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In der Blase  —   Süd nach Südost

#27A – Das Wichtigste über die Zeit der Kreuzzüge, über die Zeit davor und über die Zeit danach

Am nächsten Tag – Samstag, dem 11. August, übrigens – sollte das Sehenswürdigkeitsgucken (giro turistico) vom Vortag fortgesetzt werden. Vicenza, gleich um die Ecke, bot sich dafür an. In meiner Hervorbringung ‚Vom Höhlenmaler zum Wirtschaftswunder‘ aus dem Jahr 1968 (!) beginnt das Dichtwerk zum fünfzehnten Jahrhundert in Italien mit den einleuchtenden acht Zeilen:

In Siena und Florenz ist Tanz,
man feiert dort die Renäsanz,
in Venedig und Vicenza
gibt’s genauso hübsche Tänza.
In der schönen Stadt Venedich
bleibt kein Mädchen lange ledich,
doch im herrschaftlichen Sienna,
Gott, was gibt es da für Männa!

Foto oben: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten: ArtOfPhotos/Shutterstock

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Vicenza – erst mal von oben, dann mittendrin. Für Autos gesperrt wie immer. Könnte ich besser laufen, würde ich diese Maßnahme rückhaltlos begrüßen. So aber, wie es ist, begrüße ich nicht, sondern nehme eher Abschied.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Ein Stück musste also auch ich gehen. Dann gab es wie immer jede Menge Weltkulturerbe und, auch wie immer, einen Aperitif auf der zentralsten Piazza mit Blick auf alles. Wir erschlichen uns sogar einen Gang durch das eigentlich geschlossene Teatro Olimpico. Als es 1585 eröffnet wurde, war sein Architekt Palladio tot, schade. Sonst hätte er am dritten März ‚König Ödipus‘ von Sophokles im ersten frei stehenden Theater der Neuzeit sehen können. Zuschauerraum und Bühnenwand bilden zusammen ein idealisiertes Bild der Antike: Ehrfurcht einflößend.

Fotos oben (3): Privatarchiv H. R. | Foto unten: Catarina Belova/Shutterstock

Von einem gehörigen Mangel an Ehrfurcht (ganz Achtundsechziger) zeugt hingegen meine eben erwähnte Revue ‚Vom Höhlenmaler zum Wirtschaftswunder‘. Natürlich will ich historisch nicht vorgreifen, aber während wir die Zeit bis zu unserem ‚Pranzo‘ beim vorerwähnten Erfrischungsgetränk (suum cuique) auf der Piazza dei Signori vertun, möchte ich hier zwei Beispiele aus der Zeit vor 1500 anbieten. Ich hatte die ganze Schöpfung als reine One-Man-Band verreimt, vertont, verspielt und versungen. Ihnen mute ich hier nur die schriftliche Variante zu.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

53 nach Christus:

Die Flecken der Unzucht auf deinem Gewand,
von Mutterhand.
Nero, das ist eine Schand’.
Schämst di’ nett? Schämst di’ nett?
Mach nur gleich den Schaden wett:
Zünde ein paar Christen ahn,
damit die Straßen heller sahn!

Foto oben: picture alliance/Bianchetti/Leemage | Foto unten: Wikimedia Commons/gemeinfrei

1213 nach Christus:

