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In der Blase  —   Süd nach Südost

#29B – Am Eingangstor zu Berlin

In meiner Wohnung war ich noch damit beschäftigt, die Post in Werbebriefe für mich und Werbebriefe für den seit Jahren toten Roland zu sortieren, als das Telefon klingelte: Guntram hatte einen weiteren Schlüssel die ganze Zeit im Portemonnaie bei sich gehabt. Alles war da, nichts fehlte.

Foto: 50Grad_Cologne/Pexels

Später erkundeten wir telefonisch, dass der Hauptschlüssel unter unserem Tisch im Restaurant auf dem Weg nach Bozen gefunden worden war. Wem er aus der Tasche gefallen war, wird – wie so vieles Unerforschte – immer ein Rätsel bleiben. Ich denke, insgeheim glaubten Guntram und ich, beide der Schuldige zu sein, aber auszusprechen brauchte man das ja nicht. – Kaum hatte ich erleichtert den Hörer aufgelegt, da klingelte es schon wieder.

Foto: Emmily/Shutterstock

„Endlich!“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme gefiel mir auf Anhieb nicht. „Ich habe es schon die ganzen Wochen versucht, Sie sind ja nie da!“
––Sollte ich mich etwa vor ihm rechtfertigen?
––„Ich hab’ auf der Straße Ihre Brieftasche gefunden, Fahrzeugpapiere, Führerschein, Scheckheft, wenn ich das richtig sehe. Wann kann ich Ihnen das mal vorbeibringen?“

Foto: Privatarchiv H. R.

Zurück aus dem Plusquamperfekt ins Imperfekt unserer Zweitausender Gegenwart! Nachdem wir schon mittags die Tradition vernachlässigt hatten, ziemte sich das nicht auch noch für Abend und Nacht. Wir stiegen wie gewohnt in Alexander Herrmanns ‚Posthotel‘ ab und verzichteten wie gewohnt auf das Zwei-Sterne-Gourmet-Restaurant zugunsten des Bistros mit ‚hochwertigen fränkischen Spezialitäten‘. Allmählich wird ja immer wichtiger, nicht nur wie man etwas Unrecycelbares mülltrennend entsorgt, sondern auch, wo etwas Wie-Geschlachtetes oder Wie-Genähtes herkommt. Das ist gut und richtig. Essen und Kleidung sollen keine Wegwerfartikel sein. Da gehe ich mit gutem Beispiel, mit 30 Jahre alten Sakkos und mit Seniorenportionen im Lokal voran, und das ist nicht mein Geiz, sondern mein Nachhaltigkeitsbewusstsein.

Foto: Privatarchiv H. R.

Am nächsten Tag merkte ich, dass mein Sommerabschied voreilig gewesen war. Nach kurzem Besuch in Dessau, wo wir das Bauhaus nicht fanden, machten wir in Potsdam an der Havel Mittag. ‚Il Teatro‘. Der Name war etwas irreführend für ein gut besuchtes Ausflugslokal. Aber wir saßen draußen, ohne zu frieren, am Eingangstor zu Berlin.

Fast dreißig Jahre war es her, dass die bis 1989 nahe Grenze verschwand. In den Köpfen bestünde sie weiter, behaupten viele Beobachter, dass viele Betroffene behaupteten. Alle, die nach 1985 geboren sind, können das höchstens von ihren Eltern haben. Die, die nur auf Bananen aus Kolumbien und Urlaub auf Mallorca gewartet haben, wurden von dem ‚soziale Marktwirtschaft‘ genannten Kapitalismus natürlich enttäuscht. Von Bloß-nicht-Auffallen nach Unbedingt-Auffallen ist der Weg steinig. Vom Erfolgreich-Schlangestehen zum Erfolgreich-Anbieten schaffte es nicht jeder. Überfluss erfordert andere Fähigkeiten als Mangel. Und wer sich ‚abgehängt‘ fühlt, dem nutzen auch die frisch gestrichenen Häuser und die hübsch dekorierten Schaufenster nichts. Wer nie etwas anderes kennengelernt hat als das, was ihn umgibt, der reagiert anders auf Neues als der, der schon die Welt bereist hat. Waren die Westdeutschen 30 Jahre nach 1945 weiter als jetzt die ehemaligen DDRler? Ich glaube, ja. Aber in meiner Blase aus Kapital und Komfort sehe ich auf Rügen und in Leipzig nur freundliche Rezeptionisten und wohlhabende Restaurantbesucher. Das Neue ist, dass Menschen, die früher schwiegen, weil sie genauso weniges beurteilen können wie ich, dass diese Ignoranten jetzt mit dem Brustton der Überzeugung das Netz benutzen. Tu ich ja auch.

