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In der Blase  —   Süd nach Südost

#6 – Ohne Blick auf den Dom

Wir fuhren zum Mittagessen in das Restaurant am hinteren Rand der Piazzale Michelangelo: ‚La Loggia‘. Von dessen erhöhter Terrasse aus kann man, am monumentalen David vorbei, ganz Florenz in die Toskana-Hügel eingebettet liegen sehen. Solche Ausflugspunkte warten ja häufig nur mit Pizzerien und McDonaldissimos auf, und so war es immer schon meine Sehnsucht gewesen, dieses erstklassige Lokal an berühmter Stelle zu besuchen. Nun endlich.

Etwas enttäuscht war ich, dass wir trotz telefonischer Vorbestellung keinen Platz direkt an der Balustrade zugewiesen bekamen, sondern einen in der zweiten Reihe, ohne Blick auf den Dom. Macht doch nichts, ist ja sehr schön hier, redete ich mir ein und sah in die andere Richtung auf den imposanten Dolce-Wagen. Aber der Ärger kribbelte unbeirrbar wie Ameisen an mir hoch.

Diese Leute da haben bestimmt nicht vorbestellt, sind einfach gekommen und sitzen da vorn. Wie sehen die überhaupt aus? Ein auf die uninteressanteste Art der Welt hässliches Ehepaar mit fettlicher Tochter, stumpfe Blicke, absurd bekleidet, leere Coca-Cola-Flaschen vor sich auf dem Tisch. Die Ameisen fingen an, doppelte Geschwindigkeit vorzulegen. Der Mann rief: „Zahlen!“

Meine Hoffnung und meine Verachtung wuchsen, dem Kellner wurde bedeutet, dass wir, nachdem die Herrschaften gegangen wären, an deren Tisch überwechseln wollten. Entsprechend schnell erhielten Ordinärchens ihre Rechnung. Die wurde nun aber bestaunt, als sei sie in eine babylonische Papyrusrolle eingemeißelt; sie wurde gewendet, hin- und hergereicht, die Hieroglyphen wurden mühsam diskutiert, ihre Bedeutung angezweifelt, der Ober wurde wie der Museumsdirektor einer Antikensammlung um Erläuterung gebeten, dann wurde beratschlagt und schließlich ein Portemonnaie aus der Knautschtasche der Frau gezogen, dem Mann rübergereicht, der es öffnete und dann sehr zögerlich daraus etwas entnahm, wovon er sich wohl mehrfach zu vergewissern suchte, dass es sich um Geldscheine handelte.

Inzwischen standen meine Füße in zwei verödeten Haufen, die Bewohnerinnen krabbelten alle mit großer Schnelligkeit meinen Körper entlang. Rüdiger und Giuseppe konnten sich endlich mal nett unterhalten, ich war zu angespannt, um ihrem Gespräch zu folgen. Doch das Schlimmste sollte noch kommen, denn nun gingen die drei Personen, eine nach der anderen, bedächtigen Schritts zur Toilette.

Während die Ameisen sich zu wüsten Orgien gesammelt hatten, bei denen sie kleine Eisenpartikel zum Glühen brachten, war der einzig klare Gedanke, den ich in meiner Raserei fassen konnte, der: Diese Leute hatten nach vierwöchiger Verstopfung heute Morgen ein Abführmittel eingenommen und schissen jetzt hintereinander die Exkremente von 30 Tagen aus. Eine piepsige Stimme in mir sagte: „Ist doch schön für diese Menschen, hier auch mal einen unvergesslichen Mittag zu verleben.“ Sie wurde augenblicklich eingeäschert und in alle Winde zerstreut.

Foto: piqsels/Public Domain, CC0 1.0

Als die Fäkalien-Familie endlich abschob, in gleichgültiger Langsamkeit, mit griesgrämigen Gesichtern, ohne einen Abschiedsblick auf das Panorama und ohne eine Ahnung, dass sie nur knapp einem Vulkanausbruch entronnen war, da gab es mich nur noch als weiß glühende Lichtgestalt. „Wir können rüber“, sagte Rüdiger sachlich. Ich folgte wie benommen. Am neuen Platz kühlte ich aber schnell ab, denn es zog wie verrückt. Ich verbot mir jede Sehnsucht nach dem wunderbar geschützten Tisch, den wir soeben verlassen hatten, und zog meinen Pullover an. „Es ist etwas windig hier“, sagte Rüdiger, „wollen wir doch lieber wieder zurückgehen?“ – „Nein“, antwortete ich und schlug den Hemdkragen hoch, „daran gewöhnt man sich.“ Bevor ich in die Speisekarte guckte, sah ich, um die Vorfreude zu verlängern, auf den Riesenfuß des David zu meiner linken Seite, hinter dem ich im warmen Dunst den Dom vermutete. Ich glaube, es hatte nichts mit Gewöhnung zu tun, der Wind legte sich wirklich zum Mittagsschlaf, und wir hatten zwei traumhafte Stunden mit gutem Essen und lebhaftem Gespräch, für mich der schönste Abschnitt der Reise. Landschaft, Freundschaft, Gastwirtschaft – das ist doch der Roland auf Erden.

