Eine letzte Nacht, die Silke und Rafał mit Meerblick und Krach hatten verbringen dürfen, ich mit Parkplatzblick und Stille, dann packte das Personal unser Gepäck ins Auto, und wir fuhren weg. Fazit: Im ‚Grand Hotel‘ nach hinten raus schlafen, im ‚Club Nautico‘ bei Sonnenuntergang tafeln – so ist Rimini immer wieder eine Reise wert. Alles andere kann man nicht, man muss es vergessen. Nulla! Wem das zu teuer ist, also so gut wie jedem, dem möchte ich abraten. Und wer genug Geld hat, der/die muss sich hier wie bei allen Entscheidungen fragen, wem er/sie etwas Gutes tun will – der Menschheit oder sich selbst.
Foto: Kartashov Stas/Shutterstock
Von Rimini nach Ravenna braucht man eine knappe Stunde – der Weg von runtergekommener Zivilisation (heute) in aufstrebende Kultur (damals). Dazwischen liegen fünfzig Minuten, fünfundfünfzig Kilometer und fünfzehn Jahrhunderte.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
An unseren Ravenna-Ausflug 1954 erinnere ich mich gut. Aber wahrscheinlich erinnere ich mich nur daran, dass ich mich an ihn erinnerte – die Wiederholung verdrängt die Wirklichkeit. Außerdem gibt es dieses Foto: damals eine Rarität. Meine Mutter wird wohl erst den Auslöser gedrückt und dann drei Wochen später den Film zum Entwickeln gebracht haben. Wer meine Großeltern und meinen Vater gut kennt, kann die Drei erkennen, und die übrige Person, das muss dann wohl ich sein.
Fotos (5): Privatarchiv H. R.
San Vitale aus dem 6. Jahrhundert, das Mausoleum der Galla Placidia aus dem 5. Jahrhundert, Sant’Apollinare Nuovo (schon wieder aus dem 6. Jahrhundert) – die ganzen Bauwerke und die Mosaike, sie sind mir alle geläufig: von Abbildungen. Bloß an das Mausoleum des Theoderich kann ich mich wirklich erinnern. Dass es aus einem einzigen Monolithen herausgemeißelt wurde, wusste ich nicht, meine Eltern, glaub’ ich, auch nicht. Der Monolith stammte übrigens aus Istrien. An das Mausoleum erinnere ich mich nicht deshalb, weil der Sarkophag so prächtig aussah, sondern weil er mir so unbedeutend vorgekommen war: ‚Badewanne mit Deckel‘, fand ich. Da hatte ich mir mehr versprochen. Viereinhalb Jahre später würde ich zum ersten Mal eine Leiche sehen. Mein Großvater starb zwischen Weihnachten und Neujahr bei uns in Hamburg. Meine Großmutter zwang mich, mir den toten Opa anzugucken. Ich fand das etwas beklemmend. Seither habe ich während meines nicht mehr kurzen Lebens nur zwei weitere Leichen betrachtet: Roland und meinen Vater. Und natürlich im Fernsehen. Fast jeden Abend. Das muss reichen.
Foto oben: Dr. Wilfred Krause/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 DE
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Untrügliche Beispiele für masochistisch ansteigenden Willen zur Selbstdemontage:
Fotos (6): Privatarchiv H. R.
Als Silke, Rafał und ich mit allen Kulturerben der UNESCO durch waren, musste ich feststellen, dass mein Zeitplan um eine volle Stunde verrutscht war: von eins auf zwei. Rafał ließ Silke und mich vor dem Lokal aussteigen und begab sich auf Parkplatzsuche. Unser Tisch war zwar inzwischen vergeben, aber die Gäste dort unterbrachen ihr Essen, standen auf und gingen an den letzten freien Tisch im Innenhof. Die Speisen wurden ihnen hinterhergetragen. Wo gibt es so etwas noch? Ich war gerührt, Rafał war rasch fündig geworden, das Ambiente der Räume war anheimelnd, und alle Gerichte waren vorzüglich. Mit dem 6. Jahrhundert ist jetzt mal gut, aber wegen der ‚Antica Trattoria al Gallo 1909‘ würde ich gern wiederkommen nach Ravenna. Alles Weitere über die einstige Hafenstadt Ravenna, die inzwischen neun Kilometer landeinwärts liegt, ist dem Internet zu entnehmen. Und als Ausblick: Wenn die Polkappen weiter schmelzen, können unsere Urenkel Ravenna vielleicht wieder am Meer besuchen.
