Hier sitze ich. Allein. In meinem Haus. Auf diesem ‚gesegneten Fleckchen Erde‘. In meiner Blase: den anderen egal – mir selbst gefällig. Meine Mitbewohner sind unterwegs. Ich sehe vom Balkon im ersten Stock auf den Garten, auf die Baumwipfel, auf die Berggipfel, und ich übe mich darin, den Anblick unverbraucht zu genießen. Nicht zum ersten Mal, nicht zum letzten Mal, aber all die Male dazwischen, ohne abzustumpfen.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Genießen. Altersmilde? Ist Altersmilde erstrebenswert? Übermütig zu sein, das war schön. Damals. Aber jetzt noch, als ‚Greis‘? Überschwang. Ich war so gern überschwänglich! Wenn du merkst, dass du überschwänglich bist, bist du es schon nicht mehr so ganz. Du bist befangen. Unbefangen zu sein, bleibt wünschenswert. Naiv zu bleiben, nicht.
Fotos (7): Privatarchiv H. R.
Ich beobachte mich dabei, wie ich mich beobachte. Genauer gesagt: Ich beobachte mich dabei, wie ich dabei bin, zu beobachten, wie ich mich beobachte. Unendlichkeit. Zeit und Raum. Ich kann jede Sekunde begreifen, während sie vergeht. Ich kann jeden Gegenstand anfassen, der vor mir steht. Raum und Zeit. Unfassbar. Unbegreiflich. So ist das. Oder nicht?
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Das meiste läuft über die Augen: sehen, lesen. E-Books. Selbst zu neuen Musikaufnahmen gibt es ein ‚offizielles Video‘, um den Konsum anzukurbeln. Ich kann es mir wieder und wieder angucken. Im Video ist Wiederholung machbar, im Leben nicht. Niemals sind diese Gipfel, diese Wipfel gleich. Meine Eltern saßen hier, sie sind tot. Rimini, Venedig, Cagliari, Taormina, kein Ort war jetzt so, wie er damals gewesen war. Manches muss man hinnehmen, anderes nicht. Wann ist etwas Neues notwendig, wann muss es bei der Wiederholung bleiben? Das ist eine entscheidende Frage – in der Politik und in der Kunst. Konservativ, progressiv. Ohne Wiederholung keine Form, ohne Form keine Kunst.
Foto oben: CDU/Werbeagentur Dr. Hegemann GmbH/Wikimedia Commons, KAS/ACDP 10-001: 909 CC BY-SA 3.0 DE | Foto unten: Mduranme/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Etwas sehen, etwas hören, etwas fühlen. Zum ersten Mal, zum wiederholten Mal, zum letzten Mal. Zunächst einmal unterscheiden. Was ist dieses hier – und was ist das da? Dann entscheiden: Das hier ist gut oder schön oder wahr. Das da ist es nicht. Entscheiden. Was bedeutet es, etwas anderes zu sein als ein Stein, eine Pflanze, ein Tier? Laufen, Rennen, Gehen, Schleichen. Stehen, Sitzen, Liegen, unbeweglich vielleicht, und trotzdem noch suchen, immer weitersuchen und dabei wissen, dass man es vielleicht bis zur Etappe schaffen wird, aber dass man das Traumziel weder erreichen kann noch erreichen will (außer womöglich auf dem Sterbebett), das bedeutet Menschsein. Klingt zu simpel, um unmachbar zu scheinen, erst recht zu simpel, um als philosophisch durchzugehen. Wirklich? Dann leb es mal! Es ist sauschwer.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Immer in Bewegung bleiben, solange es geht? – Nein. Die ständige Bewegung gleicht ohne Unterbrechung dem Stillstand. Erst das Innehalten macht Bewegung erfahrbar. Über die Sinne, über das Hirn – oder über …
Es wäre schön zu wissen, wie Neurologie und Philosophie zusammenhängen. Vielleicht klappt das über die Sexualität. Der Gedanke an Sexualität führt mich wieder zurück zum Gedanken an Überschwang. Den soll Sex doch bewirken – wenn man Glück hat. Wenn man großes Glück hat, erreicht man sogar seine wildeste oder seine religiöseste Form: die Ekstase.