Es gibt so vieles, über das es sich nachzudenken lohnt, um sich zu beschäftigen oder der Menschheit zu helfen. Ach, immer diese Zynismen. Ich muss endlich anfangen, nicht nur die Äußerlichkeiten zu sehen, sondern den Dingen auf den Grund zu gehen. Dafür fand ich schon während der Vorspeise ein Beispiel, das Rüdiger verblüffte, als ich ihn fragte: „Glaubst du, dass es etwas zu bedeuten hat, dass die Vornamen unserer Promotion-Leute in England, Spanien und Italien genau dreimal so viele Buchstaben haben wie die Namen unserer Labelvertreter in Skandinavien? Isabella, Assuntino, Ornella – macht vierundzwanzig. Gry, Ole, Bo – macht acht Buchstaben.“ Ich glaube, Rüdiger findet meine Denkweise eigentümlich. Andere lehnen sie schlicht ab. Dabei besteht meine einzige Überlebenschance darin, experimentelles, spielerisches (?), kindisches (??) Denken zuzulassen. Es gibt keinen besseren Trost, keine größere Hoffnung, als zu denken. Rolands Tod. Wenn das passieren konnte, dann ist auf nichts mehr Verlass, auf gar nichts mehr. Bis – vielleicht – auf das Denken.

Wertfrei denken: albern, brutal, edel – egal, allen Gedanken ihren Lauf lassen und erst danach einteilen und gewichten. Lauflassen, bis man drückend die Verantwortung spürt, dass auf der Kirchentreppe jemand steht und wartet, verständnislos vielleicht, besorgt bestimmt, wartet und Ausschau hält. Folge ich dem Nichtgott durch die Gassen mit ungewissem Ausgang oder kehre ich zurück in die – ein wenig entmutigende – Gewissheit von Geborgensein? Kann man aus Rücksichtnahme am Leben bleiben? Kann man – bei meinem Bewusstseinsstand – um eines Kicks willen in den Tod gehen?

Foto: Privatarchiv H. R.

Südländische Namen sind länger als nordische: Assuntino – Bo. Der einsilbige Norden, der schwatzhafte Süden. Die Sonne – Wärme und Licht – prägt. Man denkt, was man sieht. Man ist, wie man denkt. Die Gene, die Gegend. Gibt es einen Volkscharakter? Gibt es bewunderns- oder verachtenswerte Eigenschaften eines Volkscharakters? Gibt es einleuchtende Begründungen für Rassenhass? Merkmale des Ganzen, auszubaden vom Einzelnen bis hin zum Ertrinken. Die, die mich mögen (hoffentlich die), erzählen mir, dass im Büro die, die mich nicht mögen, jetzt ein paar Phon zulegen in dem, was sie erzählen. Schade, dass ich nur so nebenbei beobachte. Gut, dass mein Nebenbei so gute Antennen hat.

Foto: Privatarchiv H. R.

Wer die Macht verliert, verliert die Zustimmung, auch dann, wenn er die Macht freiwillig abgibt. Sie freiwillig abzugeben, ist sogar noch schlimmer, denn dann ist dem Scheidenden ja nicht mal der Mitleidsbonus sicher, sondern nur der Missgunstabzug gewiss. Wenn es ihm, so reduziert, noch nicht mal schlechter geht als vorher, ist alle Sympathie dahin. Gott sei Dank nur die Sympathie derer, auf die es nicht ankommt, wenn man in anderen als in Machtkategorien denkt. Aber, seltsame Gerechtigkeit, selbst wer unfreiwillig geht, kann die, die sich vorher nicht trauten, was sie lange schon wollten, auf ähnliche Höhenflüge hieven wie der beneidete Selbstentschlossene. Doch welche Bedeutung haben diese Leichenfledderer für wen?

Foto: Privatarchiv H. R.

