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In der Blase  —   Süd nach Südwest

#42 – Das Machbare

Zurück in unsere Zeit. Cagliari ergoss sich grau und regnerisch vor unserer Windschutzscheibe. Sardinien enttäuschte uns. Die Fahrt zu unserem Hotel dauerte eine Stunde. Links stumpf die See, rechts flau die Ebene. Aber das Hotel ‚Aquadulci‘ mit seinen drei einstöckigen Häusern lag dicht am Wasser. Halle und Zimmer – nicht zu beanstanden. Genug, um sich wohlzufühlen? Wenn das Wetter in dieser nichtssagenden Umgebung so bliebe, hätten wir gleich nach Amrum fahren können.

Fotos (8): Privatarchiv H. R.

Es wurde anders, aber es blieb durchwachsen. Der Weg von unserem ‚Schlaf‘-Haus zum Nachbarhaus, in dem das Restaurant lag, schien manchmal nasser als das Meer. Immerhin bekamen wir einen Tisch am Fenster und Stoffservietten. ‚Bottarga‘, den sogenannten ‚sardischen Kaviar‘, erwischte nur Rafał einmal als Beigabe zu seiner Pasta. Silke und mir reichte der Geruch: ganz, ganz gemein! Aber dem Hotel ist das nicht anzulasten. Es hat diesen Dreck (Arabisch: بطارخ) ja nicht zur Abschreckung selbst erfunden – und sowieso: Wie man sich’s aussucht, so isst man. Trotzdem, das Zeug ist noch grässlicher als Baccalà (Stockfisch), was ich bisher für unschlagbar gehalten hatte.

Außer der abendlichen Speisung im Hotel besuchten wir mittags die drei umliegenden Lokale, zwei zweimal, eins einmal. Das Essen war gut bis sehr gut, aber eigentlich dient die Mahlzeit ja bloß dem Zweck, den Tag zu unterbrechen.

Foto: Julija Sapic/Shutterstock

Einmal schob mich Rafał zum Strand. Kaum saß ich im Liegestuhl, schon ging die Sonne weg, ohne sich zu verabschieden. Dann wurde es sofort zu kalt, und Rafał schob mich wieder zurück zum Hotel. Wenigstens war es das einzige Mal, dass der Rollstuhl seinen Dienst erfüllen konnte.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Silke und Rafał waren etwas häufiger am Meer. Während dieser Zeit machte ich mir wie immer meine Gedanken, mal im Zimmer, mal im Garten; mal mit offenen Augen, mal mit geschlossenen. Jeder versucht, das zu perfektionieren, was er am besten kann. Für mich hat sich nach meinem Schlaganfall die Gewichtung krass verschoben: statt Entdecken – Bilanzieren. Statt Geldverdienen – Geldanlegen. Statt Klavierspielen – Fernsehen. Gegen die eigenen Fähigkeiten anzuleben ist schwierig und unökonomisch.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

Der eine kann gut Kranke pflegen, die andere kann gut Männer bezirzen, der oder die Dritte kann gut bescheißen – Elite-Angehörige nennen es vornehmer ‚betrügen‘, nachdem sie vorher nicht ‚verarscht‘, sondern hinters Licht geführt worden sind. Dagegen sind, dem Volk aufs Maul geschaut, Gassen-, Gossen- und Fäkalsprache kaum noch zu unterscheiden. In Deutschland sagen Tonfall und Ausdrucksweise über den sozialen Status eines Sprechers weniger aus als in manchen anderen Ländern, in denen die klassenlose Gesellschaft erst recht nicht verwirklicht ist. Ganz deutsch verlässt man jemanden mit ‚Sack und Pack‘. ‚Suck and Fuck‘ mit A-U-Vertauschung im Englischen ist als Vorgehensweise international verständlich. Das Schicksal ist aber auch dabei ungerecht: Die Talente sind zwar bereits von Gott oder von der Natur höchst ungerecht verteilt, aber die Menschen machen es dann später auch nicht besser, weil auch sie ihre Gunst und ihr Geld sehr ungerecht verteilen. Der Pfleger kann, wenn er hübsch ist, einen kinderlosen Millionär beerben. Die Circe wird Unternehmer-Gattin, Puff-Mutter oder Sozialhilfe-Empfängerin. Der Gauner landet auf den Bahamas (eigenes Haus) oder im Gefängnis (Staatseigentum). Ob nur sein Sack oder sein ganzes Pack mitwandert, hängt von den Fähigkeiten der Ermittler ab.

