Mittwoch, 3. August
Aufwachen und wissen: Ich bin in Rom! Gleich fühlte ich mich, als hätte ich das Schicksal, das diese Begegnung gar nicht mehr für mich vorgesehen hatte, draufgängerisch überlistet. Aufwachen und wissen: Ich bin nicht allein. Zwischen 1975 und 1990 bin ich zu Hause nie allein aufgewacht (unterwegs ziemlich oft auch nicht). Inzwischen kann ich mich gar nicht mehr erinnern, wann ich wohl zuletzt im selben Zimmer mit jemandem geschlafen habe. Neben einem vertrauten Menschen einzuschlafen, war ein beruhigendes Gefühl. Jetzt genieße ich es, die Nacht rücksichtslos und unbehelligt verbringen zu können. Neben jemandem, den man liebt, einzuschlafen, tut der Seele wohl. Mit anderen, wildfremden Menschen zu schlafen, auf der Flucht oder eingesperrt, das ist für mich ein Albtraum im Wachsein. Wenn ich mich nachts auf dem Laken wälze, dann stelle ich mir genau das vor: Ich liege eingepfercht in einem Boot oder in einer Zelle oder ich hocke im Flugzeug zwischen zwei Schnarchern über dem Atlantik. Selbst, wenn ich dann nicht sofort wieder einschlafe, räkel ich mich zumindest wohlig und dankbar unter meiner Decke.
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Giuseppe, der mich mit seinen Nachtgeräuschen leicht behindert hatte, war schon im Bad zu hören. Er schläft kürzer als ich, aber konzentrierter, da braucht er natürlich weniger Schlafenszeit. Ich dagegen träume auch ein bisschen, wenn ich wach bin, und meine Nachtträume rette ich in den Tag hinüber. Das ist etwas ver-rückt von der üblichen Anordnung der Tatsachen und der Traumsachen. Mein Trost: Die Wirklichkeit muss man wahrnehmen, unbedingt, aber nur als Knet-Masse. Wer sie sich nicht formt nach seinem – vorherbestimmten oder ausgedachten – Ebenbild, der wird niemals Gott sein, weder seiner Träume noch seiner Pläne noch seiner selbst.
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Aufwachen und wissen: Heute hat Silke Geburtstag. Das muss gefeiert werden, ob es will oder nicht. Aber zunächst eine Stunde auf der Terrasse, ob ich will oder nicht. Der jugendliche Wunsch, braun zu werden, ist im Ansatz noch vorhanden und führt wenigstens zu einem Sonnenbrand auf der Glatze, weil ich selbst meine Haarlosigkeit ja nicht sehe und in den Sechziger-, Siebzigerjahren Kopfbedeckungen so unmodern waren wie heute Krawatten. Guntram hatte immer einen Hut auf, wenn er ins Büro fuhr, auch im Sommer. Ich trug selbst bei großer Kälte nur widerwillig eine Mütze. Dafür schmierte ich mir Salzwasser ins Haar, eitel, wegen der Farbe. Das sind alles keine Werte, sondern bloß Modeerscheinungen, braun, blond, schlank, aber für manche ist das schwer zu unterscheiden, besonders, wenn sie bis auf die Mode keine Werte haben …
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Pünktlich um elf hielt die Kutsche vor unserem Hotel. Da reinzuklettern, ist das würdevoll oder touristentöricht? Ich habe keine Wahl mehr. Alles, was ich mir früher erlaufen, errannt, erobert habe, kann ich jetzt nur noch im Sitzen an mir vorbeigleiten sehen, oder ich muss darauf verzichten. Im vorigen Jahr hatte ich mir mit Silkes Beistand Potsdam, Berlin, Dresden, Prag von der Fahrrad-Rikscha aus erschlossen. Mein Gesäß war von den Kopfsteinpflastern mindestens so beeindruckt wie mein Gemüt von den Anblicken. Kutsche ist bequemer und für Hochzeiten, aber auch für Geburtstage, bestens geeignet.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Da saßen wir und fuhren durch all die verkehrsgesperrten Straßen. Nicht mal die Pferde durften überall hin. Zum Trevi-Brunnen mussten wir laufen, die Piazza Navona ging auch nicht, war aber erst morgen dran. Die Menschenmengen, denen das Selfie wichtiger scheint als die Umgebung, sind es nicht wert, noch naserümpfend beschrieben zu werden, und ich rege mich über mich auf, dass ich mich darüber immer noch aufrege.
Foto: Emanuele Colombo/Shutterstock | Fotos unten (2): Privatarchiv H. R.
Ich konnte zwar durchsetzen, dass wir nicht auf die andere Tiber-Seite zur Engelsburg und zum Vatikan trabten, aber sonst wurde das Programm vom festgefahrenen Kutscher eisern durchgezogen: Via del Corso, Piazza Venezia, Forum Romanum, Capitol. Das habe ich zuletzt vor vierzig Jahren mit Roland und Dinchen gemacht und werde das Abklappern solcher Kultstätten mit einem Video-Clip beweisen. Hier ist er:
Alles hinnehmen, wie es ist, das kann ich einfach nicht und habe es nie gekonnt. Die Dinge verändern zu wollen – besteht darin die Würde des Menschen? Kann sein. Bessern, Heilen, Vervollkommnen. Kann aber auch nicht sein: Erniedrigen, Zerstören, Verplempern. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt, und sich von zwei armen Gäulen an Roms Sehens‚würdig‘keiten vorbeikutschieren zu lassen, stellt, vom Gehweg aus betrachtet, den Übergang dar: Die ehemalige Würde der Kutschfahrt reicher Würdenträger ist ins Lächerliche einer Belustigung betuchter Reisender runtergerutscht: saukomisch!
