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In der Blase  —   Süd nach Südwest

#47C – Wo man was macht

1974

Der Sizilien-Aufenthalt mit Harald war wie das halbherzige Aufwärmen einer übriggebliebenen Pizzahälfte. Als wir von Reggio Calabria nach Messina übergesetzt hatten, führte unser erster Weg ins nahe Taormina. Die Rocca war verwaist und verwildert. Der Ort am Berghang war verwinkelt und pittoresk geblieben. Das Teatro Greco mit Ätna-Blick war so, wie ich es in Erinnerung hatte und auch nicht überlaufener.

Im 3. Jahrhundert v. Chr. hatten die Griechen an dieser Stelle ein (Freiluft-)Theater errichtet. Im 2. Jahrhundert n. Chr. machten die Römer daraus eine Arena. Von da an fanden dort nur noch Gladiatoren- und Tierkämpfe statt1: von der Kultur zu den Sensationen. Klingt bekannt, nicht?

Fotos (3): Wikimedia Commons/gemeinfrei

Wer die Menschen gefügig haben will, der muss sie bei Laune halten, also belustigen. Wer die Menschen ändern will, belehren, bekehren, der muss ihnen Geschichten erzählen. Gleichnisse, Parabeln, Beispiele für ‚Gut‘ und für ‚Schlecht‘. Homer, Jesus, Churchill. Auch, wer bloß das Kauf- oder Wahlverhalten beeinflussen will, darf nicht mit Abhandlungen über ungesättigte Fettsäuren oder sozialphilosophische Ausgangsdefinitionen langweilen. Das Phrasendreschen ist sehr beliebt – bei den Rednern, nicht bei den Zuhörern. Für die Politik, für die Werbung, für die Kunst gilt: Man muss eine Geschichte erzählen. Daran sind die gescheitert, die mit der abstrakten Malerei und der nicht nachvollziehbaren Zwölftonmusik glaubten, die Menschen in ein Reich zu führen, in dem alle gleich sind: die Farben, die Töne, die Bürger. Gleichheit ist ein hohes Ziel, aber eigentlich will sie keiner. Vor Gericht – ja. Im Vorgarten schon nicht mehr, und in der Kleidung sowieso nicht. Wir lernen Theorien, weil wir müssen. Aber wir lernen aus Geschichten. Darum erzähle ich so viele. Den Faden verliere ich dabei nicht im Labyrinth der Worte. Mein Gebäude ist ziemlich stoßfest konstruiert. Der Betrachter muss ja nicht gleich jeden Balken sehen. Die Verkleidung des Gerüsts schaffe ich durch meine Assoziationen. Sie sind lang, aber kurzweilig – jedenfalls für mich.

Foto: JP WALLET/Shutterstock

Zeitsprünge sind inzwischen allen Zuschauern als dramaturgisches Mittel aus Filmen und Serien vertraut. Sie verwirren höchstens noch Menschen, die sowieso nichts verstehen: die Jungen, die nur noch in WhatsApp-Sätzen denken, und die Alten, an denen Netflix vorbeirauscht. Wer will so schon sein?! Allen anderen kann man den ständigen Wechsel von Raum und Zeit zumuten. Wenn sie trotzdem abschalten, hat der Regisseur eben Pech gehabt. Seine Kollegin auch. Die frühen Siebzigerjahre, um die es hier geht, sind eine Zwischenzeit. In meinem Schaffen. Ich fotografierte nicht mehr, und ich filmte noch nicht. Das tat ich erst ab Dezember ’74. Von 1975 an kann ich alles, was mir wichtig ist, auf digitalisiertem Super-8 belegen. Das, was vorher war, muss man mir glauben – oder es sein lassen.

Andere haben ja noch fotografiert. Also hier doch ein bisschen Album 1970 bis 1972.