Es stimmt, die Geschichte wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, aber innerhalb dieser Verhältnisse und vor allem heraus aus diesen Verhältnissen geschieht, was geschieht, nicht zufällig oder folgerichtig, sondern durch die Persönlichkeit derjenigen, die handeln. Hitler, Stalin, Mao waren zum falschen Moment am richtigen Ort, und Millionen Be- oder Entgeisterter mussten es ausbaden. Handeln findet auch auf dem Papier statt. Manche federfeine Unterschrift hat mehr bewirkt als säbelfuchtelnde Taten. – Hier breche ich ab mit dem, was ich alles so dachte, während Rüdiger sich über meinen Buchstabenvergleich der Vornamen wunderte.

Foto: Privatarchiv H. R.

Dann kamen nacheinander das Hauptgericht, der Nachmittag und der Nachtisch: Harmonie der alkoholisierten Cremeschichten, Harmonie der alkoholisierten Gefühle. Ach, ich liebe es, draußen zu essen, und ich liebe es, viel, viel zu trinken, damit ich lange pissen muss; denn dann brauche ich mir hinterher die Hände nicht zu waschen, ohne dass die anderen am Tisch, wenn ich zurückkomme, denken: ‚Er war nur so kurz weg, bestimmt hat er sich die Hände nicht gewaschen.‘

Foto: liewluck/Shutterstock

Es war ja eigentlich vorauszusehen, dass an einem so exponierten Platz wie diesem eine Kirche stehen und hochnäsig mit der Tatsache aufwarten würde, dass sie schon mehrere Jahrhunderte vor dem Lokal dort gewesen war. Nachdem wir, von Giuseppe einfühlsam geleitet, San Miniato besichtigt hatten (80 Stufen!), geleitete er uns ebenso einfühlsam durch den Feierabendverkehr zum Flugplatz.

Über den Alpen las ich in der ‚Süddeutschen Zeitung‘: ‚In Deutschland waren zum Stichtag 31. August dieses Jahres beim Aids-Zentrum des Bundesgesundheitsamtes in Berlin 8 763 Fälle der Immunschwächekrankheit gemeldet.‘ Mehr als die Hälfte der registrierten Aids-Kranken, nämlich 4 508 seien inzwischen verstorben. Belanglose Zahlen, nicht mal hohe Zahlen. Ich bin doch gern was Besonderes. Warum kann ich es nicht fassen, dass ich hier, nur (un)mittelbar beteiligt, innerhalb einer Minderheit zugrunde gehe?

Foto: voy ager/Shutterstock

Ein halbes Jahr, nachdem ich diesen Text geschrieben hatte, war ich aus dem Berufsleben ausgeschieden. Heute, zu Ostern 2020, da alle bangend die Corona-Zahlen verfolgen, und die meisten sich von diesen Zahlen verfolgen lassen, fühle ich mich unverwundbar, obwohl ich zu den Risikogruppen der Alten und der Vorgeschädigten gehöre. Abgehärtet. Also ungebunden wie damals nach meiner Kündigung? Ach nein, angebunden an meinen versagenden Körper und angebunden durch die uns allen auferlegten Einschränkungen. Damals, vor genau siebenundzwanzig Jahren (kaum zu glauben!), dachte ich: „Frei!“ – Ich bin frei! Was heißt das? Viele Ideen. Eine davon – eine Wohnung am Arnoufer zu nehmen, um fließend Italienisch zu lernen und den Florentinern beizubringen, was ein guter Liebhaber ist. Hat nicht geklappt. Vielleicht besser so. Vielleicht, vielleicht.

Fotos (4): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Material von Shutterstock: ChiccoDodiFC (Dom) und Syda Productions (nachdenklicher Mann)

27 Kommentare zu “#6 – Ohne Blick auf den Dom

  1. Dass man sich jeden Tag aufs Neue von den aktuellsten Corona-Zahlen treiben lässt verstehe ich kaum. Was haben diese Statistiken denn für eine unmittelbare Auswirkung auf unseren Alltag?

    1. Die in den Medien beschriebene Angst und Ungeduld der Deutschen kann ich nicht verstehen. In Frankreich, Italien, Spanien sind die Einschränkungen krasser. Wieviele Menschen leben jahrelang – schuldig oder unschuldig – in Gefängnissen und Lagern. Ihr Klopapier ist bestimmt nicht blütenzart.

