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In der Blase  —   Süd nach Südwest

#44B – Wahrheiten und Lügen

Das Außerordentliche ist – für Ordnungshüter leider – erstrebenswerter und zielführender als das Ordentliche: in Wissenschaft, Kunst, Leben. Schade bloß, dass 90 Prozent der Ausbrüche einbrechen. 10 Prozent haben Bestand – stimmt das? Ist das viel? Lieber will ich unrecht haben als schweigen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Stimmt, mit dieser Einstellung kam ich mir immer ein bisschen wie ein Außenseiter vor und habe es mir in dieser Rolle masochistisch-tapfer bequem gemacht. Erst jetzt gestehe ich mir ein: War ich gar nicht. Nie.

Foto: Privatarchiv H. R.

Seit ich denken kann, hatte ich Freunde. Nicht Follower, sondern Freunde. Ein Volkstribun war ich nie: zu wenig sendungsbewusst? – Nein, aber zu wenig marktschreierisch. Im Grunewald, in der noblen Berliner Ruinengegend, ging es 1950 gleich los mit Günter Sauer. Er war der Sohn der Nachbarn, genauer gesagt, der Sohn von deren Gärtner. Feine Haushalte hatten für solche Bedienstete früher eine eigene Dependance. Der Nachbarhaushalt war nicht mehr fein, sondern zu einem Behelfskrankenhaus umfunktioniert worden, die ‚Nachbarn‘ gab es also gar nicht mehr, aber Sträucher und Beete gab es nach wie vor genug, um die tägliche Beschäftigung eines Gärtners zu rechtfertigen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

An Günter Sauer erlernte ich von meiner Mutter die Vokabel ‚heimtückisch‘. Das bezog sie überwiegend auf seinen Blick, aber sie mochte vieles an ihm nicht. Mit Günter und Eberhard von gegenüber bohrten wir einander unter den Büschen mit nicht allzu dicke Stöckchen nicht allzu tief in unsere Harnröhren, was mir sehr gut gefiel.

Foto: Privatarchiv H. R.

Neben unserer zurechtgeflickten Villa am Koenigssee lag deren Dach: als Schutthaufen. Ein fabelhafter Spielplatz. Um die Besteigung zu krönen, pinkelte Günter mir gern mal ins Ohr. Das mochte ich auch sehr. Darum bin ich ja auch so musikalisch geworden. Meiner Mutter fehlte für solche Finessen jedes Verständnis. Sie verkuppelte mich deshalb gleich am ersten Schultag, noch mit Tüte in der Hand, mit Detlev Fuhrmann. Seiner Mutter gehörte ein Lampengeschäft am Kurfürstendamm, insofern fand ich es passend, dass sie ‚Hella‘ hieß. Detlev wurde mein bester Freund, obwohl oder weil er alles das war, was ich nicht war: mutig, kräftig und schlecht in der Schule. Ich war mit meinen fünf Jahren der Jüngste, er der Draufgängerischste in der Klasse. Wenn mir jemand zu nahe trat, prügelte er sich für mich. So habe ich es niemals gelernt, selber zu kämpfen. Mit den Fäusten. Ich brauchte immer den Verstand dazu, was auf lange Sicht sogar sicherer war.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Häufig spielten wir im leuchtend grünen Schilf auf unserem nach Teer duftenden Holzsteg. Detlev fiel ins Wasser, ich nicht. Er war eben unternehmungslustiger, ich überlebensfähiger. Dennoch war ich es, der unbedingt mit ihm auf einem selbstgebastelten Floß auf dieses Wasser hinauswollte, weil Gott mir versprochen hatte, er würde uns in der Mitte des Sees zu sich nehmen. Ärgerlicherweise hatte Gott aber Detlev gesagt, ich müsse erst eine Handvoll Dung essen, es sich aber, nachdem ich das getan hatte, doch anders überlegt, mich erst noch einen Regenwurm essen lassen und dann Detlev gebeten, wir sollten an Land bleiben. Allerdings war Gott nicht immer so fürsorglich. Als Detlev eine im Grunewald liegen gebliebene Bombe fand, behämmerte er sie, bis sie explodierte. Erst verlor er sein Augenlicht, dann an den Spätfolgen sein Leben. Da waren wir schon nach Hamburg gezogen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Hier lebten wir in unserer Doppelhaushälfte mit den streng katholischen Wiemans zusammen. Monilies ist drei Jahre älter als ich, Kathrin zwei Jahre jünger. Zwischendurch kam für fünf Jahre noch die kokette Cousine Evelyn aus Venezuela. Da war ich von 1953 bis 1967 gut versorgt, glaubens- und spielmäßig. Die anderen katholischen Töchter der Elbvororte bekam ich gleich mitgeliefert. Mädchen gefiel mein ‚Café zur schönen Aussicht‘ zwischen den Birnbaumzweigen im Allgemeinen sowieso besser als Jungen, die lieber unten Fußball spielten und dabei den Blumenbeeten zusetzten.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Trotzdem hatte ich genügend Freunde, vor allem Horstl, und ich war überhaupt beliebt in der Klasse, weil ich komisch war. Meine Ausgefallenheit störte nicht. Dass mich meine Eltern im Matrosenanzug zu Geburtstagen schickten und mit Kniebundlederhose in die Schule, wurde eher bestaunt als belacht.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Im Gymnasium war es dagegen erst mal schlimm. Gemobbt wurde ich nicht in meiner Jungenklasse, aber Nazi-Pauker statt netter Lehrerinnen – das war gar nichts für mich Weiberhelden.

