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In der Blase  —   Süd nach Südost

#15 – Venedig bis zum Abwinken

Wir hatten mit weniger Zeit für die Strecke zwischen Rimini und Lido gerechnet. Helga stand schon fröhlich winkend am Ufer. Den Flug von Hamburg über die Alpen hatte sie schneller geschafft als wir die Strecke von Rimini hierher, trotz Rafałs Fahrweise. Fliegen ist ungesund für die Natur, Autofahren auch. Zuhausebleiben ist langweilig für den Menschen. So ist das nun mal.

Foto: Luis Wilker Perelo WilkerNet/Pixabay

Mein Zimmer war das allerschönste der ganzen Villa. Seit Ende der Siebzigerjahre des verflossenen Jahrhunderts komme ich fast jeden Sommer in das Hotel ‚Mabapa‘, aber zum ersten Mal habe ich dieses Zimmer: geräumig, Terrasse, Blick auf San Marco in der Ferne, jenseits des Wassers.

Helga ist mir eine enge Freundin seit mehr als dreißig Jahren, außerdem Physiotherapeutin, was mich früher nicht sehr interessiert hat, jetzt aber meinem angeschlagenen Leib zugutekommt.

Foto: mohamed Hassan/Pixabay

Wir aßen im Garten. Mit entsprechendem Einbildungsvermögen konnte man meinen: Alles war wie immer. Aber – viele der mir vertrauten Gäste gab es nicht mehr, die Eigentümer von früher auch nicht. Die meisten Menschen, mit denen ich hier war, sind tot. Das Essen schmeckte irgendwie auch anders, landläufiger. Die Terrasse war die Terrasse, der Blick war der Blick. Das muss in meinem Alter reichen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Eine große Gesellschaft feierte etwas. Sie war zwar hinten im Speisesaal beköstigt worden, aber nun wimmelte sie nach vorn, penetrante Musik setzte ein, und zwischen unserem Esstisch und der Bar begann eine Tanzerei. Ich zwang mich sofort, dieses Schauspiel zu genießen, mit mehr Erfolg als Silke, die auf ihr Zimmer verschwand. Helga und ich, wir setzten uns in der Bar an den letzten freien Tisch, Rafał mischte sich unter die Tanzenden. Aber wie! Es sah so professionell aus und gleichzeitig so entrückt. Die anderen Tänzer blieben stehen, um ihm zuzusehen. Es war wirklich ein ‚spettacolo‘ unter freiem Himmel! Das hatte ich ihm so nicht zugetraut. Ich bekam einen Eindruck davon, wie er seine Nächte zubrachte. – Ein anderer Mensch.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Bewegt stieg ich empor in mein Prachtzimmer. Und während ich mich jetzt zum Schlafen lege, biete ich meinem Publikum einen Crashkurs in Sachen Venedig an.

Es ist für mich – also erst recht für Sie – zu mühsam, die Tage in Venedig im Einzelnen aufzudröseln. Na schön! Kurz und möglichst gut:

Am Sonntag gingen wir an den Strand. Früher ein Vergnügen, heute eine Strapaze. Kann sein, dass es mich immer Überwindung kostete, aber das zählt nicht, weil der zehnminütige Weg auf die andere Seite der Insel bei Hitze manchmal lästig war, aber nie beschwerlich. Nun liege ich da in der vordersten Reihe, erst mal bloß mit meiner besseren Hälfte, dann ganz unterm Sonnenschirm. Ich lese etwas von dem, was andere geschrieben haben, und ich beobachte, was ich selber denke, um darüber schreiben zu können. Dabei sehe ich auf die gemächlichen Strandläufer oder ich schließe die Augen. Dem Unterschied zwischen Fühlen und Denken habe ich früher weniger Beachtung geschenkt. Jetzt muss ich bezahlen. Der Körper weiß vermutlich, dass ihm kein ewiges Leben bevorsteht, darum ist er ziemlich erfinderisch darin, sich zu behaupten. Ob es die Seele gibt oder nicht, das ist ihm egal. Er wird sowieso verwesen oder verbrannt. Deshalb muss er sein Feuerwerk aus Pein und Lust hier abbrennen – jetzt oder nie.

