Sorrent ist schon im 8. Jahrhundert vor Christus von den Phöniziern gegründet worden und war bereits 200 Jahre vor ihm Sommersitz römischer Aristokraten. Davon sahen wir nicht so viel. Wir sahen vor allem Menschen und Autos, aber keine Parkplätze. Rafałs übliche Chuzpe nutzte auch nichts. Wir stellten uns auf einen Polizeiparkplatz, aber als ich gerade ausstieg, kam ein Wagen, dem man schon äußerlich ansah, dass er Carabinieri enthielt. Sie waren nicht mal unfreundlich, aber sehr bestimmt. Mein Krüppelbeleg stimmte sie auch nicht um, und so mussten wir mit einer Lücke vier Meter weiter weg vorliebnehmen, auch verboten, aber wenigstens für alle.
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Den Weg an die Mole schaffte ich noch gerade und fiel sofort einer Frau in die Hände, die uns ans Wasser schleppte, in ein Lokal, das uns sicher gern ‚Tiefkühlfisch‘ angedreht hätte, aber auch Espresso und Campari im Angebot hatte. Rafał ging auf Smartphone-Safari, Silke und ich saßen Sorrent ab.
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Hier habe ich sogar mal übernachtet, unfreiwillig. 1972. Mit Pali.
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Gutes Benehmen hatten mir schon meine Eltern – wie sie fanden, erfolglos – vorgelebt, aber Luxus, den hat mir erst Pali beigebracht. Trotz seines ausgeprägten Savoir-vivres hätte Pali zu gern SPD gewählt, aber das ging nicht; er war nämlich staatenlos. Sein Vater war Ungar, halbjüdisch, seine Mutter Holländerin, viertel jüdisch, viertel indonesisch, so etwas war ja mal bedeutsam, und Pali wollte partout kein Deutscher sein, obwohl ihm die Staatsbürgerschaft angetragen worden war. Es war ihm wichtig, sich als Nazi-Opfer zu stilisieren, deshalb sprach er immer gern über seine Zeit im KZ Bergen-Belsen, aber auch über seine Kindheit bei seinem Großvater in Ungarn. In Israel lernte ich Palis Tante Edith, die Schwester seines Vaters, kennen. Sie sagte etwas verwundert: „Es ist möglich, dass Pali mal während der Sommerferien in Ungarn war“, und Ediths Tochter Shoshannah war wirklich in Bergen-Belsen gewesen. Pali hieß eigentlich Paul und wuchs in Berlin auf.
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All das wusste ich natürlich nicht, als ich im Herbst 1967 in sein Büro bei der ‚Deutschen Grammophon Gesellschaft‘ kam, um ihm meine ins Tonbandgerät gekrächzten Lieder vorzuspielen. Irenes Freundin Nina hatte noch eine weitere Freundin; der gehörte das Kindermodengeschäft, in dem Pali die Garderobe für seine Tochter Gioia einkaufte; zu der war er gekommen wie die Jungfrau zum Kinde: „Wenn Tobias“, sein damaliger Schwarm, „heute wieder nicht kommt, heirate ich Digne“, habe er sich geschworen. Tobias kam nicht, Pali heiratete Digne, ließ sich aber bald scheiden, und dabei bekam Pali Gioia zugesprochen, weil selbst die Richter der Adenauer-Zeit der Meinung waren, dass das Mädel besser bei einem notorisch-schwulen Vater aufgehoben sei als bei dieser Mutter, zumal Digne und Gioia, wenn sie einander berührten, allergische Ausschläge bekamen und ins Krankenhaus mussten. Das ist nichts Besonderes. Alle Pali-Geschichten sind so.
