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In der Blase  —   Süd nach Südwest

#31A – Ein erweitertes Hinterhauptsloch

Am Morgen standen wir rechtzeitig auf, um die Abfahrt der Schlossbahn nicht zu verpassen. Dieses Vehikel ist selbst für Disney-Verhältnisse etwas absonderlich. Eine kreischbunte Lokomotive lenkt kreischbunte Straßenbahnwagen – Nostalgie vortäuschend – den Berg empor. Schienen braucht sie nicht. Sie hat Räder.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Das Schloss oben (oder eher sein Vorgänger) wurde 1121 in einer Urkunde erwähnt: zum ersten Mal. Wie es in Adelskreisen passieren kann, starb 1429 bei den Grafen von Wernigerode die männliche Linie aus: impotenter oder homosexueller Graf? Die Gemahlin mit Ovulationsschwierigkeiten oder Hyperprolactinämie geschlagen? Jedenfalls sprangen die Grafen zu Stolberg ein. Viel später erst sorgte Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode, der auch Vizekanzler unter Bismarck war, für den Umbau der Anlage zu einem Repräsentationsschloss des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Darum sieht es jetzt von Weitem aus wie die Kopie eines von König Ludwig inspirierten Zeichentrick-Schlosses, also nett. 1945 wurde es selbstverständlich durch die Bodenreform enteignet. Das reichte aber noch nicht. Mitte Dezember 1946 schlugen ‚sowjetische Militärangehörige‘ zu: Sie zerstörten alle historischen Waffen und Rüstungen und alle Gemälde von Personen in Uniformen oder mit militärischen Ehrenzeichen.1 So war das früher immer. Und dem ‚Islamischen Staat‘ (IS) war das auch immer wichtig.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Vandalismus hat eine viel längere Tradition als das Weltkulturerbe, und auch jetzt liegt vielen Aufrechten der Schutz von Wölfen mehr am Herzen als der Schutz von Gebäuden.

Wir sahen uns das an, was man von außen sehen konnte. Den Rundgang durch die Räume hätte ich wohl nicht bewältigt, und meine Begleiter waren zu rücksichtsvoll oder zu desinteressiert, um die Tour ohne mich zu machen. Also fuhren wir zunächst mit der beräderten Bahn wieder nach unten und dann im eigenen Auto nach Ingolstadt.

Wieso ‚Ingolstadt‘? Früher, im vorigen Jahrhundert, fuhren wir ‚durch‘: bis Mantua, bis Florenz – bis Meran sowieso. Jetzt nicht mehr. Erstens sitzen wir nicht mehr gern so lange im Auto (dabei ist der SUV jetzt, der durch sein CO2-Verhalten den Weltuntergang befördert, viel komfortabler, als es einst unser ‚Käfer‘ war). Zweitens können wir uns jetzt finanziell eine weitere Hotelnacht samt Abendbrot leisten, und drittens gibt es doch zwischen Unterfranken und Oberbayern genug zu sehen, um einen Aufenthalt zu rechtfertigen. Aus diesen drei Gründen haben wir uns im Laufe der Zeit schon Regensburg, Bamberg, Würzburg, Nürnberg und das Altmühltal erschlossen, soweit man das zwischen fünf Uhr nachmittags und elf Uhr vormittags bewältigen kann. Ingolstadt kennt Rafał natürlich auch und sagte, es sei schön. Ich verband mit Ingolstadt nur Audi und Doktor Frankenstein, beiden stehe ich nicht besonders nahe, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Einen Audi habe ich nie gefahren und die Gefahren, die ein von mir geschaffenes Kunstwesen mit sich bringen könnte, habe ich in Romanen und Gedichten so gründlich ausgetobt, dass ich auf die Realisierung verzichten kann.