Foto (links): yrolle/Pixabay | Foto (rechts): gemeinfrei/Wikimedia Commons

Wir alle sagen natürlich, dass uns Ethik vor Ästhetik geht. Dumme lügen nicht gut. Wahrheit ist einfacher zu behalten. Intelligente misstrauen der Wahrheit, weil die Wahrheit so viele Illusionen killt. Schwer, Visionen von Illusionen zu unterscheiden. Das Machbare ist zu wenig, das Unerreichbare ist zu viel. Und doch – Weltverbesserern gelingen immer wieder mal Coups, mit Revolutionen oder ohne. Aber im Allgemeinen versuchen heutzutage Heilsbringer über (un-)soziale Medien und Politiker über einprägsame Reden, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Zyniker sehen nur die zur Verführung und zur Verfügung stehende Masse, die erst eingelullt und dann am Wahltag sinnestrunken an die Urne gescheucht werden muss. Dort stimmt der Wähler im Halbschlaf nicht für das, was dem Land oder der Welt nutzt, sondern für das, was ihm selbst mehr einbringt – angeblich. Oder noch schlimmer: Er wählt das, wovon er glaubt, dass es dem Land nutzt, und macht sein Kreuz bei denen, die man freundlich ‚Populisten‘ nennt und unfreundlich ‚Volksverhetzer‘.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

All die Lügen, die jetzt ‚Fake‘ heißen – das klingt einfach schicker. So wie ‚Lockdown‘ viel internationaler klingt als ‚Ausgangssperre‘. Die richtigen Ausdrücke zu kreieren ist raffiniert und kompetent, und es dient einem guten Zweck: Die Politik muss den mündigen Bürger einweihen. ‚Mitnehmen‘, weil er den Weg allein sonst nicht findet. Offenheit ist wichtig, um Probleme zu lösen. Demokratie braucht Transparenz. Aber Heimlichtuerei ist auch ganz schön. Sie schafft konspirative Überlegenheit. Wer wird die leichtfertig aufgeben? Diplomatie lebt von ihr, Geheimdienst auch. Diskretion und Verschlagenheit: Niemals gab es Offenheit in der Staats‚kunst‘ – nicht in Mesopotamien im vierten Jahrtausend vor Christus, nicht nach Umstürzen und Revolutionen im Lauf der Geschichte, nicht im Zeitalter der digitalen Möglichkeiten, und es wird sie nicht geben, bis der letzte Bürgermeister im Meer versinkt.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Aber genug vom Meer: Eine Woche später, am Freitag, dem 31. Mai, packte Rafał meine und seine Sachen, Silke schichtete ihre Garderobe in den Koffer und dann reisten wir ab.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Cagliari hatte ich 1975 mit Harald nur zu einem Nachmittagsausflug von unserem Strandhotel aus besucht. Daran habe ich keine Erinnerungen und weil ich auch nichts darüber aufgeschrieben hatte, gibt es nicht mal eine Brücke ins Ausgedachte. Leere in der Blase. Aber eine Lehre für später: Ereignisse habe ich seither immer festgehalten, nicht am Schopf, sondern mit dem Filzstift – man weiß ja nie, wann man es noch mal braucht: für eine Rechtfertigung, für nostalgische Momente, für ein Buch. Zum Wegschmeißen bin ich zu geizig. Meine Löschtaste hakt.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Erst 2009 war ich wieder in Cagliari, mit Silke. Ich las während einer Kreuzfahrt abends aus eigenen Briefen für ein Publikum, das sich Unterhaltsameres gewünscht hatte, und dem schon tagsüber anzusehen gewesen war, dass ihm SAT.1 gemäßer war als 3sat. Immerhin, es gab als Honorar die Kabinen umsonst, mit Hängematte auf dem Zimmer-Balkon, und Aufenthalte überall zwischen Mallorca und Sizilien, also auch in Cagliari.

