Fortsetzung 1975:
Salvatore riss den Wagen herum, schleuderte in die Einfahrt und hielt ruckartig vor dem Hotel. Wir stiegen aus. Ich war unschlüssig.
––Marcello sah mich an, eher arglos als gespannt. Etwas Trauriges in seinem Blick ließ mich erst erkennen, dass etwas Trauriges in seinem ganzen Wesen lag. Zwang ist mir zuwider. Auch der erschlichene Zwang der Verführung. „Sei stanco?“
––War es Ablehnung, Aufforderung, Floskel? Nein, ich war nicht müde. Ich war sehr wach. Wir gingen zu fünft in den Garten. Das Meer rauschte gelassen gegen den Sand. Salvatores Freunde mussten am Strand schlafen. Der eine hatte einen Schlafsack, rollte sich ein und war verschwunden. Der andere hatte nichts. Ich bot ihm meine Decke an, denn es war stickig heiß in unserem Raum, und ich brauchte nur das Laken. Marcello begleitete mich, während die anderen am Wasser warteten.
Foto: Tama66/pixabay
„Weißt du, wir machen diesmal einen ganz abenteuerlichen Urlaub“, hatte ich in Hamburg zu meinem Freund gesagt, „wir schlafen am Meer unter freiem Himmel.“ Ich schlich in unser Zimmer. Sein gleichmäßiges Schnarchen klang beruhigend.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Ich griff die Decke, ging zurück in den Flur und gab sie Marcello.
––Er lächelte anerkennend, dankbar, freundschaftlich. „Grazie. Ciao. A domani.“
––Ich ging zurück ins Zimmer. Es war dumpf. Natürlich hatte ich mehr für ihn getan, als wenn ich mit ihm geschlafen hätte. – Ein Abend, fernab im Süden. Nichts war passiert.
Foto: Jon Sullivan/pixnio
Meine Lust war erregt worden – ach, das war sie doch immer. Sie war also nur nicht befriedigt worden und hätte auch nicht befriedigt werden können durch irgendetwas Rasches, von dem man sich einredet, es sei Zufall, Notbehelf, Versehen oder Laune. Ich will Bewusstsein, ich will Menschen, ich will Erwachsene. Deshalb bleiben die Knabenkörper, deren rührende Schmächtigkeit mir die Illusion meiner eigenen Zärtlichkeit verleiht, abstrakter als Marmorstatuen. Deshalb finde ich mich immer bei Körpern wieder, die mein Ideal höhnen, aber mir entgegenpochen. Deshalb werde ich morgen Abend wieder mit dem wässrigen Engländer in den Pinienhain des drittklassigen Hotels einer verlogenen Sommerfrische verschwinden, ohne daran unglücklich zu werden.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Ich bin ziemlich sentimental, aber ich rede mir ein, ich sei nicht traurig. Denn weil nicht Anwesenheit, sondern Intensität entscheidet, habe ich heute Nacht eine wilde, heidnische, promiskuitive Liebesnacht verbracht, während die Partner meiner Orgie mit uneingestandener, überkreischender Langeweile an ihrem lauwarmen Gin Tonic genippt hatten. Also lege ich mich ins Bett, ich weiß noch nichts von Rom, nichts von Carlos aus Mozambique, der mich in Venedig einholen wird – zum Entsetzen meiner nur für mich angereisten Mutter und zum Missfallen meines besten Freundes – und doch ahne ich alles, was mir passieren kann.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Ich habe es mir nicht ausgesucht, zu sein, wie ich bin, aber ich hätte, wenn es in meiner Macht gestanden hätte, sicher nicht anders gewählt. Ich akzeptiere allmählich, und es wäre schön, nichts mehr verheimlichen zu wollen – aber das geht wohl nicht. Man muss wie Gott irgendein Bild von sich schaffen – und danach leben. Ein Mensch ohne Image ist ein Mensch ohne Gesicht. Und wer hat die Chuzpe zu sagen, das sei ihm gleichgültig? Wer ist eigenbrötlerisch, wer ist gesettelt genug? Und was kann er für die Menschheit bedeuten? Hochstapeln – tiefstapeln. Hier stehe ich, ich kann auch anders. ‚Leumund‘. Was ist das eigentlich? Ich glaube, ich möchte nicht besser sein als mein Ruf. Aber ich bin ja auch – streng genommen – kein deutsches Mädchen.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Diesen Text jetzt nach 44 Jahren wiederzulesen, war seltsam. Silvester 1974 war ich mit meinen Eltern in Kitzbühel gewesen. Wir hatten abends in der ‚Tenne‘ gegessen und brachen um halb zwölf auf, um zum Jahreswechsel wieder im Haus unseres Gastgebers zu sein: Doktor Rumpold. Meine Mutter glaubte, er hätte ihr vor vier Jahren mit seinen Infusionen das Leben gerettet. Sowas bindet natürlich.
Fotos oben (3) Privatarchiv H. R. | Foto unten: Heribert Pohl/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Als wir an die Weggabelung kamen, gingen Guntram und Irene nach rechts zu Rumpolds Anwesen, ich lief weiter geradeaus. Als die letzten Häuser hinter mir lagen, stapfte ich aufwärts im hohen Schnee durch den Wald.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Ich stand gerade auf einer Lichtung, da fingen die Glocken an zu läuten. Kurz darauf stiegen unter mir die Raketen auf. Ich hörte, ich sah, und ich versprach mir: Dieses Jahr wird ganz besonders! Beruflich und privat.