Foto links: Paradise studio/Shutterstock | Foto rechts: NeoStocks/Shutterstock

Das Hotel ‚Adler‘ lag in einer Fußgängerzone, wo sonst? Das Wetter war mittelmäßig, die Erwartungen waren bei Silke und mir auch nicht groß. Während unserer Anfahrt von der Autobahn hatten wir sie schon auf überschaubares Maß runtergeschraubt. Dabei sind ja diese Aldi-OBI-Bauhaus-Mediamarkt-Vorstädte überall gleich scheußlich. Die Zimmer im ‚Adler‘ waren auf unerhebliche Weise in Ordnung, das Ortszentrum war auch nicht mehr als Durchschnitt. Wir gingen dorthin, wo es was zu trinken gab, am Rand einer Art Galerie. Dann warteten wir in unseren Zimmern auf den Abend, ich jedenfalls. Das Lokal, das ich ausgesucht hatte, versprach bodenständig zu sein und war es auch: ‚Weissbräuhaus zum Herrnbräu‘ – der Name allein bürgte dafür, dass Silke in keinen Begeisterungstaumel abschmieren würde. Auf der Speisekarte standen dann auch wirklich ‚Kälberne Briesmilzwurst‘ und ‚Gesottenes Ochsenkopfbackerl‘. Säulen und dunkles Holz machten die Gaststube hübsch altmodisch, und der Schlehengeist schmeckte wie immer. Für Silke war es weniger angenehm, eher abgenehm, und als wir wieder auf die Straße traten, hatte es auch noch angefangen zu regnen.

Am Morgen fuhren wir weg. Ingolstadt hat ein paar rausgeputzte Häuser aus dem 16. Jahrhundert. Hat fast jede Stadt. Aber Faustkeile des Homo steinheimensis hat nicht jede Gemeinde. Aus dieser Zeit ist nur ein Frauenschädel erhalten: 300000 Jahre alt! Der Frau ist übel mitgespielt worden: Erst wurde ihr der Kopf abgerissen und dann das Hinterhauptsloch stark erweitert, um an das Hirn der Frau zu kommen, damit es in einer Kulthandlung gegessen werden konnte2, glaubten die Paläontologen. Zunächst jedenfalls. Gute, alte Zeit. Dann doch lieber kälberne Briesmilzwurst.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Die Universität Ingolstadt wurde 1472 von Herzog Ludwig dem Reichen gegründet.3 ,Die Pest herrscht hier nur sehr selten […]‘, hatte er Papst Pius II. die Gegend schmackhaft gemacht.4 1776 gründete Adam Weishaupt in Ingolstadt den Illuminatenorden. Der wurde zwar schon 1785 verboten5, blieb aber bekannt genug, um 2009 einen Film mit diesem Titel und Tom Hanks als Hauptdarsteller in die Kinos zu bringen. Allein in den USA spielte er mehr als 133,3 Millionen US-Dollar6 ein. Kurfürst Max IV. Joseph (der spätere König Maximilian I.) von Bayern war nicht hellsichtig genug, diesen Erfolg vorauszusehen, sondern wollte seine Ruhe haben: 1800 wurde die Universität erst nach Landshut und von dort nach München3 verlegt. Grund genug auch für uns, Ingolstadt zu verlassen und in Richtung München aufzubrechen.

Foto: Bob Orsillo/Shutterstock

Na ja, nach Ingolstadt werden wir wohl nie wieder fahren. Dabei ist die Stadt durchaus bemüht, clever zu sein und etwas aus sich zu machen, dem Touristen nicht widerstehen können: ‚Dr. Frankensteins Mystery Tour‘. Wer sich feige scheut, in Siebenbürgen Dracula aus Wachs und Pappe zu bestaunen, die/der sollte nicht auch noch im nahen Bayern die Ingolstädter ‚Gruselstadtführung‘ verpassen. Vampire sind im Kino sehr viel gefragter als problembeladene Scheidungspaare. Horror ist kein alter Kram für alte Leute, auch die Jungen haben Blut geleckt. Sie wissen: Am Ende bleibt der Untote im Sarg und die ungebissene Hauptdarstellerin nachdenklich, zumindest fände der Regisseur es schön, wenn der Protagonistin ein solcher Gesichtsausdruck gelänge. Sehr befriedigend. Besonders, wenn das Popcorn reicht. Rafał nimmt alles mit, was ihm geboten wird und nicht allzu lange dauert. Silke und ich, wir suchen erst umständlich aus, wohin wir gehen und was wir sehen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Das Wetter jedenfalls war nicht sehr zum Hingucken, und dass es auch nicht besonders heiß war, fiel uns im klimatisierten Wagen dadurch auf, dass wir auf unserer Fahrt durch das Inntal Schnee auf den höheren Bergen wahrnehmen konnten. Am 15. Mai! Die Stimmung war etwas gereizt und wurde nicht besser durch Rafałs Mitteilung, er habe den Haustürschlüssel für die Villa wohl vergessen. Silke hatte auch keinen und wir mussten darauf vertrauen, dass Martina, die uns in Meran den Haushalt richtet, greifbar wäre, wenn wir ankommen. Die Strecke von der Autobahnausfahrt bis zum gebuchten Restaurant war kurz. Weil man – wie überall – mit dem Auto nicht in die Altstadt darf und ich Rafał langes Parkplatzsuchen und mir langes Laufen ersparen wollte, hatte ich ein wenig außerhalb gebucht, aber geglaubt, Silke und Rafał können ja später noch einen kleinen Spaziergang machen, und ich, je nachdem wie mir war, auch. Als 1981 meine Eltern so fürsorglich gewesen waren, mich bereits auf dem Innsbrucker Hauptbahnhof abzufangen und über den Brenner nach Meran zu geleiten, hatte ich das Goldene Dachl schon gesehen, und viel mehr war da auch nicht, fand ich.