In Berlin lief alles wie geplant. Wir trafen Adriana Altaras, Sharon Dodua Otoo, Freunde in und außerhalb der Agentur. Meine Stiftung und mein Privatleben wurden aufgeforstet.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Aumühle liegt zu Hamburg wie Potsdam zu Berlin. In der ‚Fürst Bismarck Mühle‘ im herbstlich goldenen Sachsenwald fand das übliche Abschiedsessen statt, das wie immer gleichzeitig ein Empfangsessen war.

In weniger als einer Stunde stand das Auto wieder da, wo Rafał es zwölf Wochen zuvor weggefahren hatte. Wagen und Seele hatten keine Blessuren erlitten, soweit ich das sehen konnte. Sogar das Haus stand noch. Mehr kann man nicht verlangen.

Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Olga_DigitalWork (Hand mit Nadel), Patryk Kosmider (Brandenburger Tor)

Der Himmel war weit, die Sorgen auch. Ein friedlicher Herbst. Bisher. Für uns. Der Begriff ‚Blase‘ symbolisiere einen großen, hohlen Raum, las ich. Das klingt nicht schlimm. Aber durch das Zusammenstürzen der Blase entsteht physikalisch ein Strahl, dessen Druck so mächtig werden kann, dass er jedes Material zerstört. Wenn sie platzt also.

‚If that’s all there is my friends, then let’s keep dancing!‘1

Wer genügend Zeit hat, kann sich auch in die sehr gute Bette-Midler-Version vertiefen.

1 Quelle: Aus ‚Is That All There Is?‘, Text: Jerry Leiber and Mike Stoller

34 Kommentare zu “#29B – Am Eingangstor zu Berlin

  1. Na genau, wo etwas herkommt ist wichtig. Das wissen die Primarktütenschlepper zwar nicht, aber dafür gibt es immerhin generell einen Trend zu mehr Nachhaltigkeit.

    1. Der Trend geht wohl in beide Richtungen. Fast fashion und fast food boomen genau wie Organic fabrics und Bio-Produkte.

      1. Die Theorie, dass man bei Primark wirklich spart wenn man die T-Shirts nach der ersten Wäsche in den Müll wirft muss man mir erst noch erklären.

      1. Haha, ja vor allem ihre Attacken auf den Präsidenten haben es in sich. Zum Beispiel aktuell: „Dear Donnie,
        Well, the reviews are in and you laid an egg in Tulsa! And man, you were sweating bullets up there. The optics were lousy, but the yawns were infectious! Even I was yawning. Try not to kill off your entire base. Another night like this and they’ll die of boredom.“ LOL

    1. Wieder so ein toller Leiber/Stoller Song. Der verliert auch nach einem halben Jahrhundert nicht an Wirkung.

      1. Das war wirklich eine völlig andere Zeit nicht wahr? Wo es Songwriter gab, dessen Hits alle großen Stars singen und veröffentlichen wollten. Heute muss ja alles zu 100% authentisch und eigen sein. Auch ok, aber warum immer dieses schwarz-weiss?

    1. Ich habe sowohl im Westen, wie auch im Osten gelebt. Dass die Grenze, wenn auch nur im Kopf, weiter besteht kann ich eigentlich nicht bestätigen. Wenn überhaupt, dann ist den Menschen wie immer das Fremde suspekt.

      1. Ich kenne Ostler nur noch aus der Gastronomie und aus meinem Verlag. Die sind alle sehr freundlich. Fremdenfeindlichkeit ist in beiden Gewerben nicht üblich.

    2. Vor ungefähr einem halben Jahr habe ich auf Reisen meinen Rucksack im Café vergessen. Aber auch der wurde von einer netten Dame wiedergefunden.

      1. Meine Mutter hat auf dem Hauptbahnhof in Rom ihren Ring auf dem Waschbecken liegen gelassen und über die deutsche Botschaft zurückbekommen.

      1. Wer sich seinen eigenen Haus- und Hofpaparazzo leisten kann, der hat es geschafft.

    1. Manchmal glaubt man bei den großen Stars ja eh, dass die „Paparazzi“-Fotos oft zur Marketing-Strategie gehören. Jedenfalls sind die Umstände zum Teil eigentlich zu absurd um wahr zu sein.

      1. Ich glaube da gibt es beide Extreme. Die Diana-Version, wo man quasi in den Tod getrieben und verfolgt wird, genau wie diejenige wo man die angebliche Belagerung durch Fotografen ganz gezielt ausnutzt.

      2. Amy Winehouse konnte da ja auch das ein oder andere Lied drüber singen.

      3. Wenn alle an solchen Bildern so desinteressiert wären wie ich, hätten die „Stars“ ihre (unerwünschte?) Ruhe und die Paparazzi keine Arbeit.

      1. Dafür gibt es zum Glück ja genügend andere Möglichkeiten. Mein Portemonnaie nehme ich von jedem gerne zurück.

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