Der nächste Kreuzzug kommt bestimmt,
da werden die aber schön vertrimmt!
Der nächste Kreuzzug ohne mich,
ich nicht mehr, mir gefiel das nich.
Ich dachte ja, das lohne sich,
doch das lohnt sich die Bohne nich,
für Kirche und für Krone nich.
Der Scheich, der einer Drohne glich,
die durch die Haremszone schlich,
der nur von seinem Throne wich,
um mich, dem Christensohne sich,
zu nähern, und nun wohne ich
in seiner Obhut,
aber Gott tut –
nichts!
Ich wollte nach Jerusalem.
Ich glaub’, ich war total plemplem.
Ich wollt’ das heilge Land befrein.
Die Moslems mögen mir verzeihn.
Dabei, huchhei!
Dass ich hierherkam, war mein Glück!
Zur Magdeburger Magd zurück?
Zu Mechthild, diesem Frauenzimmer?
Nimmer!
Wo meine sieben Kinder schrein,
Nein!
Soll sie doch gehn ins Armenvürtel
mit ihrem straffen Keuchheitsgürtel!
Da macht man ihr ihn sicher ab.
Mich wähnt sie dann im Heldengrab.
Im ‚Herdengrab‘ müsste es heißen!
Auf eure Kriege kann ich verzichten.
Hier, wo man seinen Schmerz vergisst,
bin ich zufrieden, so, wie’s ist.
Man kann ja noch nicht allzu weitgehn,
wir schreiben erst 1213.
Doch ich hab schon herausgefunden,
ich bin dem Volk hier sehr verbunden.
Hier sind die Menschen glücklich, heiter,
und bleiben’s, wenn wir gehn, auch weiter.
Selbst ich aus finster-kühlem Norden
bin hier viel fröhlicher geworden.
Sogar das Morden ist hier schöner:
Die Moslems sind so richtige Verwöhner.
Da geb ich ganz den ‚Volks-Versöhner‘!
Der Kundendienst, die Lebensart –
hier ist das Leben gar nicht hart.
Hier geht die Gastfreundschaft sehr weit.
Hier wird von allem man befreit,
was einem unnütz und verhasst ist,
was einem Quälerei und Last ist.
Wir Deutschen, wir versagten immer
Und das wird, fürcht ich, immer schlimmer.
Heinrich ging schon nach Canossa,
Barbarossa fiel ins Wossa.
Man fragt sich: Was wird daraus bloß?
Na, ich bin alle Sorgen los.
Nachts lockt lüsterner Geruch
aus dem Harem zum Besuch,
viele machen den Versuch,
doch ich nich, ich hab genuch,
das is alles doch Betruch,
nicht mit mir! Ich bin Eunuch –
und auf Befehl höchster Instanz
amputierte man mich …
ganz!

Foto oben: Artefact / Alamy Stock Photo | Foto unten: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Na schön, noch eins von 1633:

Ich bin die grüne Leich’ aus dem Dreißigjährjen Krieg, huju …
Ich wusst’ gleich zu Beginn, dass ich den nicht überleb’, hujuuu …
Ich küsste mal den Wallenstein,
der kannte alle Schweinerein.
Hussa! Hussa!
Ich war ihm zu dreckich,
er war mir zu eckich,
doch wie’s nun mal gekommen is’
er brachte mir die Syphilis
beim ersten Male gleich –
ich bin die grüne Leich’.

Fotos (2): Wikimedia Commons/gemeinfrei

Das von mir ausgegoogelte Restaurant war nicht weit, aber schön versteckt, damit man erst an der Tür merkte, dass man richtig war.

Anderntags bei unterschiedlichem Wetter

Foto: Anna Lurye/Shutterstock

Früher mochte ich solche Odysseen sehr, heute natürlich weniger. Trotzdem sind Ungewissheiten und Verzögerungen nach wie vor mein Fall. Sie machen den Lebenslauf interessanter und die Lokalsuche spannender. Wenn mir die Mahlzeit egal ist, sowieso, aber wenn ich Appetit habe, erst recht.