Foto: Privatarchiv H. R.

Später wurde es erträglicher und die Lehrer waren jünger. Thomas war mein bester Freund, aber auch mein schärfster Konkurrent. Schon damals war ich höchst ungern Zweiter.

Vom Abitur bis 1975 war dann Harald mein bester Freund.

Foto: Privatarchiv H. R.

Im Büro kam Pali dazu.

Foto: Privatarchiv H. R.

Da war ich, glaube ich, auch ziemlich beliebt, vor allem bei meinen Vorgesetzten. Ich war fleißig und ehrgeizig. Die, die weniger schnell Karriere machten als ich, sahen das womöglich anders.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Egal. 1975 geschah mir Roland.

Foto: Privatarchiv H. R.

Von da an hatten wir meine Freunde und seine Freunde und lernten gemeinsam neue Freunde kennen. Wie groß mein Freundeskreis ist, merke ich daran, dass dauernd jemand Geburtstag hat. Silke, die mich umsorgt, erinnert mich daran, und dann versuche ich mich jedes Mal an einem möglichst originellen Glückwunsch.

Foto/Montage: Privatarchiv H. R.

Auf Veranstaltungen gehe ich nicht mehr gern, weil ich nicht mehr gern gehe – eine Melange aus Nichtkönnen und Nichtwollen. Das Alter, das Gebrechen? Es kommt ja jede Nachricht, jede Ablenkung, jede Speise zu mir nach Hause – virtuell und real. Der öffentliche Raum ist bei ausgeschaltetem Handy intimer als mein reizüberflutetes Heim. Wie sehr brauchen wir einander? Wie sehr brauche ich die anderen? Und wofür? Gerede über den Zustand unserer Welt? Das finde ich als Partydroge oder als Small Talk überflüssig. Getränke, besonders alkoholische? Die, finde ich, führen bloß zu einer erschummelten Aufgekratztheit, und ich finde sie sowieso mengenweise im eigenen Kühlschrank. Fingerfood essen im Stehen? Das finde ich so unpraktisch wie ‚Die Zeit‘ lesen im Liegen. Tanzen? Am Krückstock? Wozu also weggehen? Auf meinen Reisen bin ich unterwegs, auch zu den Menschen. Wenn ich nicht auf Reisen bin, bin ich ungesellig (geworden).

Trotzdem bin ich treu. Nur zwei Freundschaften sind zerbrochen, aber nicht ich war derjenige, der sie gekündigt hat. Ein hochkomplizierter Mann und eine hochkomplizierte Frau. Sowas würde ich doch nicht abstoßen, sondern schleppe es mit durch bis zum Schluss. Bei meinem Ehrgeiz und meinen Genen werde ich wohl noch einige Vertraute überleben – kein schöner Gedanke. Alt und klapprig bin ich jetzt schon. Bauch und Glatze. Ich rede mir ein, Greise mit vollem Haar seien weibisch, und sehe so wenig wie möglich in den Spiegel. Ein angepasster Außenseiter, der nie für das, was er war oder tat, angefeindet wurde. Fast nie. Fast langweilig.

Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Zaitsava Olga (Jungs), Miiisha (Schultasche)

32 Kommentare zu “#44B – Wahrheiten und Lügen

  1. Freunde hatte ich auch immer. Mal mehr, ma weniger, aber immer gab es genügend wichtige Bezugspersonen. Für mich wäre es ziemlich unvorstellbar so ganz alleine durchs Leben zu gehen.

