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In der Blase  —   Süd nach Südost

#11B – Vertrödeln findet nicht statt

Alles wird anders. Immerzu. Aber dieses Mal wird es sehr anders: Aus der humanistischen Welt, die mich geprägt hat, geht es in die digitale, an der ich wissbegierig und verständnislos Anteil nehme. Ich habe das Gefühl, dass die Zeit gegen mich arbeitet. Nicht nur, weil sie mir immer glaubwürdiger mit Tod droht, sondern weil sie so viele Menschen hervorbringt, von denen ich mir vorstellen kann, wie sehr sie meine Art zu leben missbilligen: entweder, weil sie so genügsam sind – oder so neidisch. Sie werden immer mehr, und ich werde immer weniger.

Foto: James Weston/Shutterstock

Die Natur, oder meinetwegen Gott, hat es so eingerichtet, dass das vorherrschende Prinzip die Fortpflanzung ist. Gott kann natürlich machen, was er will, es sei denn, die Vorsehung erhebt Einspruch. Muss sie ja wohl manchmal. So kommen dann un‚vorherseh‘bare Dinge zustande oder eben nicht zustande (da ist sie wählerisch). Manchmal erschaffen Menschen, die nicht zur Fortpflanzung neigen, etwas Segensreiches. Also müssten die sich eigentlich besonders reichlich vermehren, um ihre Gene zu verbreiten. Weiß die Evolution das? Wohl nicht. Menschen, die sonst nichts zustande bringen, haben nämlich oft mehr Kinder als schwule Künstler und ambitionierte Wissenschaftler. Aber wer, wie die Natur es von sich glaubt, unendlich viel Zeit hat, der kann sich zwischendurch alle Irrtümer der Welt erlauben. Bloß: Macht ihre Erfindung ‚Mensch‘ während der nächsten hundert Jahre alles platt, dann haben Mutter Natur und ihre Töchter, die Ärmsten, unnatürlich viel Pech gehabt.

Foto: PhotosCopyright/Pixabay

Um halb sieben waren wir wieder zu dritt. Wir stiegen ins Auto. Rafał fuhr vom Parkplatz aus nach rechts zur Promenade und dann nach links, Richtung Jachthafen. Ich erinnerte mich, dass ich es mit meinen Eltern genauso gemacht hatte, 1998. Zwischen meinem ersten Rimini-Erlebnis 1954 und jetzt hatte sich Rimini vermutlich mehr verändert als in den 2600 Jahren zuvor. Die Veränderungen, die man selbst erlebt, sind immer die einschneidendsten. Das sah Isotta degli Atti 1468 sicher genauso, als Sigismondo tot war.

Das Mittagslokal, in dem wir 1998 immer gewesen waren, gab es nicht mehr oder ich fand es nicht mehr, was auf dasselbe hinausläuft. Wir parkten da, wo es ausnahmsweise nicht verboten war, und überquerten die Uferstraße. Dort lag, weiß und proper, der ‚Club Nautico‘. Außer der Fassade war nichts zu sehen. Rafał, der Unbekümmertste von uns, drückte die Klinke. Die Tür ging auf und wir gingen rein – Silke und ich ein wenig unsicher, ob wir wohl willkommen waren. Rafał nähme es wesentlich gelassener als Silke und ich, wenn wir irgendwo rausgeschmissen würden; aber ich mache mir immer Mut, dass einer so eleganten Dame wie Silke nirgendwo der Eintritt verwehrt würde.

Foto: Andrea Berg/Shutterstock

In der Tat. Wir wurden in den ersten Stock geleitet, auf eine weitläufige Terrasse direkt am Hafen. Viel Personal, keine Gäste. Silke glaubte, mich darauf aufmerksam machen zu müssen, dass man vor acht nicht essen kann. Mich! Das ist gerade so, als müsste man dem Patienten am Abend vor seiner Darmspiegelung sagen, dass er heute Nacht keine Schweinshaxe mehr essen darf. Ich reservierte also zeitgerecht, dann gingen wir im Bartrakt an die Reling und tranken das Erwartbare: Rafał etwas Pompöses, ich etwas Verbotenes, Silke etwas Orangensaft. Den nimmt sie immer, wenn erstens sie guter Laune und zweitens der Saft für sie frisch ausgepresst ist.