Fotos (2): Wikimedia Commons/gemeinfrei
Sehr zweckdienlich für die Freude an Ekstase ist es, während des Rausches strikt ausblenden zu können, dass solch ein Genuss extrem vergänglich ist. Überhaupt ist es ja in allen glücklichen Momenten hilfreich, sich dessen Kürze nicht auszumalen, während es andererseits in schlimmen Zeiten vorteilhaft ist, sich eisern daran zu erinnern, wie vorbei alles geht. Ob man allerdings so eine erstrebenswerte Vorgehensweise willentlich beeinflussen kann oder ob die mitgelieferten Gene oder die eigenerzeugten Leibessubstanzen uns diktieren, wie wir mit einem herrlichen oder mit einem entsetzlichen Erlebnis umzugehen haben, das wüsste ich doch gar zu gern! Warum eigentlich? Für Altertumsforscher ist Wissen, das sie nicht mehr beeinflussen können, ihr täglich Brot. Aber auch uns archäologisch Inkompetenten hilft Einsicht vielleicht dennoch dabei, das Unvermeidliche hinzunehmen, ohne aufzubegehren. Falls das nicht auch schon wieder die Scheißhormone steuern.
Foto: Forschungsstelle Asia Minor, Universität Münster/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Ein enger Freund von mir sagte, als er sich von seinem Partner trennte: „Ich bin nicht homouell. Sex spielt eine Rolle in meinem Leben.“ Klare Ansage. Auch ich bin da etwas eigen. Sex, ohne gewollt zu sein, liegt mir nicht, steht mir nicht. Er steht mir nicht. Das war schon immer so. Deshalb war Vergewaltigung oder Strich nie eine Option für mich. Ohne die Lust des Partners fehlt mir was. Das schließt seit vielen Jahren geteiltes Vergnügen aus, bewahrt mich aber vor ‚Dummheiten‘. Pornos sind natürlich möglich, und da ich mit meiner Neigung eher vor Altersheimen als vor Kindergärten stünde, kommt mir dabei auch nichts Verbotenes unter.
Foto oben: Bundesarchiv, Bild 183-31215-0003, CC BY-SA 3.0 DE | Foto unten: Magnussen, Friedrich (1914–1987)/Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, CC BY-SA 3.0 DE
Beim Betrachten von Pornografie muss man sich ja entscheiden: Will ich in Gedanken Teilnehmer(in) sein oder bleibe ich Beobachter(in)? Bleibe ich ich selbst oder versetze ich mich in eine der handelnden Personen? Beim schwulen und beim lesbischen Porno hat man/Frau sogar noch die Auswahl: Bin ich der/die – oder eher der/die? Sehr oft gefällt dem Beschauer allerdings der eine viel besser als der andere. Das ist sehr ärgerlich und nicht zu ändern. In Zukunft wird das natürlich anders sein. Da bekommt man digital jeden gewünschten Partner jeden Geschlechts zu sehen, zu riechen, zu fassen und zu schmecken. Sex und Kriege haben alle Entwicklungen finanziell und technisch immer schon stark beschleunigt. Ein Klischee? Männer mögen Porno, Frauen nicht. Ein Klischee?
Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei
Meine Mutter erzählte mir, dass bei einer Abendeinladung Ende der Fünfzigerjahre die Männer sich einig waren: Ein Mann braucht immer mal wieder ‚Nebenluft‘ – eine sexuelle Abwechslung. Frauen haben solche Bedürfnisse nicht. Sie sind einem Mann treu ergeben oder abartig. Das Seltsamste war: Die anwesenden Frauen stimmten zu. Meine Mutter fand es nicht sinnvoll, zu widersprechen, was sie sonst oft und gern tat. Nur mir sagte sie zwanzig Jahre später: „Die hatten alle keine Ahnung.“
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Ich selbst habe die Adenauer-Zeit nie als prüde empfunden, was womöglich daran lag, dass ich das Wort noch nicht kannte. Damals gab es vom Begriff her noch ‚Kaffeetanten‘ und ‚Damenlikör‘. Jetzt kenne ich nur Männer, die Süßes mögen, selbst wenn sie Heten sind, und Frauen, die sich nichts aus Nachtisch machen. Die Kerle werden halt immer weibischer und die Mädels immer ‚burschikoser‘. Damen werden herrisch, Herrschaften werden dämlich. Die Genderfrage beschäftigt allerdings die Volksparteien mehr als das Volk, und darum setzen regierende Linksliberale erst die Schwulenehe durch und lassen sich anschließend von den Mann-Frau-Verheirateten abwählen, damit reaktionäre Kraftmenschen das durchsetzen, was Stehengebliebene für Ordnung halten. Dann wandert die Pornografie wieder, wie es sich gehört, unter den (inzwischen virtuellen) Ladentisch, bleibt aber irgendwie noch im (Dark?) Netz – und überhaupt: So wie es niemals war, kann es nie wieder werden, auch wenn der Nationalismus und der starke Mann weltweit im Vormarsch sind. Regeln ersetzen Entscheidungen. Unbeantwortbare Fragen werden überflüssig. Na und? Was geht’s mich noch an? Was soll schon sein?
