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In der Blase  —   Süd nach Südost

#20 – Die Symbolfigur unserer Zeit

Gestern haben wir in dichtestem Menschengedränge bei ‚Billa‘ (lautmalerisch und in etwa mit ‚Lidl‘ vergleichbar) weitere Mengen an Bodylotion und Insektenspray gekauft, weil Irene es nicht leiden kann, während des stimmungsvollen Abendessens im Freien vom Knöchel an aufwärts von Mücken zerkaut zu werden. Bei ‚Billa‘ herrschen konstante 20 Grad, und ich habe meiner Mutter heute auf dem de-chiricohaft sengenden Weg gen Strand versprochen, dass, wenn bis übermorgen keine Wetterverschlechterung zu erwarten ist, ich gleich nach dem Frühstück mit ihr bis Ladenschluss um 20 Uhr zu ‚Billa‘ gehen werde. Anschließend müssen wir unsere Halbpension runterschlucken.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Das Essen ist eigentlich gut hier, nur dass man ja aus zwei schwerwiegenden Gründen nicht mehr essen kann. Erstens: Die aussterbenden Schildkröten, die scheuen, den Jungwald wegfressenden Rehe und die armen (auch religiös verdächtigen) Schweine zu verschlingen, wäre unmenschlich. Zweitens: Die verseuchten Salz- und Süßwassertiere, den güllegedüngten Salat und die genmanipulierten Tomaten seinem Körper anzutun, würde das qualvolle Ende einer – zugegebenermaßen nicht für die Ewigkeit bestimmten – Existenz herausfordern. Abgesehen vom Essen, das mich, seit ich gern koche, immer beschäftigt hat, ist mir die Auferstehung schon früher, als ich nur unter Zwang aß und oft genug Erstickungsanfälle an Nicht-Heruntergewürgtem simulierte, ein Anliegen gewesen. Fresssucht oder Magersucht – beides schlecht. Schade, dass das goldene Mittelmaß oft so blechern mittelmäßig ist, und weil Differenzierung vielen Menschen zu anstrengend ist, deshalb bevorzugen sie die einfache Unterteilung in Schwarz und Weiß.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Der Katholizismus hatte mich allzu zeitig die Auferstehung des Fleisches gelehrt (das von Jesus kriegte ich ja Sonntag Vormittag in der Kirche immer zu essen und es klebte mir – halb eklig, halb erotisierend – das ganze vor mich hingebrabbelte Paternoster lang am Gaumen), aber wie das Fleisch nun aufersteht, hat doch, auch als ich im ideologischen Sinne gar nicht mehr daran glaubte, dennoch bis heute nicht aufgehört, mich zu fesseln.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Kommt mein Großvater da an seinem Krückstock, Roland mit Kaposiflecken und Pali nach Luft hechelnd aus der Asche? Auf all meine Fragen sagte meine Großmutter immer: „Glauben ist eine Gnade.“ – Vielleicht ist es eine Gnade, nicht glauben zu müssen. Auf der anderen Seite: Was kommt dann? Wenn ich so lese, was in Afghanistan, Bagdad, Washington, Berlin, Palästina und den Mittelmeergewässern (pfui Deibel!) so alles geschieht, dann halte ich es für erwägenswert, die Menschheit spätestens aus Anlass meines Ablebens auszurotten. Aber soll ich als Alternative die Grünen wählen, wenn dann dabei auch nicht mehr rauskommt als ein Pfand auf Dosen, aus denen ich nie trinke?

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Also, wenn man gleich nach seinem Tod wieder als Säugling auf die Welt muss, dann wäre das ein klares Argument für mich, vom Selbstmord abzusehen: kaum tot und schon wieder da und fraglich, ob es noch einen Kindergartenplatz und eine Altersversorgung geben wird. Zumal ja die Lebensarbeitszeit heraufgesetzt werden soll, was das Stöhnen über fehlende Ausbildungsplätze irgendwie pikant macht.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

