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In der Blase  —   Süd nach Südwest

#38 – Überfahrt

Fortsetzung 1975:

Wir waren schon oft in Italien gewesen. Aber Anwesenheit ist nur eine Unterschrift in Seminarlisten, ein Aufstehen bei Namensnennung, ein ‚Hier‘-Schreien, das für nichts bürgt, schon gar nicht für Erkenntnis. Manche Urlauber finden einen Ort, der ihnen gefällt, und dorthin gehen sie jedes Jahr immer wieder. Sie kennen nicht das hässliche, das trostlose, das abschreckende Italien, die endlose Reihe einförmiger Ferienhäuser an platten Stränden, die abgetakelte Blechlandschaft staubiger Vorstädte, die bräunliche Kahlheit abgeernteter Felder. – Wozu sollten sie es kennen? Wozu etwas kennenlernen, wovon man sicher sein kann, dass es einem nicht gefällt? Wozu? Ich weiß es auch nicht.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Vielleicht, weil es gut ist, etwas, das man liebt, ganz zu kennen und nicht nur ausschnittweise. Sie lieben ihren Urlaub, aber ich liebe Italien. Dazu gehört das Heruntergekommene wie das Steril-Neue. Dazu gehört all das, was ich mir auf Irrfahrten – streifend, streunend, neugierig, hungrig – erworben habe: mein Besitz. Meine Buchten, Strände, Städte, Menschen. – Aber das ist Geschmacksache und bei uns spielt sicher auch Eitelkeit eine gewisse Rolle. Die Eitelkeit eines Angestellten, der sich für ein Zwölftel des Jahres als Abenteurer herausputzt, um dann doch auf irgendeiner hübschen Klippe als Pensionsgast zu stranden.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Am Tisch rechts neben uns saß ein markiger Engländer mit Frau und Tochter. Er hatte einen etwas tatenlosen Blick, kein Wunder, er war mindestens eine Generation zu jung, um noch in den Kronkolonien seinen Mann stehen zu können. Vor uns ein englisches Ehepaar, mittleres Alter, sie – fett und mütterlich; er – pfiffig und wehrlos. Abends saßen sie auf dem Balkon mit einem Fernglas. Wenn andere Gäste in den Garten schlenderten, löschten sie das Licht und hofften, etwas zu sehen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Links von uns auch Engländer, zwei Schwule, nichts Aufregendes. Sie gingen immer in Beige und Grau. Der Jüngere stieg mir gleich nach, als ich gestern Abend noch mal ans Meer wollte. Aber das Ehepaar löschte sein Licht umsonst. Wir zogen uns hinter die Sträucher zurück. Ich hatte nicht viel Lust, jedenfalls nicht auf ihn, aber ich hatte noch weniger Lust, das Glimmen in seinen Augen stumpf werden zu sehen, wenn ich ihm irgendetwas Freundlich-Abweisendes gesagt hätte.

Nicht gewollt zu werden, ist schlimmer, als nicht zu wollen. Und die Katzen, die spürten, was vorging, und im Kraut mit uns wetteiferten, machten die Sache dann doch ganz aufregend.

Foto oben: xnupyx/Pixabay | Foto unten: gemeinfrei/Pixnio

An den übrigen Tischen saßen Italiener. Einer war besonders schön, auf eine ganz ungeleckte, verschmitzte Art. Die Frau, die mit ihm reiste, war mindestens zehn Jahre älter und völlig reizlos. Sie musste sehr nett oder sehr reich sein. Als sie aufstanden, lächelten beide. Sie argloser als er. Denn er spürte zwar, dass er mich beeindruckte, aber er spürte auch, dass ich mich ihm nie unterwerfen würde. Das hielt uns auf Distanz.

Foto: Privatarchiv H. R.

Der ‚Chef-Kellner’ räumte unsere Teller ab und fragte, was wir noch haben wollten. Er war höchstens drei Jahre älter als die anderen, aber er staunte nicht mehr das Leben an wie seine Kollegen, sondern er forderte es schon heraus.