Mit Kathrin, (als Trauzeuge)

Mit Tine, (als Faschingsprinz)

Mit Mutter und Großmutter

Mit Onkel und Tante

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Ich tue, was ich kann. Um etwas beschreiben zu können, muss man es erlebt haben. Oder man hat es sich ausgedacht. Das Publikum darf den Unterschied nicht merken. Dumm, wer sich selbst bloßstellt auf der Bühne. Alles offenlassen. So machen die ausgebufften Akteure das. Bloß ich, ich sage immer die Wahrheit. Wenn ich sie kenne.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Seit es geht, sammle ich. In meinem aufnahmewilligen Gedächtnis habe ich schon früh – sogar schon viele Jahre vor Taorminas längst nicht mehr bespieltem Theater – festgehalten, was zu jener fernen Zeit noch nicht sorglos digital der Ewigkeit überantwortet werden konnte.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Während der Betrachtung solch bedeutender Errungenschaften menschlichen Schaffens muss man sich natürlich die zynische Einschätzung anderer Andächtiger verkneifen. Ich ja nicht. Touristen, die in ihrem Reiseführer blättern, während sie vor Kunst stehen, finde ich etwas despektierlich. Polyglottchens. Ich habe mir, was ich wichtig fand, immer vorher angelesen: Schularbeiten macht man nachmittags zu Hause im Wohnzimmer, nicht vormittags in der Pause auf dem Klo, nach Möglichkeit. Wenn ich anschließend an reizvollen Stellen unterwegs war, habe ich mich nie mehr groß mit Reiseführern beschäftigt. Es sei denn, sie waren unwiderstehlich. Aber selbst dann geschah das nicht auf dem Klo – nach Möglichkeit.

Foto oben: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten: Maxx-Studio/Shutterstock

Ach, Kunst, Kitsch, Sex. Den Verstand mit schriller Körperlichkeit zu betrügen, ist unvernünftig schön. Mit Mitte zwanzig. Mit Mitte siebzig sollte man darüber hinausgewachsen sein. Wozu? Für Scheißweisheit? (Hat mir mein Computerprogramm nicht unterkringelt, das Wort!) Fucking Scheißweisheit! Wer sie erreicht, wird womöglich selig. Wer sie bloß anstrebt, womöglich nicht. Sieh dir den genialen Erfinder Nikola Tesla an, dem wir den Wechselstrom verdanken. Wie er loslegte, und wie er ablebte. Wer will das?

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei (nachträglich koloriert)

The last picture of Nikola Tesla, who died penniless and alone in 1943. from r/BeAmazed

Ich will ein anderes Ende. Zum Abschluss (erst mal bloß) dieses Beitrags noch mal zurück zum Anfang: Da kann ich noch ein Lied aus der Zeit meiner unbefleckten Körperlichkeit beitragen. 1968: 49 Jahre vor #MeToo. Als Beleg sozusagen. Es handelt von der Macho-Einschätzung einer kulturbemühten Frau durch ihren windigen Lover. Stimmt schon, mein eigener Körper war damals noch nicht geschändet. Meine Gedanken waren schon lange schändlich. Schädlich? Vielleicht, aber für mein #MeToo wurde es wirklich Zeit. Spätpubertäre Jungmänner probieren es erst mal bei Nutten. Ich fing gleich in der Hochfinanz an. Geordnete Bankangelegenheiten sind bis auf den heutigen Tag wichtig für meine gediegene Lebensführung geblieben. Effektive Effekten.

Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Material von Shutterstock: Roncsakj (alte Taschenuhr) Andy Gin (Mann mit gekreuzten Fingern)

‚SCHÖNE SEELE‘ – aus CD ‚Sehr‘, Vol. 3/strong>



Wer den Text dieses Liedes zu flapsig findet, kann sich am Klang meiner zur gleichen Zeit geschriebenen Cello-Sonate erfreuen.

Cellosonate, 1. Satz

29 Kommentare zu “#47C – Wo man was macht

  1. Gleichheit will wirklich niemand. Eher Gerechtigkeit und Fairness. Im Englischen klappt das mit der Gegenüberstellung Equity vs. Equality ziemlich gut.

    1. Selbst das will man ja auch dann nicht, wenn man für diese Gerechtigkeit selbst Opfer bringen muss. Da ist sich dann doch jeder selbst der Nächste.

      1. So zynisch läuft es aber doch leider ab. Warum sonst lässt man Flüchtlinge lieber auf dem Meer ertrinken als sie an Land zu holen?

      2. Weil man offenbar fürchtet, dass sonst noch mehr kommen. Das Boot ist voll und das Fass ohne Boden sind die passenden Metaphern dazu.

  2. Hahaha, Polyglottchens stehen in der Rangliste noch unter Ordinärchens? Die Informationen, die man in der Regel aus so einem Reiseführer bekommt, sind ja so spärlich, dass man da auch gut drauf verzichten kann.

