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0807
In der Blase  —   Süd nach Südwest

#32B – Abstecher

Bevor wir Mailand verlassen, muss ich erst noch etwas nachreichen – meinen ganz persönlichen Höhepunkt. Die Milanese von 1984:

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Als Irene morgens um halb neun in mein verdunkeltes Zimmer trat und leicht spitz fragte, ob ich den Plan, nach Mailand zu fahren, aufgegeben hätte, glaubte ich, alles zusammengenommen, nicht mehr als zwei Stunden geschlafen zu haben. Trotzdem war ich munter und klar im Kopf. Eine andere Schwierigkeit hatte sich eingestellt: Ich fühlte mich wie kurz vorm Orgasmus. Sehr seltsam.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Während der Fahrt aus den Alpen heraus hatte ich Irene auf Bill vorzubereiten. Er lebt inzwischen in Houston, warum ist mir nicht ganz klar. Es hat, glaube ich, etwas mit der nahen Grenze zu tun. Bill legt unversteuerte mexikanische Gelder an. Da trifft es sich gut, dass seine Mutter Schweizerin ist und er neben dem amerikanischen auch einen eidgenössischen Pass besitzt. Bevor Bill Roland und mich in Hamburg besucht, macht er immer einen konspirativen Abstecher in die Schweiz, und ich habe jedes Mal die Befürchtung, dass er dort seinem Abstecher begegnet. Bill war in den vergangenen Wochen zunächst mit seinen Eltern und dem neu gekauften Mercedes durch Belgien und Frankreich kutschiert. Nun waren sie im Tessin bei den Verwandten seiner Mutter gelandet. Um seinen etwas anstrengenden Eltern zu entgehen, hatte er sich für den zweiten Tag in Mailand angesagt. Ich war gar nicht traurig, einen Kumpan für den am Sonnabend geplanten Ausflug in den verwegensten Club von Mailands Vorstadt zu haben.

Nicht so Irene. Sie maulte, dass der zweite Abend ihr jetzt durch ‚fremde Leute‘ verdorben würde. Ich fand nicht den Mut, ihr zu sagen, dass Bill noch mal angerufen und angekündigt hatte, er würde schon morgens kommen. Und ‚fremde Leute‘ war Bill schon gar nicht, im Gegenteil: Ich hatte mindestens so oft mit ihm im Bett gelegen wie Roland, und gleichaltrig waren wir auch.

Dieser wolkenlose Himmel, die ergrünenden Hänge, Kirchtürme im Sonnenglanz, Irene und meine nervösen Hoden, die jeden Augenblick loszuschlagen drohten. Immer häufiger zeigt mein Körper meinem Kopf jetzt, was eine Harke ist. Links die Etsch, rechts Irene, und unterm Steuer streckt mir mein Schwanz die Zunge raus. Auto-Sex, gewissermaßen.

Foto: Ander5/Shutterstock

In großen, chaotischen Städten macht es Spaß zu fahren. Da bin ich in meinem Element, alles klappte wie am Schnürchen. Der Gepäckträger brachte unsere Sachen in ein finsteres, kleines Zimmer, der Hotelchauffeur verschwand mit Guntrams Mercedes.

Nun sahen wir uns die Schaufenster der Via Monte Napoleone an. Irene fand alles hässlich und viel zu teuer. Das war es wohl auch.

Gegen halb sechs legten wir uns zum Mittagsschlaf. Ich schlummerte gut, Irene gar nicht. Sie verbrachte die Zeit damit, sich zu ärgern. Als ich aufwachte, eröffnete sie mir, dass sie fände, wir sollten doch besser morgen schon wieder abreisen, Bill wollte sie auch nicht sehen. Halb acht waren wir wieder auf der Straße, die Läden schlossen gerade.

Foto: Grisha Bruev/Shutterstock

Der Domplatz kam Irene verrottet vor, unter dem abendlichen Publikum der Arkaden und Gänge machte Irene ‚nicht einen eleganten Menschen‘ aus. Kein Geschäft zeigte attraktive Auslagen, aber alle erfrechten sich wuchernder Preise, fand Irene, und so war es wohl auch.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mein Lieblingslokal: Wir saßen zu eng, den Wein, Gott sei Dank noch ungeöffnet, musste ich auf Irenes Geheiß zurückgehen lassen. Der Ersatzwein war ‚ungenießbar‘. Ich trank ihn also allein. Als das Essen kam, hatte ich Block in der Kehle und kriegte nichts runter.