Fotos oben (6): Privatarchiv H. R. | Foto unten: stockcreations/Shutterstock
Foto: Aj. Pedrosa/Shutterstock
Die Fahrt durch das Po-Delta ist ziemlich eintönig: rechts Wasser, links Boden. Gräser, Felder. Flamingos: sehr rosa, sehr, sehr hochbeinig, und das ganz ohne Waden. Genügend Muße, sich auf Venedig hinzufreuen, bis Chioggia erreicht ist.
Foto: elleon/Shutterstock
In meinem Bericht „Europa im Kopf“ heißt es über Rafałs und meinen Aufenthalt auf dem Lido di Venezia: ‚Wir fuhren ans südliche Ende der Insel, viel zu sehen war da nicht, aber es war hübsch unterwegs zu sein und sich nichts aus dem Regen zu machen. Außerdem stellte ich fest, dass es eine Autofähre nach Chioggia gab. Die brauchten wir jetzt nicht, aber wenn ich im nächsten Jahr meinen Traum verwirklichen sollte, alle Orte in Italien, die mir etwas bedeuten, noch einmal aufzusuchen, dann war es gut zu wissen, dass man von Ravenna aus nicht die langweilige Strecke um die ganze Bucht herum fahren muss, sondern den Lido auch von Süden her mit dem Auto erreicht.‘
Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei
Mit dieser Stelle im Kopf freute ich mich auf die Überfahrt, als wir Chioggia erreicht hatten. Die Fähre war nicht gut ausgeschildert, fanden wir, und als wir uns trotzdem zum Hafen durchgewuselt hatten, fanden wir auch heraus, warum: Die Fähre gab es nicht. Oder nicht mehr. Jedenfalls fuhren wir von der Anlegestelle für solche Schiffe, die es wirklich gab, das herunter, was wohl der Ku’damm von Chioggia war. Ganz hübsch, stellten wir trotz unserer Enttäuschung fest. Und Parkmöglichkeiten vor einem ansprechenden Café fanden wir auch. Wo gibt es so etwas noch?
Foto: DeepGreen/Shutterstock
Wir tranken jeder, was ihm/ihr guttut (dem Körper oder der Seele), dann musste Rafał halt doch die umständliche Tour durch die Lagune absolvieren. Rechts Wasser, links Boden. Wenn es bei Marghera so hässlich wird, dass man schreien könnte, ist man fast am Ziel: an der über verschlungene Pfade zu erreichenden Anlegestelle der Traghetti von Venedig zum Lido.
Foto oben: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten: Comune di Venezia/Wikimedia Commons, CC BY 3.0
Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Iakov Filimonov (Motorboot) und andriano.cz (Leiche)
#13B – Exkurs: Antike (und) Anmache#15 – Venedig bis zum Abwinken
Fast jeden Abend gibt es Leichen im TV. So
ist es ja wirklich. Und trotzdem ist mir nie so richtig vorbereitet, wenn es einen im echten Leben trifft.
Muss man da „zum Glück“ sagen? Sonst wären wir wahrscheinlich schon längst vollkommen abgestumpft. Schlimme Dinge gibt es ja wie nichts anderes im Fernsehen.
Und die Schauspieler müssen abwechselnd Erschütterung oder Abgebrühtheit vortäuschen.
Ich habe mich auch schon gefragt, ob man nicht abstumpft durch diese konstante Gewaltbilderflut in den Medien. Aber vielleciht bleibt da doch ein Stück unserer Empfindungen bewart für das echte Leben.