Das Leben war in diesem Fall ich.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Der Junge mit der getönten Brille brachte uns Käse. Hinterher saßen wir auf der Terrasse und sahen über den Garten hinweg aufs Meer und auf den Vollmond. Mehr Werbespot als Abenteuer. Aber doch schön, so dass man sich auffordert: ‚Genieß das jetzt!‘, wenn das Platin des Mondlichts hinunter in die Bucht getragen wird, Welle für Welle.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mein Freund fröstelte. Er hatte zu lange in der Sonne gelegen und wollte früh ins Bett gehen. Ein paar Gäste saßen noch an kleinen Tischen und ließen sich vom Barkeeper schauerlich bunte Drinks aufschwatzen, klebrig-süßliches Zeug, in dem als Krönung des Ungeschmacks eine große grüne Olive schwamm, die zwischen all den Likören nichts zu suchen hatte. Wir tauften das Gesöff ‚Blue Cunt‘.

Foto: Anthony Leong/Pexels

Eigentlich war ich auch müde, aber ich fand es unmöglich, schon ins Bett zu gehen. Die Nacht war zu lau und der Mond schien zu hell, und es wäre Verschwendung gewesen, davor die Augen zuzuklappen und womöglich von lauen Vollmondnächten zu träumen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich trat in den Garten, wo irgendein Schatten schon rumhuschte. Bei dem englischen Ehepaar ging das Licht aus. Umsonst, wie immer. Ich stieg die Treppe hinab zum Strand. Meine Schritte versanken weich. Ich watete durch den nachgiebigen Sand zum Meer hin, wo der feuchte Boden fester war. Bald hatte ich das Hotel hinter mir gelassen. Doch die Helligkeit des Mondes wurde mir mit jeder Welle vor die Füße gespült, ein Schimmern aus weiter Ferne, und über mir signalisierten die Sterne Unendlichkeit, eher bedrückend als beeindruckend. Nur die warme Zärtlichkeit der Nacht milderte die Ewigkeit des Himmels, des Meeres, die Regelmäßigkeit der Wellen, die Stille des Strandes. Eine Unwirklichkeit, in der ich mir etwas Fassbares gewünscht hätte: einen Schrei, einen Stoß, eine Umarmung.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mir fiel die Schlagzeile irgendeiner Zeitung ein, die ich vor ein paar Wochen gelesen hatte: ‚Die deutschen Mädchen sind besser als ihr Ruf!‘ Sie fahren gar nicht nach Italien oder Spanien, um sich von den einheimischen Bademeistern durchwalken zu lassen, und sie würden sich das auch nie eingestehen, damit ihr Ruf bald wieder genauso gut ist wie sie selbst. Und im Zeichen des internationalen Tourismus sind sicher auch bald nicht-deutsche Mädchen besser als ihr Ruf. Es gibt nicht Krieg, Hunger und Mord, sondern nur noch Rufmord, der angeprangert werden muss.

Treibende Gedanken. Vor mir, über mir dehnte sich die Weite, die Stille, die Einsamkeit. Aber hinter der Klippe ein Licht, eine spärliche Helligkeit drang aus der nächsten Bucht, und als ich um die Ecke bog, spülte die Luft mir Rhythmen zu, die in den Himmel taumelten.

Foto: Privatarchiv H. R.

Die Musikfetzen verdichteten sich. Ich sah zwischen Sträuchern schattenhaft die Umrisse eines Hauses, ich hörte Stimmen, und ich ging hinauf: vom Meer durch Sand und dorniges Gestrüpp zur Bar.

Foto: Trudie Roden/Pexels

Der Unterschied war nicht ganz der von Welt und Unterwelt. Denn auch in der neu entdeckten Welt standen nur wenige Schatten beieinander, vor einem Tresen mit einer Flaschenbatterie. Ein gefülltes Schwimmbecken, das hier deplaciert wirkte, in Schlagerlärm gebettete Armseligkeit.

Ich sah es von Weitem und bog gleich schräg ab, auf den Weg, der mich auf die Straße und zurück zum Hotel führen würde.

Foto: Privatarchiv H. R.