Nach der ‚Mahlzeit‘ schlenderten wir noch mal durch die Galleria auf den Domplatz. Große Menschenmenge. Ein Feuerschlucker zeigte Kunststücke. Er schob sich brennende Holzscheite in den Rachen. Ob Irene das besser geschmeckt hätte?

Sie trat auf einen Vorsprung, um besser sehen zu können. Ich sah gut genug: Ein junger Mann von etwas gefährlichem Aussehen lungerte jenseits der Fahrbahn am Eingang zur Galleria. „Den sicher nicht!“, dachte ich und beobachtete den Feuerschlucker zwischen den Schultern meiner Vorderfrauen hindurch. Dann sah ich mich doch noch mal um.

Foto: Privatarchiv H. R.

Der Gefährliche ging langsam Arm in Arm mit einer jungen Frau über den Platz. Er spürte meinen Blick und dreht sich auch um, unitalienisch unverhohlen, wie ich fand. Ich weiß ja von deutschen Freunden, die Italiener seien ‚Cockteaser‘, sie machen einen erst an und dann sich aus dem Staube. Zufall, dass ich überall viel bessere Erfahrungen gemacht habe – aber in Mailand, da ist es angeblich am schlimmsten. Da wird geklaut und betrogen. Roland weiß das, Bill weiß das – was hat er für Geschichten erzählt! –, und Rolands Freund Jörg aus Frankfurt ist hier mit jemandem mitgegangen: In einer dunklen Seitengasse wurde er mit dem Messer bedroht und musste seine Brieftasche hergeben. Auch mein Kollege Klaus Bülow musste von einem ‚sehr enttäuschenden Erlebnis‘ berichten, das heißt: Es gab gar kein Erlebnis, nur Diebstahl. Mir kann so was nicht passieren. Ich merke den Menschen die Ehrlichkeit am Gesicht an (leider langweilt sie etwas, wenn sie sich dort zu deutlich breitmacht und interessantere Züge verdeckt).

Dem Gefährlichen stand beileibe nicht die Ehrlichkeit im Gesicht, da spürte ich eher Undeutbares, als er sich noch einmal umsah, bevor er mit dem Mädchen verschwand, an deren anderer Schulter inzwischen auch ein Mann klebte, enger, wie mir schien.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ein Freundlicher lächelte mir zu aus der Menge, wohl Mitte Dreißig, Vertrauen erweckend. Irene verließ ihren Sehplatz. Wir gingen zum Hotel. Niemals in meinem Leben bin ich weniger müde gewesen.

Ich brachte Irene ins Zimmer. Sie begann sich auszuziehen. „Ich geh noch mal eine Weile auf die Piazza.“
––„Sag doch nicht, du gehst auf die Piazza, wenn du weggehst und die ganze Nacht nicht zurückkommst!“, fuhr sie mich an.

Ich ließ mich nicht umstimmen. „Ich kann jetzt noch nicht schlafen“, sagte ich und ging.
––Sie öffnete die Tür und schrie mir in den Gang hinterher: „Morgen will ich hier weg. Wenn du nicht mitkommst, nehm ich die Bahn!“
––Ich drehte mich nicht um.

Ich ging durch die Galleria: Der weite Raum, die lichte Höhe, die ferne, ferne Glasdecke, das luftige Gewölbe, die verheißungsvollen Ausgänge in alle Himmelsrichtungen, wenn man ganz in der Mitte unter der endlos weiten Kuppel stand und sich nach den vier Seiten im Kreis drehte, bis einem schwindelig wurde vor Möglichkeiten, im Schnittpunkt des Kreuzes langgezogener Arkaden, Marmor zu Füßen, Verstiegenheit im Kopf – wie frei war ich, wie frei! Und doch kam nur eine Richtung infrage: geradeaus – hinaustreten aus der bogenüberspannten Halle mit den äugenden Cafés rechts und links: auf den Platz, wo der eher sinnlich-gelöste als strenge Dom immer noch die Kulisse für die Künste des Feuerschluckers abgab. Zwar war der jetzt von weniger Neugierigen umstanden, dafür leuchtete das Feuer verheißungsvoller in der Dunkelheit, bevor es für kurze Zeit in seinem Mund verschwand – ohne zu verlöschen.