      1. Ich verstehe den mittlerweile konstanten Aufschrei auch nicht. Ein paar Wochen zuhause zu bleiben kann doch für die meisten von uns wirklich nicht so schlimm sein. Es gibt deswegen noch lange keinen Überwachungsstaat in Deutschland. Und in Depression verfällt man deswegen auch nicht direkt.

      2. So verallgemeinert kann man das auch nicht sehen. Wer alleinerziehend mit drei kleinen Kindern im Home Office sitzt hat es sicherlich nicht so einfach. Wer auch ohne Corona an Depressionen oder häuslicher Gewalt leidet ebenso nicht. Wenn es natürlich nur darum geht wann man wieder mit der besten Freundin einen Matcha Latte trinken kann, dann ist der Aufschrei über die Grenze zur Diktatur natürlich idiotisch.

      3. Lassen Sie uns einfach abwarten, wie sich die Situation weiter entwickelt. Dann reden wir weiter…

    1. Ich kannte bisher nur die amerikanischen Simpletons, aber die Ordinärchens nehme ich auch in mein Repertoire auf. LOL

  2. Schon witzig, dass man sich mit der zweiten Reihe selten zufrieden gibt, nicht? Da kann das Restaurant noch so gut sein, wenn man sieht, dass man es noch etwas besser haben könnte, will man das meistens auch.

    1. Zufriedenheit ist der Stein der Weisen, der alles in Gold verwandelt das er berührt. Sagte Benjamin Franklin. So funktioniert das aber wohl auch nur in der Theorie.

  3. Viele Ausflugspunkte bzw. deren Umgebung sind in der Tat völlig lieblos. Fürs schnelle Geld macht das wahrscheinlich Sinn, aber manchmal wundert man sich schon wenn man diese berühmten Plätze zum ersten Mal sieht.

    1. Das Restaurant im Garten von Versailles ist herrlich, aber teuer. „Schön“ und „Billig“ sind leider keine Schwestern. Bei der Moskauer U-Bahn ist es von Stalin versucht worden: Pracht fürs Volk. Pomp und schlechter Geschmack sind leider Brüder.

      1. Die Moskauer U-Bahn-Stationen finde ich gar nicht so schlecht. Hübscher als anderswo jedenfalls. Dass man neben vielen Sehenswürdigkeiten aber ausschließlich Tourifallen finden kann, ist aber doch ärgerlich.

    2. Überlaufene Luxus-Restaurants würden ebenfalls nicht funktionieren. So geht man halt zwei drei Nebenstraßen weiter wenn man den Touristen entkommen will. Meist will man doch eh nicht mit der kompletten Menschenmasse speisen…

  4. Gibt es einen Volkscharakter? Hmm, Menschen beeinflussen sich. Gemeinsame Vergangenheit, Bräuche, Lebensweisen prägen da ohne Frage. Aber am Ende sind wir uns auch alle ähnlicher als wir denken.

    1. Auf dieses Thema gehe ich immer wieder ein. Es beschäftigt mich. Skandinavier sind im allgemeinen wirklich anders als Griechen. Nicht nur wegen Aquavit oder Ouso.Die Völker mit semitischenWurzeln (Israelis, Palestinenser) halten sich für sehr unterschiedlich. Ein bisschen kommt es mir vor wie beim Horoskop: Jeder findet in seinem Sternzeichen irgendetwas, was auf ihn / sie zutrifft.

      1. Der Horoskop-Vergleich kommt der Wahrheit bestimmt recht nahe. Die einen sind völlig von ihrer Verbundenheit zu „ihrem“ Land und den den darin lebenden Menschen überzeugt. Die anderen fühlen sich daheim eigentlich gar nicht zugehörig. Die eine Wahrheit gibt es bestimmt gar nicht.

      2. Dass eine künstlich generierte Grenze die Menschen unterschiedlich machen soll ist Quatsch. Die Idee, dass wir alle gleich sind, ebenso.

  5. Stimmt die These „Wer die Macht verliert, verliert die Zustimmung“ wirklich? Trotz der Umkehrpolitik Donald Trumps in den USA ist Obama beispielsweise immer noch ein wahnsinnig beliebter und einflussreicher Politiker.

  6. …habe die Hl. Corona, die Schutzpatronin der Seuchen, um Hilfe gebeten, mal sehen ob sie Wort hält. Auf die Heiligen ist auch kein Verlass, auch nicht auf dem Papst und seinem Gefolge. Selbst seine oberste Göttlichkeit verwickelt sich in Widersprüche….
    …ist dies Wahnsinn, so hat es doch Methode…

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