Der Name unserer gebuchten Gaststätte ‚Bierwirt‘ hatte mich nicht abgeschreckt, denn anders als gestern im ‚Herrnbräu‘ war der Homepage des Bierwirts zu entnehmen, dass die Wirtschaft nur so bodenständig hieß, die Speisekarte aber durchaus silkefreundlich war. Weniger gefiel mir, dass das Gebäude direkt unterhalb der Autobahn lag, weit entfernt vom Zentrum. Wir hätten genauso gut gleich an der Tankstelle essen können, wenn auch nicht genauso gut. Zumindest war das Lokal gut besucht. Rafał bekam gerade noch den letzten Parkplatz und steckte sich erst mal eine Zigarette in den Mund, während Silke und ich schon auskundschafteten, wie es drinnen aussah: nett, viel besser als draußen! Als Rafał zu uns stieß, hatte Silke sich bereits mit ein paar Unfreundlichkeiten abreagiert. Außerdem hatte Rafał die Schlüssel doch noch in einem entlegenen Fach aufgetrieben. Das verbesserte die Laune – nach und nach. Abstürze gelingen schneller als Aufstiege. Auf der Abfahrt vom Brenner in Richtung Bozen wurde sogar das Wetter gut: ganz wie es sich Urlauber von Reisen in den Süden erhoffen. Ich fand es zwar nicht besonders originell, dass sich das Wetter so klischeehaft verhielt, aber wer wie ich verlogenen Glanz lieber hat als ehrliche Ruinen, der lässt sich leicht einlullen.

Foto oben: KarepaStock/Shutterstock | Foto unten: Karl Allgaeuer/Shutterstock

Weitere Erfolgserlebnisse warteten in unserem Haus darauf, mich zu begeistern: Der Computer funktionierte, samt Internet und Drucker, und das Fernsehen klappte auch auf Anhieb, wenn ich im richtigen Moment auf der richtigen Fernbedienung die richtige Taste drückte. Damit waren die nächsten Tage gesichert. Das Wetter spielte in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. Wo man einen Tag ist, da will man es schön haben. Wo man vier Monate ist, kommt es auf einen Tag nicht an. Zunächst mal waren es allerdings bloß vier Eingewöhnungstage, bevor der Abschluss meines Italien-Remakes beginnen sollte. Zwischen Juli 2017 und Juni 2019 hätten wir dann wirklich alle Stationen, die mir etwas bedeutet hatten, abgeklappert: ‚Italia mia‘. Ein Wiedersehen, ein Bilanzieren, ein Abschied. In Begleitung. Für Silke und Rafał war das meiste neu. Das gefiel mir. Zeigen ist genauso schön wie Selber-Sehen. Klingt etwas nach der Poesiealbum-Weisheit ‚Geben ist seliger denn Nehmen‘7, aber solche Mitteilungen haben ja neben ihrer Verlogenheit einen wahren Kern. Und wem dieser hochmoralische Satz aus der Apostelgeschichte (20,35) im Lateinischen bedeutsamer klingt, der kann sich mit ‚Beatius est magis dare quam accipere‘1 in die Elite der Gebildeten einloggen.

7 Quelle: ‚Die Bibel – Neues Testament‘, Apostelgeschichte 20,35/www.bibel-verse.de

Fotos (4): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: DR pics (Touristenzug in Wernigerode), ArtOfPhotos (Vampir)

34 Kommentare zu “#31A – Ein erweitertes Hinterhauptsloch

  1. Homepage und Bierwirt passen ja irgendwie überhaupt nicht zueinander. Die Kombi von Tradition und Fortschritt mutet jedenfalls immer etwas seltsam an.

