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In der Blase  —   Süd nach Südost

#13B – Exkurs: Antike (und) Anmache

Die Frage, wie kompatibel unsere eigenen Gedankengänge mit den Vorstellungen anderer Menschen sind, beschäftigt mich am Tag, wenn ich mir die Leute so betrachte, und erst recht bei Nacht, wenn ich nicht gerade schlafe oder mich Strandpartylärm vom Denkmodus in den Wutmodus zwingt. Wir verstehen einander bis zu einem gewissen Grade über Gesten und Blicke, besonders am Anfang, wenn wir bei jemandem positive Aufmerksamkeit erregen wollen. Bei etwas komplexeren Themen klappt die Verständigung besser über Worte, allerdings nur, wenn wir uns über deren Bedeutung einig sind.

Foto: Privatarchiv H. R.

Früher gab es eine Art Sprachregelung. Jetzt vielleicht auch, aber ich kenne sie nicht. Drei leicht karikierende Beispiele: Früher sagte man, wenn ein Mann dumm war, er habe ‚andere Qualitäten‘. Wenn eine Frau hässlich war, hieß es, sie sähe ‚apart‘ aus. Wenn ein Essen nur Salz und Essig war, nannte man das ‚herzhaft‘. Rücksichtsvoll oder verlogen? Mal so, mal so. Eine Wahrheit, die man ändern will, muss man benennen. Eine unabänderliche Wahrheit beschweigt man besser. Oder umgekehrt: Still agieren und erst darüber reden, wenn das Ziel erreicht ist. Schlimme Wahrheiten aussprechen, um die Betroffenen zur Vernunft zu bringen oder zu trösten. Für alle Vereinfacher: Meistens lässt sich das richtige Verhalten nur von Fall zu Fall entscheiden. Für alle Zauderer: Manchmal muss man durchgreifen. Dass eine falsche Entscheidung besser sei als gar keine, soll aus Kreta überliefert sein. Ich dachte, es sei von Clausewitz oder von mir. Aber warum nicht Kreta? Dort hatte ja schon Ariadne, die Tochter von König Minos, die geniale Idee mit dem Faden gehabt. So konnte Theseus den Minotaurus töten (PETA-Angehörige waren nicht zugegen). Der Minotaurus hatte irgendwo im für ihn gebauten Irrgarten rumgelungert und auf die nächste Mahlzeit gewartet: sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge.

Fotos (3): Wikimedia Commons/gemeinfrei

Theseus sorgte dafür, dass es für das Ungetüm nie wieder etwas zu essen gab. Ich will die Geschichte hier nicht von Anfang an erzählen, das wäre eine zu große Abschweifung von unserem Thema der Blasenbildung und Illusionszerstörung. Kurz erwähnen möchte ich jedoch, dass der Minotaurus ein Stiefsohn von König Minos war, darüber sprach man aber nicht. Minos’ Frau Pasiphaë mochte es wohl etwas größer, jedenfalls ließ sie sich ein hölzernes Gestell bauen, das mit Kuhhaut verkleidet war. Darin versteckte sie sich und tatsächlich – der Stier merkte den Unterschied nicht, sondern tat das, was Pasiphaë sich erhofft hatte. Prompt wurde die Beglückte schwanger und gebar den Minotaurus. Aber nun war der tot. Sein Mörder Theseus fand spielend heraus aus dem Labyrinth. Dazu brauchte er nur den Ariadne-Faden, den er auf dem Hinweg ausgerollt hatte, bis zum Ausgang zurückzuverfolgen.