Foto: Waqas Rana/Pexels

Alles war sehr weiß und sehr hip, einschließlich der eintrudelnden Gäste. Als wir uns (natürlich leicht verzögert) zu unseren Plätzen begaben, waren alle Tische rundherum besetzt. Die Belegschaft war zuvorkommend, das Publikum lässig, das Essen gut, und die Sonne ließ sich Zeit beim Untergehen. Zufrieden sein, ohne vorbestellt zu haben, das darf aber nicht leichtsinnig machen. Man soll das Schicksal nicht herausfordern. Oder doch?

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich hatte eine ruhige Nacht bei dicht verschlossenen Rollläden. Silke und Rafał mit ihren Meerblickzimmern nutzten die Rollläden wenig, zumal sie ohnehin frische Luft lieben, selbst, wenn die 30 °C hat. So vieles ändert sich, aber manches bleibt gleich: Dazu zählte die nächtliche Geräuschkulisse aus den Klubs vor dem Hotel. Ich hatte lange Zeit die Idee, eine Erzählung darüber zu schreiben, wie ein friedfertiger Mensch zum Kindermörder wird. Die Tat steht am Anfang. Alles andere ist Rückblende. Die Handlung des Mannes wird von Kapitel zu Kapitel verständlicher. Bei mir entsteht ja aus einer kleinen Erzählung schnell mal ein langer Roman – Titel: ‚LÄRM‘. Aber auch ohne mein schockierendes, ungeschriebenes Buch wurde der nächste Tag rasch zum Ereignis. Mein Hamburger Leibarzt Roemmelt rief an und verlangte, ich müsse zurückkommen und sofort in den Entzug, er wisse von Silke, dass ich wieder Alkohol getrunken hätte.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich war ärgerlich. Der kleine Drink gestern Abend. Rafał war mehr als ärgerlich, er war wütend. Aufgestautes machte sich Luft, und zwar schlechte. Erst wollte er augenblicklich abreisen. Nach einer Weile hatte ich ihn so weit, dass er uns, ohne je wieder mit Silke zu sprechen, noch nach Venedig fahren würde: von da aus dann erst nach Hause. Er. Das war die Hauptsache. Alles andere würde sich schon noch ergeben.

Foto: Privatarchiv H. R.

Jetzt musste aber sofort etwas geschehen. Eigentlich hatte ich den ursprünglichen Plan, San Marino einzubeziehen, aufgegeben und für den 1. August sehr anschaulich ins Programm geschrieben: ‚Vertrödeln. Strand und so‘, aber das war nun keine Option mehr. Nur Betätigung konnte helfen, und so machten wir uns doch auf nach San Marino, zu zweit. Wie üblich wies auf halber Höhe ein Schild darauf hin, dass man nicht länger im Auto fahren dürfe. Wie sehr dieses Verbot geachtet wurde, war daran zu merken, dass drei weitere Parkplätze folgten. Auf dem letzten erwischten wir den letzten Platz und waren nun wirklich dort, wo zu Fuß zu gehen die einzige Möglichkeit war, weiterzukommen. Ich gab Rafał mein Portemonnaie zum Zettelziehen, weil ich ausnahmsweise Kleingeld zum Bezahlen hatte, und lief schon mal los, Rafał würde mich ja sowieso einholen. Tat er auch. Wir stiegen nach oben zum Palazzo. Es war Rafałs erstes und mein drittes Mal: Von 1954 gab es eins der damals seltenen Urlaubsbilder mit meiner Mutter. Noch zwei Bildchen mit Vater und Großeltern, offenbar von Irene geknipst, auf dem Rückweg in die ‚Pensione Clara‘. Mehr gab es damals nicht. Ging auch.