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Meine eigenen Kinder-Anziehsachen waren ja bei ‚C&A‘ gekauft worden, deshalb begegnete ich Pali von Anfang an mit großer Ehrfurcht. Er leitete 1967 das Literarische Archiv der ‚Deutschen Grammophon‘ und nahm auch Erich Kästner auf. Näher an den deutschen Schlager konnte ich es durch die Beziehungen meiner Eltern nicht bringen. Offensichtlich nicht nah genug, um meine Werke von einer Berühmtheit wie Wencke Myhre trällern zu lassen, aber als zwei Jahre später Irene eine Annonce der ‚Deutschen Grammophon‘ las, bewarb ich mich. Pali war zwar dem Betreuer der kaufmännischen Lehrlinge Herrn Bertz so nah wie Grönland dem Äquator, aber wenn meine Großmutter über ihren Tennisclub Guntram eine Karriere ermöglicht hat, von deren Früchten ich heute esse, dann musste Irene es doch schaffen, mich per Stellenanzeige in die Hitparaden zu katapultieren. So machte ich also eine kaufmännische Lehre, Theorie bei ‚Siemens‘, Praxis bei der ‚Deutschen Grammophon‘, und verbrachte anschließend ein halbes Jahr in Großbritannien: mal mit den Vertretern in Glasgow und Huddersfield, mal in der Fabrik in Ilford. Wohnen tat ich immerhin am feinen Londoner Hampstead Heath, zumindest am Wochenende: ein Zimmer, Kochnische, Badewanne. Es war meine erste Möglichkeit, erwachsen zu werden. Ich nutzte sie nicht. Oder eigentlich doch: nicht mental, aber sexuell.
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Pali hatte ich die ganze Zeit über nie ganz aus den Augen verloren, und als ich im Herbst wie Hänschen klein aus der großen Welt an die Alster zurückkehrte, hatte ich zwei Ziele: Karriere und Pali. Beides klappte recht gut. Im Frühjahr 1972 waren Pali und ich ein Paar, und wir machten unsere Hochzeitsreise erst nach Capri und später, wie es sich gehört, nach Venedig.
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Capri war ein Vorschlag von Irene gewesen, die sich dachte: Pali ist gebildet und unterhaltsam, es hätte – in solchen Kreisen – schlimmer kommen können; und Capri war Irene wegen Direttore Rafaele und der von ihm abgewiesenen Erika in bester Erinnerung.
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Was Pali nicht ahnen konnte: Das Dinchen fuhr die Strecke mit, nur in Gedanken, aber doch ziemlich präsent – der Vierwaldstätter See, Mailand, Genua, Florenz, alles Harald-Stationen und terminologisch bis ins Kleinste festgelegt in pubertären Wortspielen. Nur: Damals war ich hübsch wie meine Mutter und charmant wie mein Vater, so ertrug Pali das recht klaglos, er war noch 41, ich noch 25, und er war der letzte Mann, dem ich sagte, er sei der erste. Von da an fand ich, ausgebufft stand mir besser als jungfräulich. Später behauptete Pali immer, es sei die schlimmste Reise seines Lebens gewesen, wieder typisch Pali: Die Zugfahrt nach Bergen-Belsen hatte ja in Wirklichkeit seine Cousine gemacht. Für Pali gab es eben nur Schlimmstes oder Schönstes, Grottenschlechtes oder Anbetungswürdiges. Ich vermisse ihn. Nach seinem Tod ist nichts Vergleichbares für mich nachgewachsen.
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Das Wetter war nicht immer gut, 1972. Der Mai kann in Italien kalt und verregnet sein, und so einen Tag hatten wir erwischt, als wir in Palis dunkelgrünem Fiat Spider über die Autobahn nach Süditalien teils brausten, aber überwiegend schlichen. Das war natürlich ein ganz anderes Lebensgefühl als bisher im ‚Käfer‛ mit Dinchen, obwohl es noch netter gewesen wäre, wenn das Cabrio-Verdeck richtig geschlossen hätte und die Kühlerhaube nicht die Tendenz gehabt hätte, sich ab Tempo 130 zu heben. Vermutlich hielt sie sich für Teil eines Flugzeugs, jedenfalls, als wir in Sorrent eintrafen, war die letzte Fähre nach Capri weg. Pali erzählte dem Hotel ‚Luna‛, dass wir erst morgen eintreffen würden, wir parkten den störrischen Wagen in einer der vielen Garagen, die auf Capri-Reisende spezialisiert waren, und bekamen problemlos ein Zimmer in einem der kleinen Hotels am Hafen. Die Tischdecke war kariert, das Besteck war Blech, das Leben war im Aufbruch. Jetzt würde es loslegen! Tat es auch.
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Auf Capri gerieten wir gleich in eine Clique mit einer Thyssen-Erbin, dem Bernadotte-Erben und Innenarchitekten Eric Jacobson, genannt ‚die rote Hilde‘, und dem Modeschöpfer Valentino aus Rom.