Foto: gemeinfrei/Piqsels

Von 2009 ist mir Sardiniens Hauptstadt mit seinen 154 083 Einwohnern also besser im Gedächtnis geblieben als 1975, obwohl ich sehr viel weniger als die Hälfte von ihnen traf. Dass ich mich so gut erinnere, liegt an der geringeren zeitlichen Entfernung und an Silke. Es war ihr wegen einer Schilddrüsenoperation untersagt, Fisch zu essen. Direkt am Meer zu sein und keinen Fisch zu essen, das kommt mir vor wie ins Hofbräuhaus zu gehen und kein Bier zu trinken. Oder man hat in Niagara Falls zu tun und guckt sich die Wasserfälle nicht an.

Vom Schiff aus war man gleich an einer Bushaltestelle, sogar mit Bus daneben. So kamen die Passagiere, also auch wir, bequem an die Uferpromenade mit angrenzendem Zentrum. Ich belästigte den Fahrer mit der Frage, wo es sinnvoll sei, ein Mittagessen einzunehmen. (Im Italienischen formulierte ich das etwas anders und weniger geschwätzig.)

Foto: Privatarchiv H. R.

Silke und ich stiegen da aus, wo wir sollten, und gingen erst zu einer Parallelstraße und dann dreimal am Lokal vorbei, weil es so unscheinbar war. Drei Männer, die zusammenstanden, bemerkten unser Suchen und wiesen auf eine der Türen. Misstrauisch traten wir ein und waren in einem nicht mal kleinen Lokal mit allerdings sehr niedriger Decke. Im zweiten Raum bekamen wir den letzten Tisch und gleich alles Mögliche Essbare draufgestellt. Ein Fenster sah ich nicht, aber viele Menschen: Geschäftsleute, Anwohner. Wie alle Touristen sind wir immer sehr froh, keinen Touristen zu begegnen. Wenn man alles um sich rum super-authentisch findet, kommt man sich selbst auch gleich mega-authentisch vor.

Foto: StephanieAlbert/Pixabay

Im vorderen Raum gab es neben dem halben Fischmarkt in der Vitrine außerdem eine Regalwand, hinter deren Glas die riesigen Steaks einer halben Rinderherde zu bestaunen waren. Wie erwartet wurden wir beide satt und kehrten ohne allzu großen Besichtigungsrummel zufrieden zurück zu unserem Schiff, auf dem keiner unserer Mitreisenden darauf wartete, von mir am Abend was vorgelesen zu bekommen.

Foto links: Artit Wongpradu/Shutterstock | Foto rechts: Muk Photo/Shutterstock

Sehr viel mehr sahen Silke, Rafał und ich zunächst auch nicht von Cagliari. Irgendwo parken zu können, schien aussichtslos. So fuhren wir von der einen Seite rein und zur anderen wieder raus: „Westöstlicher Diwan“. Als Cagliari zu Ende war, ging es trotzdem weiter, und wir hielten in dem Gemisch aus Asphalt, Strauchzeug und Betonbauten Ausschau nach etwas, das ein Aussteigen lohnen würde. Unsere zaghaften Versuche führen nur bis zu Eingängen von All-inclusive-Burgen, die auf Gäste von außerhalb nicht angewiesen waren. Dann hörten die Häuser auf, das Meer auch, und die Strecke führte ins Inland. Da war es steinig und struppig. Ja, so ist Urlaub, wenn ich keine Ziele vorbestimmt habe.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Als es wieder mehr in Richtung Meer ging, lag linker Hand in der Einöde ein Restaurant, das vielversprechend aussah. Inzwischen war es halb drei geworden, da sind viele Küchen schon beim Abwasch. ‚Barbara‘ stand aber noch am Herd und kochte vorzüglich. Freundlich bedient, herrlich gegessen, gut besucht. Besser hätte das Abschiedsmahl nicht sein können. Ja, so ist Urlaub, wenn ich keine Ziele vorbestimmt habe.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Am Nachmittag war noch Zeit, Cagliari doch ein wenig ins Eingeweide zu blinzeln. Von der breiten Uferstraße geht etwas ziemlich steil bergauf, das sich wie Cagliaris Ku’damm gebärdet: viele Leute, viele Läden und irgendwie großstädtisch. Nachdem wir oben, milde verzweifelt, umgekehrt waren, tat sich auf der Abfahrt im Mittelstreifen ein freier Platz auf. Während Silke Münzen bereithielt und Rafał nach dem Automaten suchte, der unseren Halt legalisieren sollte, lief ich schon mal voraus, am Stock nach oben. Tatsächlich fand ich einen freien Tisch ganz vorn am Gehweg. Da haben es die Serviermädels nicht so weit, und Passanten könnten einem die Kartoffelchips vom Teller grapschen. Solche interessanten Wendungen sind allerdings rar, und Silke und Rafał kamen auch nicht. Ich wartete erst geduldig, dann ungeduldig, dann stand ich auf und ging etwas, das ich für ‚ihnen entgegen‘ hielt. Dass sie ohne mich davongefahren waren, fand ich dieses Mal nicht so schlimm, weil ich ausnahmsweise mein Portemonnaie in der Hosentasche trug, aber dann erschienen sie doch und hatten sich nur beim Geldwechseln für den Parkautomaten eine ganze Weile aufgehalten. Warten dauert immer so viel länger als Machen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Steile Straßen sind lustig. Jedenfalls, wenn man am Wegesrand sitzt, Espresso trinkt und zusieht, wie eilig oder wie müßig die Bergauf- und Bergab-Laufenden ihrem Ziel entgegenstreben.

