.57 | Besuchsprogramm

Montag, 31. Juli

Wahrlich, eine Zusammenfassung. Ab heute Nachmittag würde ich Volker Eckhoff1 zwanzig Stunden lang ein Berlin bieten wollen, das ihm nicht nur als Freundschaftsdienst, sondern auch als Erlebnis in Erinnerung bleibt. Da galt es, uneigennützig Kindheit auszuklammern und Hightech überzubetonen.
Alle Tage ist kein Sonntag, was bedeutet: Ich kann genauso lange schlafen, aber die Läden sind geöffnet. Auf der Strecke bis zur Bülowstraße schubste mich die U2 in keinen Pendelbus, und vom trübseligen Hochbahnhof bis zum verschwiegenen Garten des ‚Café Einstein‘ ist es schön, im Fortschreiten den Verkehr Schritt für Schritt hinter sich zu lassen. Das Wetter war nicht sehr viel besser als am Samstag der Loveparade, als ich mit Giuseppe drinnen hatte vorliebnehmen müssen, aber draußen war gedeckt und ich bis zur Wildheit entschlossen.
So saß ich also im Freien und schrieb den anfänglichen Text von den Beguckungen balgender Spatzen. Der Kreis beginnt, sich zu schließen, aber das muss uns nicht verwundern. Wozu sonst sind Kreise da?
Glücklicherweise hatte die Organisation in Mitte vergessen, ein zweites Bett in meine Suite zu stellen, sodass mir die Erleuchtung kam, wie viel ungenierter es wäre, für Volker ein eigenes Zimmer zu buchen. Auch das ‚Madison‘ machte so das bessere Geschäft. Ich war noch damit beschäftigt, meinen Umzug von Berlin nach Hamburg vorzubereiten, als ich schon am fröhlichen Klingeln des Telefons hörte, dass Volker die Strecke gemeistert hatte. Obwohl mein Bekanntenkreis (fast) nur aus Wanderern besteht, die mir an Rüstigkeit weit überlegen sind, plane ich alternativ immer Verkehrsmittel ein. Bei Volker erwies sich das als ganz besonders überflüssig.
Unser Weg: Kronenstraße, Gendarmenmarkt (einmal rum und bewundern), Mohrenstraße, Voßstraße, Potsdamer Platz (Eis essen und Elektronik studieren im Sony-Center), Brandenburger Tor (von unten wegen S-Bahn, meine Schuld), Friedrichstraße, Oranienburger Straße, Hackesche Höfe, Sophienstraße und Umgebung, schließlich ins ‚McBride’s‘ in den Heckmann-Höfen, wo es mir mit Michael so gut gefallen hatte. Selber Tisch, versteht sich.
Dafür, dass Hanno und Christine da noch nie waren und aus der Mommsenstraße mit dem Auto kamen, waren sie atemberaubend pünktlich. So etwas imponiert mir. Wie erwartet, war die Chemistry gut. Es machte mir Spaß, meinem Vetter keinen überkandidelten Schöngeist als Freund zu präsentieren, sondern jemanden, der dieselbe Frisur hatte (freundlich behaarte Glatze) und über Motorradtouren durch Nordafrika genauso viel wusste wie Hanno. Christine und ich hatten derweil Gelegenheit, miteinander darüber zu philosophieren, mit welchen lukullischen und lukrativen Spezialitäten sich ihr Saftladen in spe wohl aufpeppen lassen würde. Marina und Florian wussten wir bereits an Dänemarks Küste. Andernfalls hätten beide zu beidem sicher auch Abrundendes beizutragen gewusst. Wir beschlossen, den Abend in der ‚Ständigen Vertretung‘ zu beschließen. Da konnte man sich gemütlich anbrüllen und ins Glas oder auf den einsam leuchteten Bahnhof Friedrichstraße gucken.

Dienstag, 1. August

Nun war der Westen dran. Mit Volkers Wagen. Brandenburger Tor von oben, Siegessäule von unten, Charlottenburger Tor, Fasanenstraße, Kurfürstendamm, Uhlandstraße, Parkhaus. Die im ‚Ku’damm-Karree‘ eingerichtete Erlebnis-Ausstellung ‚The Story of Berlin‘ war mir von allen Verwandten und Seelenverwandten wärmstens empfohlen worden, misstrauenerweckenderweise mit dem Hinweis: ‚Das soll toll sein‘ – nicht etwa: ‚Ich war da. Das ist toll.‘ Aber die Unternehmung ist nicht staatlich gefördert, und was kommerziell sein muss, um bestehen zu können, das geht Volker bestimmt und auch mich, bis hin zur Saft-Bar, mehr an, als wenn in der subventionierten Volksbühne Romeo und Julia als Regie-Einfall von den alt gewordenen Kessler-Zwillingen verkörpert werden.
Wir gingen erwartungsvoll durch eine Stahltür von der Tiefgarage ins eigentliche Karree, wobei die Atmosphäre ziemlich gleich blieb. Unten mehr Autos, oben mehr Andenken. Der Eingang zur Ausstellung war zwar abschreckend, marktschreierisch und billig gezimmert, aber nicht zu verfehlen. Mir war sowieso sauelend. Hinzu kam, dass meine Blase und mein Darm durchgehend geöffnet hatten. Ein im Museum nicht eben konzentrationsfördernder Zustand, aber da ich daran arbeite, mich zu einem genügsamen Menschen hinzuentschleunigen, gelang es mir, Dankbarkeit dafür zu entwickeln, dass ich nicht auch noch kotzen musste.
Volker war begeistert, Gott sei Dank! Ich war reduziert, na ja. Der Rest, der von mir noch übrig war, fragte sich bei aller Anerkennung für das Buhlen um Publikumsgunst: Kenne ich mich hier jetzt besser aus als in meiner Westentasche oder hat mir bloß ein geschickter Taschenspieler einen unter die Weste gejubelt? Der lustige Schnickschnack des Biedermeier, mit simplen Mitteln in Szene gesetzt, hat mir besser gefallen als die aufwendigsten Konstruktionen von Bücherverbrennungen. Da ging der Ernst in Mätzchen baden. Trotzdem bereue ich, wie so oft, nichts. Ein etwas jahrmarktsorientierter Überblick auch vom zwölften Stock aus auf heute: Gaukler geben Geschichte. Alles scheint so formbar, so veränderbar. Und so war Berlin immer, von Anfang an. Eine Stadt wie Wachs.