Hadrian und ‚sein‘ Antinous

Dabei fällt mir zum ziemlich allerletzten Mal etwas Klassisches ein: Über Kaiser Hadrian habe ich gelesen – ich denke, bei Marguerite Yourcenar –, dass der Imperator immer schon aß und trank, bevor er Hunger und Durst verspürte. Er wollte sich diesen Trieben nicht aussetzen. Unterschiedlicher könnte ich gar nicht sein. Ich liebe es, meine Begierden wachsen zu spüren und genieße das Erlebnis, wie die Lust anschwillt. Für alle, die den schnellen Höhepunkt wollen, fehlt mir jedes Verständnis. Der Orgasmus ist der Tod der Steigerung. Erst im lang anhaltenden Gewühle der Gefühle liegen Gewinn und Genuss. Und Verlust? Knackiges Fast Food, stinklangweiliges Festbankett? Na ja. Dass ich trotz meines Plädoyers für ausgedehnte Genüsse ein Bonmot einer Riesen-Abhandlung und ein Gershwin-Prélude einer ausladenden Bruckner-Sinfonie vorziehe, gehört zu den Widersprüchen, die ich so an mir schätze.

Wer nicht nur an meinen Spitzfindigkeiten interessiert ist, sondern auch an Kaiser Hadrians weniger maßvollem Gebaren bei seinen anderen Trieben, der kann darüber mehr erfahren in Episode 62: ‚Cowboys, Kaiser, Zwillinge und Gänse‘ meines Werkes ‚Fast am Ziel‘. Diese Reiseschilderung wird übrigens Ende Juni auch als Buch erscheinen: Für alle, denen es zu umständlich ist, sich durch meinen Blog zu fummeln.

Foto: Privatarchiv H. R.

Apropos fummeln: Bei den alten Römern und bei den noch älteren Griechen war Männerliebe verpönt, Knabenliebe nicht. Andersrum heute. Der westliche Zeitgeist reimt 2020:

Mann auf Mann – okay.
Kerl mit Kind? Bah, nee!

Ist das zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte so? Ich glaube, ja.

Foto: ArrowStudio/Shutterstock

Eine von Herodot (480 bis etwa 420 v. Chr.) überlieferte Geschichte muss ich hier zu diesem Thema noch loswerden, weil unser Vicenzinisches Tischgespräch von 2018 die Überlieferung nicht wert ist.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Hermotimos aus Pedasa war ein hübscher Junge. Leider wurde er im Krieg (gab ja dauernd welche damals) gefangen genommen. Panionios von Chios kaufte ihn nicht bloß, sondern ließ ihn auch gleich kastrieren: So würde er länger hübsch bleiben und sich besser weiterverhökern lassen. Klappte. Am persischen Hof machte Hermotimos Karriere als Obereunuch.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Während Xerxesens Feldzug von 480 v. Chr. in der Gegend fand H. heraus, wo P. in Chios wohnte und lud ihn mit dessen ganzer Familie in sein Zelt ein. P. erinnerte sich nicht an seine ehemalige Ware, war eh’ geschmeichelt und sagte zu. Kaum saßen die Ps in der Falle, zwang H. den P., seine vier Söhne eigenhändig zu kastrieren, und anschließend zwang er die Söhne, ihrem Vater die Eier abzuschneiden. Eventuell auch den Riemen gleich mit? Ist nicht verbürgt. Trotzdem schöne Geschichte, find ich. Dazu passt Ochsenschwanz, in Italien auch Ossobucco.

Foto: RitaE/Pixabay

Während wir drinnen aßen, begann es, draußen zu regnen, aber nur kurz – dann schüttete es.

Foto: Bru-nO/Pixabay

Giuseppe und Rafał liefen los, Schirme aus dem Auto zu holen. Weit war es nicht, aber nass war es doch. Meiner Glatze ist es ja egal, aber für Silkes Frisur ist Regen fast so grauenhaft wie Tomatensoße für ihre Bluse.

Foto oben: pornpawit/Shutterstock | Fotos unten (2): Privatarchiv H. R.

Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Kamira (Skulptur), Paradise studio (Hand mit Schere)

31 Kommentare zu “#27A – Das Wichtigste über die Zeit der Kreuzzüge, über die Zeit davor und über die Zeit danach

  1. Das Wichtigste über die Zeit der Kreuzzüge, über die Zeit davor und über die Zeit danach. Also quasi die Essenz unserer Existenz.