Foto: Botond Horvath/shutterstock
Tatsächlich: Gleich nach unserer Rückkehr bekam ich ein neues Aufgabenfeld: vom Marketing zur ‚Produktion‘, der für Künstler und Aufnahmen zuständigen Abteilung. Fünfzehn Jahre später würde ich zum internationalen Marketing zurückkehren – als dessen Chef.
Foto: Privatarchiv H. R.
Bis zum November 1975 kam Carlos aus Wien immer wieder wochenlang zu mir nach Hamburg. Dann lernte ich Roland kennen und blieb mit ihm zusammen bis zu seinem Tod. Hier, zum Ausklang dieser Rückblende fünf Standfotos vom Beginn meiner Hobbyfilmer-Karriere.
Fotos (5): Privatarchiv: H. R.
Und ein Ausschnitt von unserer Silvesterfeier: noch trunken von 1975, aber schon die Flasche in der Hand für 1976.
Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Alexey Belyaev (Statue), Anton Starikov (Decke), Zodar (Feuerwerk)
Man sieht tatsächlich noch einmal eine ganz neue Seite von Ihnen, Herr Rinke. Also angedeutet war das ja schon immer, aber die Dichte an nächtlichen italienischen Abenteuern fasziniert trotz allem.
Der Blog macht die Dichte dichter, als die Wirklichkeit war.
Ja das ist ja klar. Trotzdem toll, wenn man auf so viele aufregende Erinnerungen zurückblicken kann.
Es reicht ja schon überhaupt „wilde, heidnische, promiskuitive“ Liebesnächte in seinem Erzähl-Repertoire zu haben.
„Ein Mensch ohne Image ist ein Mensch ohne Gesicht.“ Ha, wunderbar! Ganz meine Meinung! Man sucht sich nämlich in der Tat aus wer man sein möchte.
Und zum selben Absatz: es gibt nichts wertvolleres als sich selbst zu akzeptieren.
So einfach ist das auch wieder nicht. Man kann sich ja trotzdem nur in seinen Möglichkeiten bewegen.
Ja aber man kann trotzdem sein, wer man sein möchte. Man hat sein Leben, sein Sein, sein Image selbst in der Hand.
Längst nicht überall auf der Welt …
Da haben Sie ohne Frage recht. Aber ich meinte hauptsächlich unser Leben hier in Deutschland. Es gibt natürlich immer Hindernisse, die da im Weg sein können. Aber hier in unserer Gesellschaft gibt es ja auch wirklich viele Möglichkeit. Und wir sind uns oft selbst im Weg.
Diese alten Kameras! Die waren ja doch sehr viel stilvoller als so ein iPhone heute, aber selbstverständlich auch weitaus umständlicher im alltäglichen Gebrauch.
Mehr Mühe, mehr Ertrag.
So sehr ich Italien (das Land, das Essen, die Menschen) liebe, diese italienischen Popsongs sind doch wirklich schrecklich. Mi scusi, Signore Balsamo.
Aber NEIN! Das weckt so viele schöne Erinnerungen!
Wer Musik nur mit den Ohren hört, hat kein Herz.
Pelz steht Ihnen 😉
Nicht mehr zeitgemäß! Der arme Waschbären!
Zeitgemäß hin oder her. Man muss im Jahr 2020 nicht unbedingt Pelzmäntel herstellen, aber das ändert ja nichts daran, dass bestehende Kleidungsstücke hübsch sind.
naja, man kann´s auch übertreiben, selbst in den 70igern.
Weiss man 45 Jahre später überhaupt noch so genau was nicht passiert war und was doch? Bei mir vermischt sich da mittlerweile einiges… Zumindest wenn ich erzähle.
Das ist ja auch das schöne an Erinnerungen. Auch die kann man formen wie es einem gefällt 😉
Bei den Briefen könnte ich ja jetzt schummeln – tue es aber nicht.
Das wäre dann eigentlich ja auch wieder nur ein weiterer Schritt in die Richtung das-eigene-Image-kontrollieren.
Muss man eben, solange man noch ein klein bisschen Eitelkeit besitzt.
Dieses Jahr wird ganz besonders. Wie viele Menschen sich das wohl zu Beginn dieses Jahres gesagt haben. Mit Corona hat wohl niemand so richtig gerechnet.
Ein besonderes Jahr war es wohl auf alle Fälle. Nicht unbedingt positiv, dafür sind zu viele Menschen an dieser Krankheit erkrankt, aber ereignisreich mit Sicherheit.
Man kann nur hoffen, dass dieses Jahr eine Ausnahme bleibt und nicht zur neuen Regel wird.
„Ich will Bewusstsein“ ist so ziemlich das beste, was ich in diesem Zusammenhang je gehört habe. Das trifft es völlig.
Da würde ich mich anschließen. Jede Begegnung, sei sie auch noch so kurz, braucht doch irgendeine Form der gegenseitigen Aufmerksamkeit. Wenn man sich nicht für sein gegenüber interessiert, dann ist’s die Zeit auch nicht wert.
So viel Ausgelassenheit! Bei der Silvesterfeier… Auf so einer fröhlichen Hausparty war ich seit Ewigkeiten nicht mehr.
Wahrscheinlich wird man so froh sein 2020 endlich hinter sich zu lassen, dass es zum Jahreswechsel ähnlich wilde Parties geben wird.