Foto: stux/pixabay

Foto oben: Clker-Free-Vector-Images/Pixabay | Foto unten: rwgusev/Shutterstock

Minos war übrigens selber schuld an den Eigentümlichkeiten seiner Frau. Er hatte Poseidon erst um Hilfe gebeten und ihn dann betrogen. Der Meeresgott verhalf Minos zur Königswürde, wollte dafür aber das Erste geopfert bekommen, was dem Meer entsteigt. Das war überraschenderweise ein prachtvoller Stier. Der gefiel Minos dermaßen gut, dass er ihn heimlich zu seiner Herde packte und ein minderwertigeres Tier opferte. Merkte Poseidon natürlich und bestrafte Minos an der Stelle, an der es am meisten wehtut: an der Ergebenheit seiner Angetrauten. So, und nur so, wurde Pasiphaë sodomielüstern, nicht aus Veranlagung. Warum Poseidon so dringend den schönen starken Stier wollte, habe ich genauso wenig verstanden wie den Grund, warum Christengott den Menschen erst verzeihen wollte, nachdem sein Sohn genagelt war. Die sündigen Menschen. Ach Gott! Allwissend zu sein und obendrein noch dem Versuchstier Mensch Testaufgaben zu stellen, passt nicht gut zusammen. Erst erschaffen, dann freien Willen lassen und dann abstrafen. Was für komische Götter sich die Menschen schon immer ausgedacht haben! Na, meinetwegen. Aber Andersgläubige zu foltern und zu ermorden, das geht gar nicht. Ging aber auch schon immer.

Fotos (2): Wikimedia Commons/gemeinfrei

Theseus reiste nach seinem – eigentlich auch ihrem – Triumph mit Ariadne eine Weile durch die Gegend. Nach Hause drängte es Held Theseus erst mal nicht so bald. Dort, in Athen, wartete sein Vater Aigeus mit seiner Gemahlin Medea, Theseus’ Stiefmutter, erst mal ab. Medea war schon recht bekannt. Als ihr erster Gatte Jason, wie bei Herren fortgeschrittenen Alters üblich, mehr Lust auf eine Jüngere bekam, bekam nicht nur ihm das schlecht. Medea ermordete Nebenbuhlerin Glauke, deren Vater König Kreon, dazu noch die beiden Kinder, die sie mit Jason hatte – alles bloß, um dem untreuen Ehemann eins auszuwischen. Dann ging sie nach Athen und wurde die Gattin des Aigeus, also Theseusens Stiefmutter. Wer will zu solcher Verwandtschaft zurück? Theseus offenbar doch irgendwann. Vor lauter Freude auf Zuhause vergaß Theseus, das weiße Segel zu hissen. Das hatte er aber bei der Abreise versprochen. Papa Aigeus wartete am Kap Sounion, und als er das schwarze Segel sah, glaubte er, sein Sohn sei tot und stürzte sich etwas vorschnell ins Meer, das seither Ägäis heißt. – Quatsch? Nicht viel unglaubwürdiger, als von einer Jungfrau geboren zu werden, Gott zum leiblichen Vater zu haben und nach der eigenen Hinrichtung das Grab ungerührt wieder zu verlassen. Klingt tröstlicher, aber nicht wahrscheinlicher. Menschen, die etwas nicht verstehen, erfinden die seltsamsten Erklärungen, um unbegreifliche Phänomene irgendwie einzuordnen. Dabei wissen wir durchaus: Götter und Politiker handeln immer wieder unverständlich. Sie können korrupt sein oder feige oder gierig. Aber auch edel, mutig und wegweisend.

Foto oben: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten: sondem/Shutterstock

Eine gemeinsame Sprachregelung. Sicher gibt es sie noch oder wieder. Nur die neuen Chiffren sind nicht mehr meine. Öffentlich statt ‚geil‘ ‚zauberhaft‘ zu sagen, zöge bestimmt Abzocken auf der Straße und Mobbing in der Schule nach sich. Opfer. Ich bewege mich weder in der Schule noch auf der Straße, und als ich es damals tat, habe ich argumentiert oder die Straßenseite gewechselt. Instinktsicher richtig gehandelt. Kein Opfer! Heute hätte ich in Problemvierteln lieber eine heiße Knarre als ein loses Maul. Fände ich sicherer. Ich verstehe die Assoziationen und Ablacher der Fünfzehnjährigen nicht und sie meine auch nicht. Unsere Blasen gleiten nebeneinander her, und dass sie einander nicht behindern, ist wohl schon das Äußerste, was wir voneinander erwarten können.