Irene, Hanno (Foto unten links)

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock:

31 Kommentare zu “#11B – Vertrödeln findet nicht statt

  1. Alles wird anders, alles wird digitaler. Momentan habe ich allerdings zum ersten Mal das Gefühl, dass das Digitale auch für sinnvolle Zwecke eingesetzt wird.

      1. Wohl nicht. Und wo alles digitale so einfach und direkt ist, ist Missbrauch umso näher.

  2. Neid gehört wohl zu den am weitest verbreiteten Eigenschaften der Menschen. Man will immer was man selbst nicht hat, oder will zumindest nicht, dass es jemand anderes vermeintlich besser hat.

      1. Berlin jedenfalls nicht. Hier darf ja aus unerklärlichen Gründen nicht in die Höhe gebaut werden.

  3. Oh Herr Rinke! Wenn der Hausarzt aus Sorge über die Gesundheit auf Reisen anruft, das klingt aber schon besorgniserregend!

    1. Dass der Arzt während der Reise drohend anruft, ist dann vielleicht doch ein wenig übertrieben. Dass Ihre Freunde sich allerdings sorgen, da kann man sich ja eigentlich drüber freuen.

      1. Nebenbei und mit großer Wirkung. Wer wirklich noch glaubt die Menschen zu belehren und den Klimawandel zu stoppen, oder wer an einen großen Neuanfang nach der Covid-Pause denkt, viel Glück. Ich glaube eher an die weitergehende Selbstzerstörung.

      2. Die Idee vom Untergang ist so alt wie die Menschheit. Deshalb hat sie sich ja Götter erfunden, denen sie dankbar sein kann, wenn das Unheil vorüber ist. Wer hat es wohl geschickt? Der alles wissende Allmächtige? Strafen und Erfüllung von Gebeten würden seine ewigen Plan ziemlich durcheinanderbringen. Also wäre es vernünftig, ihn in Ruhe zu lassen und selbst zu entscheiden, dem nächsten Untergang davon oder entgegen – vielleicht dem des Menschen, aber nicht dem der Erde.

  4. Gottseidank ist die Zeit des hippen weiß langsam vorbei. So richtig hübsch oder gemütlich war das ja nie.

      1. Ja genau, auf den Kontext kommt es wohl schon an. Davon abgesehen gibt es auch weiße Restaurants, die ich mag. Aber Geschmack lässt sich ebenso wenig lernen wie kopieren.

      1. Mozarts und Goethes Nachwuchs ist nichts Aufsehenerregendes geworden. Abraham Mendelssohn Bartholdy hat in etwas gesagt: „Erst war ich der Sohn meines berühmten Vaters. Jetzt bin ich der Vater meines berühmten Sohnes.“

    1. Dass Erziehung quasi irrelevant ist, macht aber doch auch keinen Sinn. Meine Eltern haben mir soviel vermittelt, was heute noch für mich wichtig ist!

  5. Es liegt wohl an den Genen, welche Angebote wir annehmen. Ob’s stimmt? Ich habe mir von meinen Eltern beibringen lassen, mit Messer und Gabel zu essen. Ungern. Aber ich wollte auch nicht im Lokal dadurch auffallen, dass ich mir das Wiener Schnitzel mit den Händen in den Mund schob: Mein Anpassungsgen.

    1. Es kommt halt immer noch auf unsere eigenen Entscheidungen an. Das sagt doch auch der Herr in der Geo. Man ist ja nicht gleich Sklave seiner Gene.

      1. Aber schon spannend, dass seiner Ansicht nach das Umfeld doch so wenig Einfluss auf unseren Charakter haben soll. Dabei beschwören doch die Hälfte aller Psychologen die Kindheit als Quelle allen Elends herauf. Oder ist das doch nur Mythos?

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