In meiner Kindheit wurde viel über ‚menschenunwürdige Arbeit’ geredet. Sicher zu Recht. Nun sind die ganzen öden Jobs der schlesischen Weber und englischen Kohlearbeiter von der Technik überflüssig gemacht worden, das heißt dann: Arbeitsplatzvernichtung. Ich war noch in den Werken bei VW und bei Siemens, ich finde es gut, dass die Menschen nicht mehr tun müssen, was ich da in all dem Lärm besichtigt habe. Natürlich hätte ich lieber den Fahrkartenverkäufer zurück, als dauernd diese Automaten mit ihren eigentümlichen Zonen nicht zu begreifen, die dann auch noch pikiert sind, wenn ich ihnen Geld gebe, dass ihnen – wer weiß, weshalb – nicht in den Kram passt. Europa kann dank all der (auch bedenklichen) Fortschritte in der Landwirtschaft und der durch Produktion und Dienstleistung geschaffenen (materiellen!) Werte seine Völker ernähren, ohne dass es für jeden Arbeit braucht und hat. Daran wird sich nie etwas ändern. Es sei denn … ach, ich habe eigene Sorgen: vorwiegend körperliche.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Aber ich habe auch andere als körperliche Sorgen, ich weiß nicht, ob man sie ‚geistige’ nennen soll: Wieso schreibe ich nicht endlich dieses Buch, das kein Mensch will und das mich in 4321 Jahren durch die Examensarbeit eines auf Hieroglyphen des frühen 2. Jahrtausends (Zeitrechnung nach einer vergessenen Religion) per Kosmointernet berühmt machen wird? Warum eröffne ich keine vegane Schweinegastrothek am Prenzlauer Berg? Warum laufe ich nicht aus Protest gegen die Diskriminierung heterosexueller Priester im Vatikan nackt über den Ohlsdorfer Friedhof oder versuche, aus den Anfangsbuchstaben der Schriften ausgewählter Mystiker des 16. Jahrhunderts nach unserem Herrn ein delphisches Orakel zu entschlüsseln? Oder höre einfach so lange Bach, bis ich mich wie Schuberts Müllersbursche in ihm ersäufe? Ganz klar: Weil ich zu ernsthaft bin und die Geschichte des verschwindenden Wissens lese – ‚Phänomenologie der Entgeisterung‘. Deshalb höre ich jetzt auch vorübergehend auf, zu schreiben und denke einfach mal nach – vor allem über die Symbolfigur unserer Zeit: genusssüchtig, erfahrungssüchtig, moralsüchtig zugleich. Entweder ich bin sie selber oder ich muss sie endlich erfinden; aufschreiben muss ich sie jedenfalls, und zwar bald, solange ich noch TV-tauglich bin. Wo, ist ganz egal – Meran, Hamburg, Berlin, Fidschi-Inseln, typisch ist es überall, selbst in Venedig:

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

An einem der 36 Grad lauen Sommerabende winkte ich, nachdem Guntrams und Palis tragisches Hinscheiden wie üblich ergiebig das Abendessen gewürzt hatten (Roland spielt bei solchen Gesprächen trotz seines ‚Mabapa‘-Aufenthaltes zu meinem vierzigsten Geburtstag keine die Stimmung beeinflussende Rolle), den Oberkellner herbei und erkundigte mich, warum ein halbes Rind auf meinem Teller lag, obwohl ich, wie schon bei der Vorspeise, um eine halbe Portion gebeten hatte: Von den etwa dreihundertsiebenundvierzig Nudeln ließ ich, ohne aufzumucken, dreihundertzwölf zurückgehen, aber bei der Kuh reagierte ich doch gereizt. Ich verwickelte den Kellner in ein Gespräch, das, wenn ich mir so zuhörte, weniger mit der Vergeudung von Ressourcen als mit meinem anerzogenen schlechten Gewissen zu tun hatte, Teller unartig voll abräumen zu lassen. Ich sehe dann natürlich auch immer die Müllhalden um die Ecke und die hungrigen Kinder weiter weg vor mir. Der Kellner bat mich, wie ich fand, ziemlich eindringlich, in die Küche zu kommen und mit dem Koch zu sprechen, denn er, der Kellner, sei ganz meiner Meinung. Dann allerdings schickte er eine Ermunterung hinterher, die mich aus der Fassung brachte: „Il è tedesco.“