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Im ‚La Canzone del Mare‘ gab es mittags Crevetten-Cocktail und abends, wenn die Tagestouristen weg waren, auf der Piazzetta Negroni. Vize-Kanzler Walter Scheel mit Gattin Mildred war auch gerade da, gegessen wurde drinnen, draußen war es zu kalt. Ich ließ mich bedenkenlos aushalten. Ich war jung, verdiente wenig und erwartete viel von mir und der Welt. „Deine Eltern haben dich immer zu knapp gehalten“, konstatierte Pali, „darum bist du käuflich geworden.“ Meinetwegen. Das Militär hatte ich damals nicht kennengelernt, aber jetzt Millionäre. Glück gehabt. Keine Latrinen, sondern Luxus. „Man versehe mich mit Luxus, auf alles Notwendige kann ich verzichten“, glaubte Pali Oscar Wilde zu zitieren. Eine weitere Unwahrheit. Der Ausspruch stammt von Frank Lloyd Wright und lautet im Original: ‚Give me the luxuries of life and I will willingly do without the necessities.‘ Ich wollte natürlich beides, das Notwendige noch oben drauf auf den Luxus. Endlich hatte ich begonnen, mich zu mögen. Vielleicht weil ich unerträglich geworden war.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Besonders eingenommen war ich von meinem Hinterkopf: Er strahlte so viel Intelligenz aus. Dass er hintoupiert war, merkt man erst jetzt, da ich Glatze trage. Ja, ich war wohl mehr hedonistisch als weltverbesserisch. Das liegt bei mir in der Familie.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Ach die Deutsche Grammophon! Jetzt ergibt so manche Anspielung (Karajan, Callas…) gleich mehr Sinn. Was für ein interessantes Berufsfeld Herr Rinke. Das heisst dann sicher, Sie haben direkt mit den Größen der klassischen Musik zusammengearbeitet?! Da hätte ich gerne mal Mäuschen gespielt.
Die meisten großen Künstler sind für sich selbst schwiegiger als für ihre Umwelt. Die nicht so großen machen nur ihre Umwelt verrückt.
Die wirklich Großen (egal von welchem Metier wir sprechen) sind doch in der Regel immer sehr angenehm und unkompliziert. Ausnahmen bestätigen natürlich auch hier die Regel…
„Das Problem der Welt ist, dass intelligente Menschen voller Zweifel und Dumme voller Selbstvertrauen sind!“ Charles Bukowski hat anscheinend ganz ähnliche Erfahrungen wie Sie gemacht, Herr Rinke. Ich im Übrigen auch. Gerade im Hinblick auf die politischen Entwicklungen in den USA könnte dieses Zitat wohl aktueller nicht sein.
Was auch zu denken gibt, ist, dass sich mit Ausnahme von Ursula von der Leyen Bildungsferne sehr viel flotter vermehren als Professoren für Neuere Geschichte. Für Mali bedeutet das nichts Gutes, für uns viel Arbeit.
„Some people think luxury is the opposite of poverty. It is not. It is the opposite of vulgarity.“ sagte die wunderbare Coco Chanel. Kein ganz abwegiger Gedanke, wie ich finde. Was immer man als Luxus bezeichnen mag und die manchmal nervigen Notwendigkeiten das Lebens müssen sich gar nicht gegenseitig ausschliessen oder gegenüberstehen.
In der Badewanne gehen sie ineinander über.
Hahahaha! Dem kann man weder etwas entgegensetzen noch etwas hinzufügen 😂
Es gibt nur wenig Luxus im Leben, dem ich etwas abgewinnen kann. So zum Beispiel die gute Flasche französischen Rotwein oder einen alten schottischen Whisky am Abend. Darauf würde ich nur sehr schwer verzichten können. Ansonsten ist mir das Bodenständige im Leben aber näher. Luxus kann schnell anstrengend werden.
Verfügbare Zeit ist heute ein Luxus. Aufmerksamkeit auch. Und den Rotwein trinke ich im Winter lieber im Ohrensessel als auf dem Campingstuhl. Luxus kann anstrengend zwar sein, aber Mangel ist noch anstrendender.