Foto: Ghischeforever/Shutterstock

Rafał war schon zweimal im Wasser. Helga auch. Sie pflegt ein liebevolles Verhältnis zu ihrem Körper. Sie achtet ihn. Ich zwinge meinen jetzt auch in die Adria. Ich nehme ihm übel, dass er nicht mehr schwimmen kann, tue aber viel zu wenig dafür, es ihm wieder beizubringen. Rafał hat gesagt, Schlappen an den Füßen brauche man nicht für das kurze Stück. Nicht alles, was Rafał sagt, trifft zu. Auf dem Rückweg ist der Strand so heiß, dass ich mich unwillkürlich hinsetze, direkt vom Stand in den Sand, eine unter Schlaganfallern wenig beliebte Maßnahme. Rafał schreit auch vor Schmerz. Wenigstens das! Als zimperlich will ich neben all meinen anderen Unerträglichkeiten nicht auch noch dastehen oder -sitzen.

Foto: K.Narloch-Liberra/Shutterstock

Besser, auf dem halben Rückweg am Kanal zu sitzen und Calamari fritti zu essen. Zu viel Salz über die Ringe streuen (Gewohnheit), ein paar Tropfen Zitrone. Ein paar Blätter Salat, ein paar Scheiben Tomate. Olivenöl, Rotweinessig. Ein Kahn gleitet vorüber. Der Wein ist alle. Es ist ganz still. Diesen Moment einfrieren. Aber dazu ist es zu heiß.

Foto: littlenySTOCK/Shutterstock

Die anderen gehen zur ‚Granviale Santa Maria Elisabetta‘. Sie heißt noch etwas pompöser als sie ist. Aber man kann dort preiswert Pizza essen und teure Kleidung kaufen. Wenn man einen Sitzplatz an der Straße ergattert hat, kann man denen zugucken, die ihren Platz noch nicht gefunden haben, man kann Negroni trinken oder Affogato, und man kann versuchen, ein Muster in der Geschäftigkeit zu finden, die dem Betrachter zunächst planlos scheint.

Ich begnüge mich mit meiner Terrasse, dem Duft der Pinien und dem Wissen, es geht weiter. Es geht noch weiter. Noch geht es weiter. Heute Abend werden wir zur ‚Favorita‘ gehen. Das liegt nahe, denn sie liegt nahe: geografisch von ‚Mabapa‘ aus und nostalgisch von meinen Erinnerungen her. Ich kenne sie noch als versteckte Trattoria. Jetzt ist sie ein vornehmes Speiselokal für Menschen, die auf der Karte nach den Spezialitäten schauen, nicht nach den Preisen. Bis unsere Reservierung greift, sind es noch vier Stunden. Zeit genug, um an dieser Stelle von meinen vielen Venedig-Berichten den von Anfang August 2003 einzufügen. Er beginnt in Meran, ein Jahr nach dem Tod meines Vaters. Bebildert wird überwiegend aus der Vergangenheit.

Foto: cdrin/Shutterstock | Titelillustrationen mit Bildmaterial von Shutterstock: Maxim Safronov | JordanJay | Zwischengrafik Venedig: Marc Scott-Parkin | Roman Sigaey | ChiccoDodiFC (alle Shutterstock)

32 Kommentare zu “#15 – Venedig bis zum Abwinken

  1. Wie interessant die kleine Tanzepisode mit Rafal doch ist. Ich dachte immer schon, nachts zeigen sich die Menschen von einer ganz anderen Seite als wie man tagsüber zu sehen bekommt. Solche Entdeckungen gefallen mir sehr.