  2. Hadrian war ja ganz schön ausgefuchst. Seine Triebe zu befriedigen bevor sie überhaupt aufflammen können, darauf muss man erstmal kommen.

    1. Geht da nicht der ganze Spaß flöten? Essen befriedigt ja gerade weil man Appetit hat, Sex macht Lust wenn man geil ist, usw… So im Vorfeld alles abzuarbeiten klingt eher furchtbar anstrengend.

    2. Hadrian trieb das nur bei Hunger und Durst so. Seinen Sexualtrieb ließ er dermaßen gewähren, dass Gattin Vibia Sabina eingeschritten sein soll – wird gemutmaßt.

      1. Anscheinend hat er den Trieb wirklich nicht zuhause ausgelebt, sondern eher mit seinem Liebhaber Antinuos. Man liest unter anderem sogar, dass Vibia Sabine nicht viel besser als eine Sklavin behandelt wurde. Zur ‚Augusta‘ und ‚Diva‘ hat sie es trotzdem noch geschafft.

  3. Verzögerungen müssen bei mir nicht unbedingt sein, aber Ungewissheiten und überraschende Umstände sind ein Muss wenn man nicht gelangweilt durchs Leben gehen will.

  4. Wie reich an wunderbarer Kunst und ebenso schöner Architektur Italien doch ist. Ehrfurcht ist da tatsächlich das richtige Wort.

      1. Ja das ist ja leider momentan überall so wo es Menschen braucht. Das Leben fährt zwar langsam wieder hoch, aber bis es wieder genügend Touristen gibt, das wird noch dauern.

      2. Laut Spiegel werden ab Montag die Reisewarnungen in 27 europäischen Ländern gelockert. Es besteht also immerhin Hoffnung.

  5. Ach was! Dass es Ihre Reiseberichte bald auch in gedruckter Form gibt, ist ja toll. Das wird sicher ein schönes Geschenk.

    1. Fast am Ziel mochte ich sehr gerne lesen. Die Veröffentlichung werde ich mir sicher auch noch einmal anschauen 🙂

      1. Ja wunderbar, ich gratuliere schon einmal zur Publikation! So gerne ich online lese, ich freue mich immer wenn Texte auch weiterhin gedruckt erscheinen. Es geht ja nichts über das Anfassen der Seiten, und über ein volles Buchregal im Wohnzimmer.

      2. Dem Glückwunsch schließe ich mich an. Das erreicht dann sicherlich noch einmal viele Leser, die mit Online-Blogs nichts anfangen können. Viel Erfolg!

    1. Nee, Osso bucco wird aus Kalbshachse gemacht. Auf deutsch heisst es auch einfach nur hohler Knochen. Wer es schon einmal gegessen hat, weiss ja auch warum.

    2. Von mir sehr frei assoziiert. Nicht das ‚Knochenloch‘, sondern die ‚Coda alla vaccinara‘ ist das (außerhalb Italiens) weniger bekannte Gericht aus dem Ochsenschwanz.

  6. Hermotimos von Pedasa sagte mir bisher nichts. Zum Glück gibt es die Wikipedia und dort zusätzlich eine ganze Menge über Eunuchen zu lesen. Schon ein faszinierendes Thema.

    1. Ja in der Tat spannend. Also waren Eunuchen mitunter so einflussreich, weil die Herrscher sie nicht als Rivalen sahen? Hmmm…

      1. Penisneid halt. Faszinierend und schlimm zugleich, dass man seine Sorge um Gattin und Erben nur durch Kastration in den Griff bekam.

  7. Dabei würde eine Bruckner-Sinfonie heute ganz gut zum Unwetter passen. Aber das konnten Sie beim Schreiben des Blogs natürlich nicht vorhersehen.

    1. Unwetter verbinde ich eher mit dem 4.Satz der Pastorale oder mit Wagner (Holländer / Tristan / Walküre). Bruckner ist für mich fromme Ausgewogenheit. Aber auch er liebt es, den Höhepunkt hinauszuzögern.

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