Hier und jetzt über Würde nachzudenken, würde zu dem Schluss führen, dass es Menschenwürde nur sehr vereinzelt gibt und sie nicht jedem zusteht. Schade, dass es gestern in Rom nicht ein paar Attentate gegeben hat. Dann wären jetzt die Plätze nicht so brechend voll. Zum Erbrechen, dieses Gewimmel. In der Kutsche zu sitzen, macht es leicht, das Fußvolk zu verachten, sogar dann noch, wenn man sich selbst wie ein Bekloppter hoch zu Ross vorkommt. Menschen kann ich nun mal nicht leiden, mich eingeschlossen, und Touristen sind besonders furchtbar, mich eingeschlossen. Allerdings bin ich weniger hysterisch als die meisten. Wenn doch sonst auch nur so wenig Aufregendes in meinem Leben geschieht, wieso sollte ausgerechnet mir da das seltene Glück beschieden sein, bereits jetzt blitzschnell von einer Bombe zerfetzt zu werden, statt, wie es sich gehört, dereinst monatelang an Schläuchen verrecken zu müssen?
Dabei bin ich schon wesentlich konzilianter geworden. Noch vor – wie ich finde, wenigen – Jahren hätte ich dem Attentäter die Namen der Leute zugespielt, die er unbedingt bei seinem Unterfangen zu berücksichtigen hätte. Jetzt reicht es mir schon, wenn fette Frauen in Hot Pants und Männer in ‚Birkenstocks‛ mit weißen Socken in seine Pläne einbezogen sind. Weg der Dreck! Wer in Shorts in den Petersdom will, soll ich dem Würde zubilligen? Ich denk’ nicht dran! Eine Frau in Burka wirkt würdevoll, dabei ist das doch nur ein Stück Stoff. Ich sehe es wohl zu sehr aus dem Blickwinkel des Ästhetischen, dabei ist Würde im Gegensatz zur Ehre kein äußerer, sondern ein innerer Wert, aber einer, den man sich verdienen muss. Nach meinen Maßstäben kann ein Baby niedlich sein, würdevoll ist erst ein Mensch, der sich dieses Prädikat erworben hat. Dass die Würde des Menschen unantastbar sei, wie es das Grundgesetz formuliert, ist ein frommer, fast naiver Wunsch; denn wenn dem Menschen die Würde nicht von anderen schon genommen wird, dann zergrabbelt er sie sich selbst gern – im Rausch, im Puff, im Internet.
Der Italiener Giovanni Pico della Mirandola lebte ab 1463 einunddreißig Jahre lang. Diese kurze Zeit reichte aus, um ihn formulieren zu lassen: ‚Die Würde des Menschen liegt darin, dass er die Freiheit hat, sein Wesen selbst zu schaffen.‘ Den Schöpfer lässt Pico zu Adam sagen: „Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen.“ Diese Selbstbestimmung des Menschen macht seine Würde aus. Und was macht er daraus? Beten, Saufen, Morden. Aber nicht nur. Beweggründe gibt es für alles: edle und schurkische. Den Einzelnen kann ich verstehen, die Masse nicht.
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Die Idee, dass man seine Würde erst verdienen muss (und zwar durch eine besonders sittliche Lebensführung) findet man schon bei Cicero. Ansonsten gibt es , je nachdem welchen Philosophen man gerade liest, vielerlei Auslegungen. Das Grundgesetz wiederum ist glaube ich viel weniger philosophisch zu verstehen, sondern bietet vielmehr den Rahmen, in welchem wir Menschen miteinander leben. Es heisst ja nicht zuletzt weiter: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dass man seine Würde mit ein paar Selfies oder einem Auftritt im Reality TV (und und und…) leuchtfertig auf’s Spiel setzen kann, schliesst dies natürlich nicht aus.
Für viele klingen die Worte „Würde“ und „Anstand“ altmodisch wie „Frack und Zylinder“. Wenn das Vorbild nicht das Staatsoberhaupt ist, sondern der Comedian, dann muss man sich wirklich um die angemessene (Ver)kleidung keinen Kopf machen. Am Aschermittwoch darf man aber mal über die Karnevallisierung der Gesellschaft nachdenken.
Die Wirklichkeit als Knetmasse gefällt mir sehr. Gibt es so etwas wie „die“ Wirklichkeit überhaupt? Ist Wirklichkeit nicht immer subjektiv und von unseren Gefühlen und unserer persönlichen Wahrnehmung geprägt? Die Erkenntnis, dass man seine Wirklichkeit wie Knete formen kann, ist dann tatsächlich die naheliegende Konsequenz. Und irgendwie sehr befreiend.
Was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, ist ja tatsächlich nur ein winziger Ausschnitt aus einem praktisch endlosen uns umgebendem Möglichkeitsfeld. Und die Gabe unsere eigene Wirklichkeit zu formen und zu definieren ist doch das, was unsere Persönlichkeit zu einem großen Teil ausmacht.
Sicherlich muss man aber auch unterstreichen, dass es so etwas wie eine faktische Wirklichkeit gibt. Gerade in einer Zeit, die man bereits als postfaktische Ära bezeichnet hat. Das Ignorieren von Tatsachen ist je nach Situation und Zusammenhang entweder Gabe, Chance, Notwendigkeit oder Gefahr.
Auch wenn ich mich langsam ein wenig an Ihre Neigung zur Provokation gewöhnt habe, das Bild der zerbombten Körper geht mir persönlich zu weit. In Frankreich wird momentan zu Recht gegen Marine Le Pen und die Verbreitung solcher Bilder ermittelt.
Kommt nicht wieder vor!