Foto oben: eisenbahner from Preston/Wikimedia Commons, CC BY 2.0 | Foto unten: Lukas Plewnia/www.polen-heute.de/Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0
Was sein soll? Gerade die Pornografie kann die Seinsfrage bestens klären: Ich bin geil, also bin ich. Ich lebe, durchdrungen von diesem schrillen Gefühl. Wäre es besser, nicht zu sein, also auf dieses Gefühl verzichten zu müssen? – Nein. Allerdings: Werde ich genauso denken, wenn ich große Angst oder große Schmerzen habe? – Nein. Kann ich mich also ernst nehmen? – Nein.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Kann ich die anderen ernst nehmen? Ach, die anderen! Ich habe viele Menschen gemocht, keinen gehasst und nur wenige geliebt. – Da kommen sie zurück, meine Lieben, von ihrem Ausflug. Von den Wipfeln, von den Gipfeln, aus den Boutiquen oder Cafés. Nun werden wir Gemeinsamkeit spielen – und wenn wir Glück haben, fühlen.
Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: HQuality (Auge), Cat Act Art (Hände)
Wenn Ekstase nicht vergänglich wäre würden wir sie wohl auch nicht als solche empfinden können. Andererseits, so eine Dauer-Ekstase wäre auf Dauer bestimmt auch ziemlich anstrengend.
Ekstase und Dauer schließen einander aus.Nur auf manieristischen Bildern wie „Die Verzückung der heiligen Sonstwas“ wird der Moment zur Ewigkeit.
Es ist sauschwer. Das passt auf das ganze Leben. Manchmal wunderbar, aber oft auch kaum zu ertragen.
Und doch fühlt man sich immer wieder mal sauwohl.
Oft sogar. Trotz all der Sorgen, die man so hat.
Diese japanischen Darastellungen von Sexualität haben mich schon immer beeindruckt. So explizit und doch gibt es da immer etwas Geheimnisvolles.
Anscheinend wurden diese pornografischen Gemälde auch nur unter der Hand verkauft. Wikipedia weiss da einiges interessantes:
Offiziell verboten waren Shunga bzw. Makura-e, wie sie am Ende der Edo-Zeit noch genannt wurden, bereits seit 1720. Von den Behörden wurden sie jedoch mit Ausnahme eines Zeitraums von 10 bis 15 Jahren nach 1720 und einiger Jahre nach den Kansei-Reformen (1788–93), wo dieses Verbot erneuert worden war, mehr oder weniger geduldet; ihr Verkauf „unter dem Ladentisch“ war möglich, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. 1869 wurden Warai-e und Enbon erneut verboten, zunächst aber weiterhin produziert und gekauft, wenn auch in geringerem Umfang als zuvor. Gegen Ende der Meiji-Zeit wurden um 1910 sowohl Herstellung und Vertrieb als auch der Besitz der inzwischen als obszön empfundenen Bilder unter Strafandrohung gestellt und dies auch staatlich konsequent umgesetzt. Daraufhin wurde ein Großteil des Materials vernichtet. Bis 1986 war es in Japan verboten, die „kritischen Stellen“ auf diesen Bildern in Büchern oder auf Ausstellungen zu zeigen. Erst 1994 kam es zur ersten unzensierten Shunga-Publikation im modernen Japan, aber die öffentliche Präsentation unterliegt weiterhin gewissen Einschränkungen.
Meine Lektorin hatte ‚die schlimmen Stellen‘ verpixelt. Ich habe gesagt, das fänden meine Leser, ja sogar Leserinnen! , komisch. Für facebook sei das aber notwendig, hieß es. Prüdes Netz! Bei Gustave Courbets „Der Ursprung der Welt “ kommt man da ja aus dem Verpixeln gar nicht mehr raus.