In diesem Augenblick setzte sich ein Auto in Bewegung, der Fahrer wendete, hielt und streckte den Kopf aus dem Fenster. Er rief mich beim Vornamen, oder jedenfalls kam es mir so vor. Ich trat näher und erkannte den ‚Chef-Kellner‘, der mich aufforderte, zu ihm in den Wagen zu steigen. Ich verstand sein Italienisch nicht gut genug, um zu begreifen, wohin er fahren wollte. Ich stieg ein. Hinten saßen zwei Freunde von ihm, die übers Wochenende aus der nahen Stadt gekommen waren. Sie sahen schön und wild aus: glutäugig und unrasiert. Aber das täuscht. Sie sind temperamentvoll, freundschaftlich und ein bisschen einfältig. Ich behielt nur den Namen des Fahrers: Salvatore.

Foto: Privatarchiv H. R.

Salvatore rief ungeduldig: „Marcello!“, und jemand löste sich aus einer Gruppe, die an der Bar zusammenhockte, und kam angelaufen. Es war der Kellner mit der getönten Brille. Er grinste und zwängte sich neben mich, und ich spürte die Schmächtigkeit seines Körpers, der sich gegen meinen presste, den Umständen entsprechend, ohne Schutz zu suchen, ohne sich schutzbedürftig zu fühlen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich habe mit alten Männern geschlafen und junge Frauen erregt, um mir meine Lust zu beweisen, aber irgendwas in mir muss knabenschänderisch sein, sonst würde es mich nicht so zu schmalen Brustkörben und dünnen Armen ziehen. Ich umfange gern Haut und Knochen, so wie ich Haut und Knochen war, und die Traurigkeit einer glücklichen Kindheit, und die Traurigkeit über den Verlust der Kindheit und über den Verlust der Traurigkeit gaukeln mir eine Zärtlichkeit vor, ein Strömen, das vielleicht nur Narzissmus ist.

Foto: Privatarchiv H. R.

Sie redeten schnell auf mich ein, schnellten melodiös klingende Fragen auf mich los, und ich antwortete, so gut ich konnte, und wenn ich gar nichts mehr verstand, echote ich ihnen ihr eigenes Lachen zurück. Ich kam mir weniger jung vor als sonst.

Foto: Privatarchiv H. R.

Auf der Überfahrt hatte mich ein sizilianischer Jude angesprochen, ein schöner, alter Mann. Und weil er einsam schien und ich noch kein Bedürfnis nach meiner stickigen Viererkabine hatte, nahm ich seine Einladung zu einem Whisky an.

Foto (Symbolfoto): goodluz/Shutterstock

Die Bar war schon geschlossen. Wir gingen in seine Kabine, wo er eine volle Flasche hatte. Er erzählte von seinem Haus auf La Maddalena, von seinen Freunden, seinem Leben. Alles klang rund und befriedigend, und es war klar, dass er unglücklich war. Trotzdem wäre ich weggegangen, hätte mich glatt und selbstverständlich aus der Tür gespielt, aber dann fingen plötzlich meine paar Liter jüdisches Blut an, schneller zu fließen, und ich tat das Einzige für ihn, was ich für ihn tun konnte. Vielleicht tut es in dreißig Jahren jemand für mich. Aber das will ich weder wünschen noch fordern.

Foto: Lovely2912/Pxhere

Trotzdem war es sehr schön, und er war sehr glücklich. „Did I take you completely?“, fragte er.
––Und ich sagte: „Almost“, denn es hätte doch ein schlechtes Licht auf meine eigenen Ausmaße geworfen, wenn ich ihm zugestanden hätte, dass mein voller Schaft in ihm Platz gefunden hatte. Die deutschen Schwänze sind besser als ihr Ruf. Und die jüdischen sind eh verrufen.
––Aber er war auch so zufrieden, und stöhnte in seinem italienischen Englisch: „Oh, almost, I took it almost. And it was so big, so big.“

Foto oben: Free-Photos/Pixabay | Foto unten: tischy/Pixabay

Ich sagte, wahrscheinlich würde ich ihn nicht besuchen auf seiner Insel: mein Freund und die kurze Zeit und die Umstände. Er betonte noch einmal seine vielen interessanten Freunde und wie gut er koche und wie viel Platz er habe. Ich glaubte ihm, aber ich sah ihn nicht wieder.