Foto: Tùng Nguyễn/Pixabay | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Dean Drobot (Mann mit Sprechblase), Boumen Japet (Buch)

32 Kommentare zu “#13B – Exkurs: Antike (und) Anmache

  1. No Front Digger, aber du bistn kleiner Covidiot. (Wahrscheinlich redet entgegen den Jugendwörtern des Jahres trotzdem kein junger Mensch so.)

  2. Es wird einem wieder bewusst, dass in den griechischen Sagen eigentlich schon alles drin steckt, was in einer guten Geschichte nur so stecken kann. Da kann fast keine Soap, Sitcom, Dramedy, TV-Schicker, Kino-Thriller mithalten.

    1. Dementsprechend wird da ja auch viel geräubert und wiederverwertet. Heute nennt man das Remake. Oder Neuinterpretation.

      1. Die Geschichte von Theseus und dem Minotaurus wurde 2011 ja tatsächlich erst als Hollywood-Großproduktion verwurstelt: Immortals hieß das, und John Hurt und Mickey Rourke waren auch dabei.

      2. Klar, die alten Sagen sind eine riesige Fundgrube. Gerade fürs Filmemachen. Und zwar durch alle Jahrzehnte. Da gabs schon Pasolinis Oedipus Rex, Lars von Triers Medea, und heute gibt es eben die Clash of the Titans Actionspektakel.

  3. Ganz genau, die Verständigung über Worte klappt nur, wenn wir uns über deren Bedeutung einig sind. Man muss also im übertragenen Sinne die selbe Sprache sprechen. Und selbst dann bleibt beim Bau der Sätze und nicht zuletzt bei der Intonation noch einiges an Interpretationsspielraum.

      1. Neulich sah ich auf Youtube ein Interview mit einem amerikanischen Philosophen mit Schwerpunkt Epistemologie. Sein Rat zur Corona-Krise und der ständigen Online-Diskussion war: erst einmal jeden einzelnen Begriff, der einem nicht zu hundert Prozent geläufig ist, nachschlagen bevor man ihn selbst in der Diskussion benutzt. Sollte man viel häufiger machen.

      2. Das sollte ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber die Erinnerung ist schon gut.

    1. Die schweren Fragen des Lebens. Wenn das Gegenüber nicht mit der eigenen Analyse übereinstimmt wird es ggf. nochmal eine Runde schwerer.

  4. Also die Geburtsgeschichte des Minotaurus muss ich gleich noch einmal nachlesen. Die Kuhgestellnummer habe ich nämlich noch nie gehört. Abgefahren. Aber in diesen Sagen darf einen eigentlich gar nichts überraschen.

    1. Die Stierliebhaberin brauchte das Gestell, obwohl sie zaubern konnte. Ihrem Gatten Minos gönnte sie nichts. Wenn er sich eine andere nahm, hexte Pasiphaë, und er ejakulierte Schlangen, Skorpione und Tausendfüßler. So macht einen die eigene Frau zum Masturbanten!

      1. Unappetitlich funktioniert immer. Aber auf die anderen Geschichten darf man trotzdem gespannt sein 😉

    1. Davon gibts doch unendlich viele: die Generationenblase, die Industrienationenblase, die Mittelschichtblase, die Straight-White-Man-Blase, und und und…

  5. Haha, viele Sachen, die gar nicht gehen, gingen wohl wirklich schon immer. Und da fragt man sich dann wer beim Gott-Ausdenken diese Plotholes fabriziert hat bzw. warum das niemandem auffällt.

    1. Die sündigen Menschen. Ob Gott sich die ausgedacht hat um immer gut unterhalten zu sein? Oder ob doch wie im Text angedacht der Mensch sich die Götter ausdenkt um … ja warum eigentlich genau?!

      1. Um uns das Unerklärliche zu erklären, statt es zu erforschen oder zu akzeptieren. Wir wollen Gewissheit. Lügen reichen, solange wir es nicht merken. Dabei: Wer auf alles eine Antwort hat, ist nicht klug, sondern dumm.

  6. Schon richtig, unglaubwürdiger als eine Jungfrauengeburt sind die alten Geschichten aus der griechischen Mythologie auch nicht. Obendrein gibt es beim Lesen wohl nirgendwo mehr Drama und Tragödie.

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