Facebook ist da ja tatsächlich sehr amerikanisch konservativ. Und der Algorithmus kennt zudem nicht mal den Unterschied zwischen Pornografie und Kunstgeschichte.
Ach das ist interessant, und neu für mich. Ich dachte bisher diese Darstellungen wären eine weit verbreitete und akzeptierte Sache in Japan.
Ohne die Lust des Partners fehlt mir was. Und ohne die eigene Lust fehlt mir auch etwas. Also Lust auf den anderen Menschen. Reine Triebbefriedigung kann man doch eh viel effektiver allein erledigen.
Die Berührung durch einen anderen Menschen kann die Masturbation aber auch nicht wirklich ersetzen…
In Corona-Zeiten bleibt die Berührung in der Familie. Sexuell ist aber leider die Fremdberührung aufregender.
In irgendeinem Zeitungsartikel las ich die Tage, dass die Anzahl der kurzen Fremdkontake zunimmt und die längeren abnehmen. Angeblich alles abzulesen an der Art der Geschlechtskrankheiten.
Gibt es nach dem ersten Mal andere Gonokokken als nach dem zehnten Mal?
Nee, aber anscheinend gibt es bei kurzen Kontakten eher Gonokokken und Chlamydien, bei intensiveren Kontakten vermehrt Syphillis. Ich bin aber zugegebenermaßen kein STD-Experte 😉
Von „Nebenluft“ habe ich so auch noch nicht gehört. Die Idee, dass Frauen da so völlig anders ticken als Männer, gibt es heute ab und zu auch noch. Aber das ist natürlich ziemlicher Quatsch.
Wie wir seit Marx wissen, ist die herrschende Moral die Moral der Herrschenden. Das waren früher fast immer Männer. Trotzdem war der französische Adel im 18.Jahrhundert nicht so kleinbürgerlich ehrpusselig wie das Bürgertum seit der Französischen Revolution.
Naiv sein funktioniert so lange, wie man in seiner naiven Blase sein kann. Sobald die Wirklichkeit anklopft muss man sich wohl oder übel mit ihr auseinandersetzen.
„Jede Naivität läuft Gefahr lächerlich zu werden, verdient es aber nicht; denn in jeder Naivität liegt unbedachtes Vertrauen und ein Beweis von Unschuld.“
Wenn an der Blase etwas anklopft, platzt sie meistens. Naivität als Beweis von Unschuld ist nett mit 15. Mit 50 ist nicht Unschuld, sondern Erkenntnis gefragt.
Das muss man wohl unterstreichen. Mit 50 kann man Unwissenheit nicht mehr mit Unschuld entschuldigen, vielmehr zählt das dann als Ignoranz.
Diese Idee ‚Gemeinsamkeit spielen‘ ist gar nicht so falsch. So fangen Freundschaften ja zumindest oft an. Manchmal bleiben sie eine Zeit lang auf dieser Ebene bestehen bevor man wieder auseinander driftet, manchmal (wie Sie schon schreiben mit Glück) stellt sich die Freundschaft sogar als stärkere Verbundenheit heraus.
Erzwingen kann man in diesem Bereich nichts. Erarbeiten vieles.
Wann ist etwas Neues notwendig, wann muss es bei der Wiederholung bleiben? Oft laufen diese Dinge ja in Wellen ab. Auf etwas Neues folgt die Wiederholung von bereits Bekanntem, auf die Wiederholung folgt die Erneuerung usw…
Manchmal kommt es darauf an, die kleinen Unterschiede in der Wiederholung wahrzunehmen. Aus ihnen wird vielleicht das Neue.
Solche Prozesse sind ja auch oft sehr langwierig. Da entsteht durch diese kleinen Veränderungen dann eine langfristige Veränderung der Dinge.
Die Genderfrage ist wirklich ein seltsames Thema. Ich finde grundsätzlich alles was Menschen in ihrer Persönlichkeit unterstützt, befreit und hilft richtig und wichtig. Aber bei diesem Thema habe ich auch immer ein wenig das Gefühl, das wir uns alle viel zu wichtig nehmen.
Ist es denn nicht so, dass es generell nur Veränderung gibt, weil sich eine kleine Gruppe wichtiger nimmt oder Themen wichtiger nimmt als es der Rest der Bevölkerung tut?
Sich selber oder ein Anliegen wichtig nehmen ist allerdings ein riesiger Unterschied.
Häufig ist das Anliegen eines Menschen er selbst.