35 Kommentare zu “#42 – Das Machbare

  1. Die Mahlzeiten dienen dem Zweck, den Tag zu unterbrechen? Bei mir läuft das meistens genau anders herum. Alle Aktivitäten laufen auf die Mahlzeiten hin 🙂

  2. Gegen seine eigenen Möglichkeiten anzuleben ist ja gleichermaßen anstrengend wie frustrierend. Da hilft nur an der Akzeptanz zu arbeiten und sich den Gegebenheiten anzupassen.

  3. Heisst es nicht eh immer man brauch 10% Talent und 90% Fleiß?! Wenn natürlich 0% Talent vorhanden ist, nützt auch diese Weisheit nichts.

    1. Politiker wollen an der Macht bleiben, klar. Und Wähler wollen, dass sie mehr Geld in der Tasche haben, auch klar. Da braucht man sich keine großen Illusionen machen.

  4. Schlimm wird es aber doch sowieso nur, wenn man selbst das Gefühl bekommt etwas zu verpassen. Der eine muss jede Sehenswürdigkeit gesehen haben, der andere unbedingt sein Lieblingscafe besucht haben.

  5. Sagen Tonfall und Ausdrucksweise wirklich nichts mehr über den sozialen Status aus? Ich würde das anders sehen…

  6. Fake muss ja nicht unbedingt Lüge, also nicht zwangsläufig mit Vorsatz falsch sein. Zumindest würde ich das bei den Fake News so interpretieren.

    1. Und trotzdem gibt es ja Menschen, die diese Falschmeldungen in die Welt setzen. Da muss man sich ja schon auch nach den Motiven fragen. Nicht alle dieser Artikel können einfach schlampig recherchiert sein.

      1. So würde ich das auch sehen. Fake news werden in der Regel ganz gezielt platziert.

  7. Ganz oben auf der Essens-Ekelliste steht doch der Casu Marzu. Haben Sie den auf Ihrer Sardinienreise nicht probiert?

  8. Der Süden ist bei schlechtem Wetter noch schwerer zu ertragen als der eh schon kühle Norden. Liegt das an den Erwartungen? Oder daran, dass grundsätzlich neben Strand und Sonne weniger geboten wird?

    1. Auf den Fotos sieht es doch eigentlich sogar noch recht schön aus. Aber das heisst wahrscheinlich auch nur, dass man den Urlaubsfotos eben nicht glauben sollte.

  9. Gott ist ungerecht, die Menschen auch. Deshalb braucht es auch keinen Totalumsturz nach Corona. Wir würden eh wieder in ähnliche Muster zurückfallen, wie es sie seit Ewigkeiten immer und immer wieder gibt.

      1. Das ist ja genau der Denkfehler. Man muss nicht alles zerstören um dann wieder von vorne eine scheinbar bessere Welt aufzubauen. Dinge verbessern und verändern kann man auch so.

      1. Klar, die geben halt eine Richtung vor, für alle die, die sonst im Leben verloren wären.

  10. Oh wirklich, eine Lesung auf einer Kreuzfahrt? Da wundert mich das Sat.1 Publikum allerdings auch nicht…

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