      1. Klar, schlimm wird es ja erst dann wenn man selbst keine Kontrolle über diese beiden Zustände hat. Wer sich das aussuchen kann, der kann das auch gut ausbalancieren.

  2. Ich war in der Schule nie ambitioniert genug um Klassenbester zu sein. Nicht weil ich es nicht geschafft hätte – später im Leben habe ich mich ziemlich gut durchsetzen können – sondern weil ich die Schule nie sonderlich spannend fand.

    1. Als Schüler fand ich den Unterrichtsstoff auch nicht immer wahnsinnig interessant. Gute Noten wollte ich trotzdem haben. Allein schon um mich gegenüber ein paar blöden Hänselern zu behaupten.

      1. Ich kann gar nicht so richtig sagen, ob ich die Schule an sich spannend fand, aber die Schulzeit und alles was so dazu gehört mochte ich auf alle Fälle.

  3. Diese Detlev-Geschichte ist schrecklich. Meine Mutter hat mir damals eine ähnliche Geschichte aus unserer Nachbarschaft erzählt. Das hat mir genügend Respekt mitgegeben um mich bei solchen Abenteuern rauszuhalten.

  4. Diejenigen, die selbst weniger Karriere machen, sehen die eigenen Ambitionen immer in anderem Licht. Oft gibt es da meiner Erfahrung nach viel Unverständnis, selbst wenn kein wirklicher Neid da ist.

  5. Ach Gott, Stöckchen in der Harnröhre klingt für pubertäre Doktorspielchen ziemlich fortgeschritten. In meiner Jungsclique hat es nur zum Wettpinkeln gereicht.

      1. Ob das heute auch noch stimmt? Wo Jugendliche doch eh nonstop auf Pornhub nachschauen können was es alles für sexuelle Spielereien gibt…?

      2. Ist es nicht so, dass die Jugend heute wahnsinnig früh Pornos schaut und allerlei Kink und Extremes sieht, und dass sie aber trotzdem dazu neigt Spätzünder zu sein? Zumindest erinnere ich mich etwas ähnliches gelesen zu haben.

      3. Mit fünf Jahren – also lange vor der Pubertät – werden selbst in unserer aufgeklärten Zeit nur selten Pornos geschaut. Das Einführen von Gegenständen ins männliche Untenrum gehört meines Wissens nach sowieso immer noch nicht zum Standardprogramm der Anbieter.

      4. Hahaha, das glaube ich allerdings auch nicht. An der Pornotheorie ist ja bestimmt etwas dran, aber sicherlich geht das noch nicht im Vorschulalter los.

      5. Ich glaube auch eher, dass der Austausch von solchen Videos frühestens ab dem Schulhof losgeht. Davon abgesehen wären Sie wahrscheinlich überrascht wie schnell man selbst die abwegigsten sexuellen Vorlieben auf Pornoseiten finden kann. Gerade solche außergewöhnlicheren und extremen Sachen „lohnen“ sich doch wenn man die Mitschüler beeindrucken/schocken will.

      6. Wir spielten auf dem Schulhof noch Poker mit Zigarettenschachtel-Vorderseiten. Das ist heute sicher jugendgefährdender als ein zünftiger Folterkeller.

    1. Wozu hat die Pornoindustrie für die Harnröhre und anderen Hohlräumen im Genitalbereich solch raffinierte Gerätschaften ausgetüftelt wenn’s. mit Stöckchen auch geht ?

    1. Das kommt dann wohl darauf an ob das echte enge Freunde oder nur Alibi-Beziehungen sind. Aber vielleicht haben Sie da auch ein wenig recht, wenn sich jemanmd selbst als Außenseiter wahrnimmt, dann sind die Umstände vielleicht auch egal.

      1. Wer sich selbst als Außenseiter empfindet, der ist es wohl auch (für sich). Aber schon zwei Außenseiter bilden zusammen eine Gemeinschaft. Weniger als eine Bezugsperson hatte ich früher nie.

  6. Bei Freundschaften bin ich auch treu, egal wie oft man sich sieht. Da muss schon etwas Schlimmes vorfallen, damit ich jemanden einfach so ziehen lasse.

  7. Frühe Klassen- und Familienfotos zeugen von solider Kontinuität und Obhut in gutbürgerlichem Rahmen in schweren Nachkriegszeiten, spätere von beruflichem Erfolg, Liebe, Wohlstand, modischen Trends und Accessoirs in der prosperierenden Bundesrepublik – Ein Leben, wie man es im Buche findet. Und manchmal auch im Leben…

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