    1. Wenn Menschen es erlauben sich gehen lassen, egal in welcher Situation, kann das im Grundsatz spannend sein. Das Ergebnis muss allerdings nicht immer positiv ausfallen.

      1. Nee, das kann wohl auch sehr in die Hose gehen. Aber man lernt in jedem Fall etwas Neues über den jeweiligen Menschen. Das stimmt schon.

      2. Menschen, die ausnahmslos kontrolliert sind, sind mir unheimlich. Da kommt es dann irgendwann zum Totalverlust. Menschen, die sich nie in der Gewalt haben, sind aber noch schwerer auszuhalten.

  2. An die Granviale Santa Maria Elisabetta erinnere ich mich auch noch gut. Das tolle an Italien ist ja, egal wie touristisch eine Ecke auch ist, man bekommt eigentlich immer hervorragenden Kaffee.

    1. Grundsätzlich würde sogar sagen, es ist relativ schwer in Italien schlecht bewirtet zu werden. Jedenfalls schwerer als hierzulande. Wobei eine italienische Freundin sagte immer, man isst nirgendwo auf der Welt so schlecht wie in Großbritannien und Venedig.

      1. Ach wenn man das nötige Geld investiert, oder sich alternativ im Vorfeld gut genug informiert, kann man doch überall gut essen.

      2. Da kann man nicht viel gegen einwenden. Ich habe meine Rechercheskills allerdings durch genügend Geschäftsreisen auf ein ganz gutes Niveau gebracht. Da werden die Reinfälle tatsächlich weniger.

    1. Ob es da einen Zusammenhang zum Charakter der Menschen gibt? Die einen mögen es grundsätzlich etwas wilder (salziger), die anderen etwas gemütlicher (fader)?

  3. Von Venedig kann ich eigentlich nie genug bekommen. Trotz der Scharen an Touristen. Die Stadt hat trotzdem etwas, was einmalig ist.

    1. Vielleicht entspannt sich die Stadt durch die kürzlich beschlossenen „Eintrittsgelder“ ja sogar etwas. Man wird es wohl erst nach der Viruspause sagen können.

      1. Man muss ja wirklich nicht den ganzen Tag um den Markusplatz verbringen. Es gibt da genügend ruhigere schöne Ecken.

      1. Das erste Mal ist immer ein Erlebnis. Meine Mutter sagte 1966 befriedigt auf dem Vaporetto: „Wenn Venedig jetzt untergeht, hast Du es wenigstens noch gesehen.“ Das Wiedererkennen beim zweiten Mal ist spannend, und das wachsende Vertrauen später befriedigt auch. Enttäuschungen sind dabei unvermeidlich. Städte und Menschen werden nicht von Jahr zu Jahr ansehnlicher.

  4. Das Ärgerliche an billiger Kleidung ist ihre Hässligkeit. Wenn vierzig kleine Buben im Matrosenanzug über die Piazza laufen und vierzig alte Teufel in Prada, dann ist der Eindruck sehr anders, als wenn vierzig grölende Jungen in schreischbunten Mickymouse-T-shirts und vierzig alte Leute in Rentnerbeige am Straßencafé vorbeiziehen.

    1. Was mich wirklich ärgert ist, wenn Leute Tütenweise Klamotten aus Läden wie Primark oder H&M schleppen. Da wird dann oberflächlich gespart um die Sachen nach 2-3 Wäschen in den Müll zu werfen. Fast Fashion. Unmöglich.

      1. Nicht nur einem selbst, sondern auch den aufmerksamen anderen: Hübsch angezogen zu sein ist menschenfreundlich, fast selbstlos …

  5. Ich liebe es wenn man solche Orte hat, die man immer und immer wieder besuchen kann. Mir geht es mit ein paar Städten ähnlich.

    1. Es müssen ja auch nicht immer die Metropolen sein. Die Cévennes in Frankreich sind zum Beispiel so wunderbar.

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