100 Punkte fürs Outfit Herr Rinke!
Selbstdemontage, hmmm, eigentlich passt es doch ganz genau auf die Definition des modernen Hipsters. Genügend Ironie um den Umschwung zur Coolness doch wieder zu schaffen.
Das ist das Ziel.
Gelungen 😉
Ich finde die roten Socken großartig. Langweilig kann jeder, aber mit einem kleinen Augenzwinkern macht doch alles ein wenig mehr Spaß.
Rimini = Nulla. Meine Erinnerung an die Stadt ist auch ähnlich nah an der Null.
Zurzeit ist Rimini sicher sehr erholsam. Zumindest für die Tinterfische.
Die Tintenfische erobern wahrscheinlich gerade die gähnend leere Stadt zurück, genau wie die glücklichen Delphine in Venedig 😉
Diese Facebookmeldungen über Delfine in den Kanälen oder Rehe in der Fußgängerzone sind natürlich quatsch. Aber dass z.B. die Luftverschmutzung dank der Zwangspause deutlich abnimmt, darüber kann man sich schon Gedanken machen.
Na so etwas, die Restaurantgäste stehen tatsächlich mitten im Essen auf und suchen sich einen neuen Platz?! Sie haben mehr Einfluss als man gedacht hätte.
Nun es ging in dem Fall doch um einen reservierten Tisch und einen Zeit-Irrtum. Da zeigt man sich als Restaurant schon einmal kulant. Dass man seinen Tisch räumen muss, weil ein „wichtigerer“ Gast eintrifft, gibt es natürlich auch, aber bestimmt weitaus seltener.
Ich glaube, die Gäste taten das freiwillig und waren trotzdem sicher wichtiger als vorüberreisende Touristen.
Die Faszination des Lido in Venedig ist mir bisher immer verschlossen geblieben. Ich war einmal kurz dort und fand es genauso touristisch wie rund um den Markusplatz, nur weniger hübsch.
Zum Glück sind die Geschmäcker doch verschieden. Sonst würden wir alle am gleichen Ort leben und uns das Leben noch schwerer machen als wir es jetzt schon tun.
Verträumte Ecken gibt es hier wie dort. Auf der Fasanenstraße ist es auch ziemlich anders als 100 Meter weiter am Ku’damm.
Oh ja, wer in New York nur Downtown Manhattan kennt, gruselt sich auch. Gleiches gilt wohl für fast jede Stadt.
Meerblick und Krach, Prost Mahlzeit. Dabei ist doch ein guter Schlaf auf Reisen das A und O. Man zahlt ja schließlich buchstäblich für die Übernachtung.
Schlechter Schlaf ist allerdings selten ein Reklamationsgrund. Außer es wird um Mitternacht der Flur neu verkabelt.
Darum habe ich ja auch Parkplatzblick und Stille gewählt.
Die Erinnerung verdrängt die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist eh nur unsere eigene Wirklichkeit.
Und die kann uns keiner nehmen. Oder?
Manchmal will das Alter da nicht mitspielen. Aber öfters als nicht können wir uns unsere eigene Wirklichkeit schon selbst gestalten.
Die große Herausforderung ist es die ganzen Erinnerungen mit in die Gegenwart zu bringen. Und nicht selbst zurück zu diesen Erinnerungen zu wollen.
Bei dem Punkt fällt mir auf, was für eine tolle Sache diese Reise ist – wichtige Orte aus der Erinnerung noch einmal neu zu besuchen und zu schauen wie sich die Erinnerung in anderer Gesellschaft mit ins Heute bringen lässt.
Joa, ziemlich gute Aktion. Muss ich auch mal planen.
War voriges Jahr einfacher als in diesem. Und die alten Plätze und die neuen Menschen müssen auch zusammenpassen.
Wenn der NDR schon sparen muß – warum dann nicht an Krimi-Leichen statt an Sendungen über Bücher und Literatur? Immer dasselbe…