Foto: Angelo_Giordano/Pixabay

Der Gefährliche stand am Rande, allein. Er entdeckte mich gerade in dem Augenblick, als ich ihn sah. Ein Täter, ein Opfer? Ich war überrascht und baute teils auf das nie ungestüme, sondern eher eitel zurückhaltende Verhalten der Italiener, teils auf mein angehörtes Wissen über deren Kriminalität. Bewusst stellte ich mich ans entgegengesetzte Ende des Halbkreises, den die Zuschauer um den Feuerschlucker bildeten.

Foto: lanur/Pixabay | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Vlad Ageshin (Feuerspucker), Chissanuphong (Engel)

40 Kommentare zu “#32B – Abstecher

  1. Ah diese kurzen Zweistundennächte hasse ich. Ich bin nach wenigem Schlaf leider nie zu etwas zu gebrauchen.

    1. Nachdem ich Anfang des Jahres Matthew Walkers ‚Why we sleep‘ gelesen habe, habe ich festgestellt, dass ich scheinbar eh völlig falsch schlafe. Nun ja…

      1. Auch der Schlaf muss natürlich (selbst)optimiert werden. Wer im Schlaf nicht ordentlich „funktioniert“, tut dies im Leben dann ja auch nciht. Wie anstrengend!

  2. Ich war in meinem Leben wahnsinnig oft in Italien, aber aus mir selbst nicht recht klaren Gründen nur ein einziges mal in Mailand. Mich hat die Stadt aber auch nie wirklich gereizt.

      1. Offensichtlich. Dieser berüchtigte Vorort-Club verspricht ja auch einiges.

      2. Ich erinnere mich an eine ganz nette Bar namens Lecco(?) oder so ähnlich. Aber so hübsch Italien auch ist, ausgehen tue ich dann doch lieber hier bei uns. Das Nachtleben ist mir dort zu überstyled.

      3. Ich finde Ausgehen funktioniert chic einfach nicht. Nachtclubs wo sich alle hübsch machen, sind dann auch immer ziemlich langweilig.

      4. Ja, ich habe mich, aus dem Konzertsaal kommend, für den Rest der Nacht auch meist enthübscht, ohne gleich die nächste Uniform anzulegen.

  3. Na sowas, den Begriff „Cockteaser“ höre ich zum ersten Mal. Also ich lese ihn natürlich genau genommen. Wieder etwas Neues gelernt.

      1. Na wer sich, wie oben beschrieben, wie kurz vor dem Orgasmus fühlt, der sucht sicherlich auch bewusst oder unterbewusst solche Situationen.

    1. Sie hat sehr viel für mich getan: Schule, Beruf, Aussehen. In meinen Berichten kommt sie oft nicht besonders gut weg, aber sie hat viele von ihnen vorgelesen bekommen und verständnisvoll gelacht. (Diesen allerdings nicht.)

      1. Wunderbar. Ich hatte zwar immer ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern, aber Humor haben sie leider beide nicht gehabt.

      2. Die enge Verbindung Mutter – Sohn macht mich einerseits neidisch, andererseits hätte ich sie nicht ertragen.
        Nun kommt es aber auch auf die Mutter an.
        Weiss nicht, soll man bemitleiden oder eben neiden ?

  4. Das Verhalten der Italiener habe ich auch schon weniger eitel zurückhaltend erlebt. Aber Ausnahmen bestätigen ja eh immer die Regel. Mit so vielen Italienern habe ich nicht geflirtet, als das ich ein Grundsatzurteil fällen könnte.

    1. Grundsatzurteile fällt man doch, ohne eine Ahnung zu haben. Expertise war gestern. Heute wird behauptet und ins Netz gestellt. Ich bin eng befreundet mit Italienern: Überraschung! Sie sind genauso unterschiedlich wie Deutsche – vielleicht im Schnitt etwas hübscher, vor allem im Norden.

      1. Und ich hätte jetzt gesagt im Süden 😉 Noch ein Beweis mehr wie unterschiedlich sie alle sind.

      2. Leider wurden im Norden die hübschen Italiener von den Rumänen und Bulgaren verdrängt. Die sind auch verwegener und lustgefährlich.

    1. Meiner Erfahrung nach nicht. Aber wer nachts mit Fremden in dunkle Gassen geht sollte natürlich immer vorsichtig sein. Das ist wohl in jeder Stadt ähnlich.

    1. Grenznah ist es auf jeden Fall. Wobei die Grenze ja von Trump’s mittlerweile handsignierter Mauer etwas unattraktiver gemacht wird. Jedenfalls für ungewollte Reisende. Ist Texas nicht der das Epizentrum der erzkonservativen Republikaner?

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