Foto: Alexas_Fotos/Pixabay

Also erstens: Mein gerade am Hunger in der Welt philosophisch erprobtes Italienisch war offenbar nicht gut genug, um mich Respektspersonen gegenüber verständlich zu machen. Ich musste auch noch mit meiner Vatersprache geködert werden! Und zweitens: Diese ganzen Linguantini alla probicini in zeguaglia da cipre wurden von einem deutschen Eisbeinkoch zusammengesotten! Der würde vielleicht unsicher sein, ob es diese soeben von mir erfundenen Fantasie-Wörter womöglich wirklich gibt. Und da sollte ich als Mutter Teresa oder Margaret Thatcher in die Küche reinstürmen und fordern: „I want less for my money!“

Foto: Privatarchiv H. R.

Irene sagte erwartungsgemäß: „Lass es doch einfach liegen!“ Sie regt sich gern auf und sie vermeidet gern Streit. Deshalb hatte sie mein Gespräch mit dem Kellner von Anfang an nicht gebilligt. Sie findet es unangebracht, wenn ich den Betrieb störe, und ich wiederum hasse es, den Betrieb nicht zu stören.

Foto: Privatarchiv H. R.

Der Kellner, der wirklich sehr gern wollte, dass ich mit dem Koch spreche, zumal er mir versicherte, er selbst äße nie mehr als nur einen Gang, und Irene, die schon gegen Mittag einen Ausbruch gehabt hatte, weil ich zwanzig Meter weiter als sie ins Wasser hineingegangen war – das konnte nicht gut gehen. Ich hatte ihr demütig und wahrheitsgemäß versichert, dass ich im Meer immer noch Boden unter den Füßen gehabt hatte, und ich sagte nicht: „Du hast ja nur Angst um dein weiteres Schicksal, falls ich ertrinke!“, aber ich erwähnte doch, dass ich im Alter von siebenundfünfzig Jahren fände, ein überschaubares Stück aufs Meer hinausschwimmen können dürfen müsse, ohne statt Quallen brennende Vorwürfe ins Gesicht geklatscht zu kriegen. Sie drehte sich brüsk weg und verließ das warme, blaue Mittelmeer. Aber dann wusste sie nicht, wohin. Und ich, blind ohne Brille, musste sie mühsam an unseren Sonnenschirm tasten. Da tat sie mir dann wieder so leid.

Foto: Song_about_summer/Shutterstock

Rausschwimmen, ganz weit raus, den Horizont vor Augen und im Rücken eine immer vager werdende Küste: Das ist Freiheit! Oder wie Menasse es ausdrückt: ‚Das eskapistische Individuum ist als ein denkendes Subjekt zwar frei, diese Freiheit ist allerdings gleichgültig gegen das wirkliche Dasein. Das ist aber nicht möglich.‘1

1 Quelle: Robert Menasse: ‚Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens‘, Suhrkamp

Foto links: 139904/Pixabay (nachträglich bearbeitet) | Foto rechts: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Melica (Spaghetti auf Gabel), photomaster (Kuh), Dmitry Kalinovsky (Kellner)

34 Kommentare zu “#20 – Die Symbolfigur unserer Zeit

  1. Ich mochte den Leib Christi auch nie wirklich essen. Als ich ihn deshalb während meiner Schulzeit einmal in die Hosentasche anstatt in den Mund gesteckt habe wäre ich fast vom Religionsunterricht suspendiert worden.

  2. Die vegane Schweinegastrothek im Prenzlauer Berg gibt es schon. Da müssen Sie schon mit einer neueren Idee kommen 😉

    1. Ist es nicht sowieso absurd, dass es mittlerweile fleischloses Fleisch gibt? Beyond Meat heisst das wenn ich mich nicht irre. Man fragt sich nur welcher Vegetarier etwas essen möchte, dass nach Fleisch schmeckt.

      1. Ich glaube es geht eher darum Alternativen für Fleischesser zu schaffen. Um der Massentierhaltung etwas entgegenzusetzen.