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Aleksey Bobyliov (Whiskyglas), Pavel L Photo and Video (Paar mit Fernglas)

37 Kommentare zu “#38 – Überfahrt

  1. Manchmal sind solche leidenschaftlichen Begegnungen noch viel wertvoller, wenn man sich nicht wieder sieht. Jedenfalls macht das etwas mit unserer Erinnerung.

    1. Ich habe auch ein paar solcher intensiver Erinnerungen an kurze Begegnungen. Ich frage mich aber manchmal ob man das nicht auch einfach überhöht bzw. wie die Erinnerung aussehen würde, wenn es nicht bei der einen Begegnung geblieben wäre.

  2. Tja da gibt es zwei Philosophien. Soll man etwas, dass man liebt, voll und ganz kennen, oder es ist doch gut sich etwas Unerschlossenes / Geheimnisvolles zu bewahren?

    1. In der Regel will man erst alles wissen, und wenn man alles weiss wird es langweilig und man muss mit jemand anderem das göeiche Spiel von vorne beginnen.

      1. Ich finde das kommt auf die Art der Beziehung an. Bei oberflächlicheren oder nicht ganz so wichtigen stimmt das sicher. Aber wenn wir von richtiger Liebe reden, da kann man auch alles übereinander wissen und immer noch fasziniert voneinander sein.

  3. Ich muss sagen, ich habe schon Dinge bzw. Menschen näher kennengelernt, da dachte ich erst es lohnt sich gar nicht, aber dann kam doch die positive Überraschung.

      1. Hahaha, es soll tatsächlich Menschen trinken, die einfach so, aus Genuss, Whisky trinken 😉

  4. Urlauber, die immer und immer wieder den selben Ort besuchen habe ich nie so richtig verstehen können. Aber zum Glück macht ja jeder so ungefähr das, was ihn glücklich macht.

      1. Ach ja, solche Kandidaten kenne ich sogar auch. Da kann man aber auch keinen guten Rat geben.

  5. Diese Szene im Restaurant: verschmitztes Lächeln aus der Ferne, gegenseitiges Beeindrucken … solche Momente sind mir manchmal wertvoller als der eigentliche physische Kontakt.

    1. Im besten Falle hat man ja beides. Je nach Belieben in Kombination oder eben auch in separaten Begegnungen bzw. Personen.

      1. In Corona-Zeiten wird von Überlegenskünstlern das verschmitzte Lächeln in der Hotelhalle dem Arm-in-Arm-Feiern im „Bierkönig“ vorgezogen.

      2. Wahrschienlich war das nicht beabsichtigt, aber das Wort „Überlegenskünstler“ ist ziemlich toll 😆

  6. Diese Momente wo man einfach laut mitlacht ohne viel zu verstehen .. das erinnert mich an meine Zeit in England als junger Student. Lange ist’s her.

    1. Ich will immer Mitlachen. Also Mitlachen weil ich den Scherz oder die Situation verstehe. Zeit wieder mehr Sprachen zu lernen 🤓

      1. Mitlachen funktioniert bei mir dort besonders gut, wo ich die Sache selber komisch findet. Findet ich sie bloß geschmacklos, vulgär oder überdreht, dann lache ich höchstens mit, um nicht zusammengeschlagen zu werden.

      2. Nee nee, eine Runde in der man die Sprache nicht spricht ist zwar anstrengend, aber kann für eine Weile sehr unterhaltsam sein. Aber Runden, in denen man sich zwingen muss mitzulachen, da sollte man lieber schnell verschwinden.

  7. „Beim englischen Ehepaar geht das Licht aus. Umsonst.“ Hahahaha.
    Ich muss ja sagen, dass Sex im dunkeln eh nicht so wirklich meines ist. Das hat immer sowas verklemmtes.

    1. Ach tatsächlich. Den Teil habe ich überlesen. Das ist natürlich nochmal frustrierender, wenn die voyeuristische Lust nicht befriedigt wird.

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