Dorothee stand schon vor ihrem Haustor. Von der Bleibtreustraße unter die Linden. Nach dem Ku’damm-Karree erschloss sich uns das Linden-Karree: Unter den Linden, Friedrichstraße, Behrenstraße, Glinkastraße – und wieder unter denselben Linden, viermal. Ich genoss es, fünf Wochen lang keine Parkplatzprobleme gehabt zu haben. Wolkenloses Abschiedswetter, so konnten wir bei ‚Dressler‘ meinen vorbestellten Draußen-Tisch einnehmen, den einzigen, an dem es nicht zieht. Auch das Essen war unproblematisch. Dorothee und Volker reden beide mit jedem, und mir war sowieso schlecht.

Wir brachten Dorothee zur U-Bahn-Station Französische Straße, mein Gepäck in den Kofferraum und eine halbe Stunde im Stau zu, dann hatten wir über Pankow den Berliner Ring erreicht, ohne den Westen noch einmal zu berühren. Ganz unwichtig, aber meine erste Ausreise von Ostberlin direkt in die DDR.
Jeder, der Volker kennt, weiß, dass er nicht schweigsamer ist als ich. Und so war ich die ganze Zeit über damit beschäftigt, mich zu fragen, ob seine Mitteilsamkeit mich ablenkte oder wahnsinnig machte. Volker fährt schnell, aber das war es nicht. Ich konnte es gut abwarten, nach Hamburg zu kommen, und fühlte mich eher innerlich gehetzt als vom Fahrtwind belästigt. Die Rastlosigkeit endete vorübergehend an der Raststätte: Volkers Durst und meine Blase. Volker tankte Diesel, ich kaufte im Supermarkt zielstrebig, was mir mecklenburgisch vorkam. Junker-Jagdwurst und Bauernbrot. Ich weiß, ich weiß: Die Junker kamen aus Pommern und das Landbrot aus Herne/Westf., aber wenn man zufriedener werden will, muss man sich abgewöhnen, immer alles zu merken.

Who is who (Akkordeon)

1 – Volker Eckhoff

[ˈfɔlkɐ] [ˈɛkˌhɔf]

Volker Eckhoff leitete das Studio, in dem ich während meiner ‚Grammophon‘-Zeit die Promotion-Videos realisierte. Dreißig Jahre vorher waren wir schon zwei Jahre lang in dieselbe Schulklasse gegangen. Später hat er die sechsundvierzig Stunden all meiner Jahresfilme digitalisiert. Er trank und rauchte nicht, trieb Sport und starb vor vier Jahren an den Spätfolgen eines Schlaganfalls. Kein Vorbild.

21 Kommentare zu “#2.57 | Besuchsprogramm

      1. Dabei ist das ja eine wirklich übliche Kombination. Hoher Anspruch, gutes Marketing, wenig Substanz.

      2. Das sind die tragischen Fälle. Da wünscht man sich immer, dass da jemand zur Seite steht, der ein wenig unter die Arme greift.

      3. Ruhm posthum zahlt keine Rechungen und kitzelt das Selbstwertgefühl nicht. Manchmal beflügelt er aber bereits die Hoffnung zu Lebzeiten. (siehe Droste-Hülshoff)

  1. Zwanzig Stunden am Stück? Das würde sicher jedem in Erinnerung bleiben. Oder doch auf ein Wochenende verteilt?

  2. Erlebnis-Ausstellung klingt ja immer schon so anbiedernd. Als ob ein Ausstellungsbesuch nicht ohnehin ein Erlebnis sein kann. Da braucht es dann nochmal den extra Kick um auch den letzten Heini zum Ticketkauf zu überreden.

    1. Ist doch gut so. Dann gehen die „Heinis“ eben alle in so eine Erlebnis-Ausstellung und man hat in der Nationalgalerie ein wenig mehr Platz. Warum soll man nicht Angebote für jedes Publikum schaffen?

    1. Man muss ja immer das Positive sehen. Freundlich behaart ist ja weitaus besser als aggressiv aufgestyled.

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