      2. Es gibt wohl Esser, die zwar den Geschmack mögen, aber Tiere zu verzehren für unmoralisch oder ungesund halten. (Dabei schmeckt Fleisch ja ungesalzen wie in den Finger geschnitten.) Diese Vegetarier nutzen ein Fleisch aus Gemüse wie Bedürftige eine Geliebte aus Gummi.

      1. Schon zu DDR-Zeiten hat im ‚Waffenschmied‘ in Suhl ein Deutscher japanisch gekocht (bzw. roh gelassen). Sushi statt Broiler. Einmalig! Bodo Ramelow versucht ja erneut, Thüringen in eine Vorreiterrolle zu drängen. Auf Unterstützung von AfD und FDP kann er zählen.

  3. Gibt es so etwas wie Arbeitsplatzvernichtung überhaupt? Findet nicht meistens nur eine Verlagerung von Arbeitsplätzen statt? Es werden doch auch ständig neue geschaffen…

    1. Nun ja, wer 30 Jahre im Kohlebergbau gearbeitet hat wird aber nun eben auch kein App-Programmierer werden. So einfach funktioniert diese Theorie dann doch nicht.

  4. Ob bei den Grünen wirklich nur Dosenpfand herauskäme weiss man ja erst wenn sie einmal als stärkste Partei regieren würden.

    1. Mein Kommentar stammt ja aus einem Brief von 2003. Damals war Jürgen Trittin Grüner Umweltminister. Den ‚Dosenpfand‘ gab es seit dem 1. Januar desselben Jahres.

      1. Und trotzdem haben sie noch nie so richtig eine Chance bekommen. Ich fände auch, dass es in Zeiten des Klimawandels doch mal an der Zeit wäre.

      2. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber während dieser globalen Krise bin ich doch recht froh, dass Frau Merkel mit ihrer ruhigen, sachlichen Art Kanzlerin ist.

      3. Dabei demonstrieren die, die sonst eh nicht vor die Tür gehen, nun weil man ein paar Wochen nicht raus darf.

  5. Wenn man gleich nach dem Tod wieder als Säugling auf die Welt muss … puuuuuh, eine kleine Pause im Paradies sollte doch mindestens drin sein.

    1. Es wird einem doch Glückseligkeit bis in alle Ewigkeit versprochen. Das wären dann nur leere Versprechungen?

      1. Nur die Christen hoffen auf Glückseligkeit und fürchten sich vor der Hölle. Für Moslems haben Ungläubige „dereinst eine gewaltige Strafe zu erwarten“. Im Hinduismus wird man immer wieder geboren, am liebsten natürlich als heilige Tempelratte. Ganz zum Schluss geht man ein: ins Nirvana. Mehr Paradies ist nicht drin.

    1. Ohne Frage Trump. Niemand anders prägt doch so sehr das politische Geschehen, verschiebt Normen, etc. Ich bin wahnsinnig gespannt wie sein Krieg gegen Twitter ausgehen wird. Es könnte alles ziemlich böse enden.

      1. Nachdem Trump gewählt war, dachte ich: Den werden wir nie los. Aber was die Demokraten nicht schaffen, könnte Twitter gelingen. Zwitschern statt Brüllen. Vielleicht.

      2. Wer hätte gedacht, dass Twitter tatsächlich mal gegen seinen größten „Kunden“oder Brand-Ambassador wie man heute sagt vorgehen würde.

  6. Tja schwerwiegende Gründe für und gegen jede Art der Ernährung gibt es reichlich. Den einen sorgt das Tierwohl, den nächsten die Begleiterscheinungen des Sojaanbaus, den dritten quält die eigene Verdauung oder der Mangel an Nährstoffen.

    1. Billo? Das Wort gibt es im Italienischen nicht. Und ‚billig‘ auch nicht. Allenfalls ‚conveniente‘. Dass Geiz geil ist und ‚Penny‘ ein ansprechender Name für einen Laden, entspricht nicht italienischer Mentalität.

      1. Billa ist ja sogar eine Rewe-Tochter, vielleicht wollte man also doch mit dem Namen ein Schnäppchen suggerieren. Aber soweit ich ich erinnere hat man sich mittlerweile aus dem Geschäft in Italien zurückgezogen. Vielleicht passte es wirklich nicht so richtig zur italienischen Mentalität.

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