    1. Ich finde die Dinger als Lektüre im Flugzeug schon ok, aber wenn man einmal vor Ort ist, dann sollte man sich doch mit der eigentlichen Sehenswürdigkeit beschäftigen, nicht mit zwei kurzen Absätzen von Marco Polo.

      1. Wenn man humanistisch und kunsthistorisch gebildet oben auf der Akropolis ankommt, kann man stolz aus seinem Erlernten schöpfen. Diejenigen, die sich erst oben um Einsicht bemühnen, mag ich nicht verteufeln. Der Unterschied zwischen anständig und mies bleibt immer noch wichtiger als der zwischen dorischen und ionischen Säulen.

    2. Heutzutage kann man doch viel leichter und vor allem viel mehr Infos bekommen wenn man schnell googelt oder sich durch Wikipedia liest. Ob vor der Reise oder während man vor der Sehenswürdigkeit steht. Da kommt kein noch so ausführlicher Reiseführer mit.

  3. Das Publikum darf den Unterschied natürlich nicht merken. Aber wenn eine Geschichte interessant genug ist, dann macht es wirklich keinen Unterschied ob sie zusätzlich wahr ist oder eben nicht.

    1. In der Unterhaltung ist das unbestritten wahr. Verlegt man die These in andere Bereiche des Lebens wird es aber schwieriger eine Unwahrheit als gleichwertige Option zu verkaufen.

      1. Menschen wollen nicht belogen werden. Sobald man erwischt wird ist also auch der Charme der falschen Geschcihte futsch.

      2. Es sei denn, man behauptet von Anfang an nicht, dass man die Wahrheit sagt. Paraber oder Satire sind gängige Ausreden, selbst dann noch, wenn man später erwischt wurde.

  4. Ach was, die Jugend denkt auch nicht nur in WhatsApp-Satzlänge. Früher hat man Telegramme geschrieben und konnte trotzdem ein ausführliches Gespräch führen, wenn sich die Gelegenheit dafür bot.

    1. Haha, nun Telegramme waren wohl kaum so verbreitet wie WhatsApp-Nachrichten. Und die Aufmerksamkeitsspanne ist heute ohne Frage kleiner als zur Telegramm-Zeit. Alles muss kurz und effektiv sein, sonst hat es keine Chance.

      1. Jaja, ich erlaube mir manchmal Verallgemeinerungen. Auch 18-Jährige können Bandwurmsätze bilden und verstehen. Aber immer weniger.

      2. Kurz und effektiv ist sicher richtig. Aber dass die Jugend heute dümmer ist, glaube ich nicht. Vielmehr ist es doch so, dass wir uns im Zeitalter der Digitalisierung immer mehr spezialisieren. Wir erden also in unserem Spezialgebiet immer besser, dafür leidet aber die Leistung in breiter gefächerten Gebieten. Beispiel: Man verlässt sich aufs Navi anstatt Karten zu studieren, weil man dadurch Zeit sparen kann.

      3. Das, was man früher Allgemeinbildung nannte, wird immer umstrittener. Universalität bleibt aber eine gute Entscheidungs- und Lebenshilfe.

  5. Muss man denn mit Mitte siebzig über die Körperlichkeit hinausgewachsen sein? Oder ist das nur das, was landläufig als angemessen von uns erwartet wird?

    1. Es geht ja um schrille Körperlichkeit als Gegenspieler zum Verstand. Wer es schafft beide in irgendeiner Form zusammenzubringen, der muss sich auch im Alter kein schlechtes Gewissen machen.

    1. Finde ich auch. Solange man nicht streng-gläubig ist, ist die Idee, dass Sex schändlich ist, doch vorbei. Die Kirche sollte sich da auch mal ein wenig bewegen. Den Menschen würde es helfen.

  6. Ich glaube Sie schätzen die Ziele der abstrakten Maler und der Zwölftonmusikkomponisten falsch ein. Jedenfalls mag ich persönlich abstrakte Malerei sehr. Wenn es zu konkret wird habe ich immer das Gefühl mir wird alles vorgekaut.

    1. Der Mensch versucht unwillkürlich, in Bilder etwas hineinzudeuten. Auch bei mir hängen ein paar abstrakte Gemälde. Aber die meisten sehe ich als pompöse oder mickrige Gardinenstoffe. Ich habe zwar noch alle Zähne, lasse mir aber gern von kompetenten Künstlern etwas vorkauen. An den Klang von Zwölftonmusik habe ich mich nie gewöhnt und habe das auch nicht mehr vor.

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