      1. Wenn der ‚Bierwirt‘ dann aber Kängeruh-Parfait an geeisten Kiwi-Blüten kredenzt, ist das auch eine Art von Etiketten-Schwindel.

  2. Dass Frankenstein in Ingolstadt erschaffen wurde, zumindest wenn es nach Mary Shelley geht, hatte ich völlig vergessen. Zu sehen gibt es aber wohl nicht viel, oder hat man mittlerweile einen Erlebnispark rund um die Geschichte gebaut?

      1. Das passiert, wenn man den Artikel auf dem Heimweg in der Tram auf dem Handy liest. In der Tat habe ich das überlesen. Mea culpa.

      2. Sie dürfen lesen, wo und auf was Sie wollen. Ich sorge dafür, dass es auch auf Breitwand hübsch aussieht und dass die Gramatik stimmt.

  3. ‚Zeigen ist genauso schön wie Selber-Sehen‘ klingt erstmal wie ein Kalenderspruch, ist aber natürlich wahr. Das fängt ja schon zuhause auf dem Sofa an. Der schönste Film macht viel mehr Spaß wenn man ihn mit jemand zusammen schaut.

      1. Genau, gemeinsam ärgern geht genauso gut wie gemeinsam schwärmen. Darum nervt es mich auch immer ein kleines bisschen wenn mein Freund beim Film einschläft 😉

  4. Diese kreischbunten Lokomotiven kenne ich, zumindest ähnlich, von anderen Städten. Ich frage mich immer was der Gedanke dahinter ist. Es kann ja eigentlich nur an Kinder gerichtet sein, aber der Anteil an Familien ist dann auch wieder so dünn, dass das irgendwie nicht zusammen kommt.

  5. Auf so einer langen Reise die Haustürschlüssel zu vergessen, wäre sicherlich weniger lustig. Ich habe vor einem langersehnten Urlaub (Langstreckenflug natürlich) mal meinen Reisepass zuhause vergessen. Das war ähnlich stresshaft.

    1. Ich habe es zum Glück früh genug gemerkt und eine gute Freundin hat ihn mir zum Flughafen hinterhergebracht. Nerven gekostet hat es trotzdem.

  6. Wie böse: „Am Ende bleibt der Untote im Sarg und die ungebissene Hauptdarstellerin nachdenklich, zumindest fände der Regisseur es schön, wenn der Protagonistin ein solcher Gesichtsausdruck gelänge.“ Aber als Horrorfilmfan stimme ich Ihnen ja auch irgendwie zu. Es gibt leider viel zu wenig gute Produktionen. Da wird oft nach dem immer selben Rezept gekocht.

    1. Meine – copyrightbedingte – Wahl des Schauerlichen am Anfang dieses Beitrags war auch nicht besonders einfallsreich, langte aber immerhin, um den Beitrag von facebook abgelehnt zu bekommen.

      1. Die Geschichte von der Dame mit abgerissenem Kopf und vergrößertem Hinterhauptsloch? Schauerlich und eigentlich auch unvorstellbar, aber Facebook ist doch sonst nicht so zimperlich!

  7. Gebäude retten kommt bei mir auch erst nach dem Schutz von bedrohten Tierarten, aber der Denkmalschutz hat doch sogar eine ganz gute Lobby!?

  8. Der Lautsprecher auf dem Klo ist ja immer ein Einrichtungs-Knaller. Aber toll, dass alles so schön hilfreich beschriftet ist. Den wandmontierten Flaschenöffner übersieht man ja doch leicht 😉

    1. Noch schöner ist wenn im Hotelzimmer die Preise an allen möglichen Einrichtungsgegenständen stehen weil so viel geklaut wird. Habe ich übrigens eher im 4**** Hotel in Urlaubsorten als in billigen Herbergen erlebt.

    1. An Bademänteln und Seifenspendern habe ich das auch schon gesehen und fand es ausgesprochen albern. Dass aber gleich die ganze Einrichtung als Souvenir mitgenommen wird, wäre mir auch neu.

  9. Ingolstadt ist eine Lektüre wert! Man greife zu den Büchern der Marieluise Fleisser aus Ingolstadt und wird eine literarische Entdeckung machen! Nicht nur, dass die Frau mit Bert Brecht verbandelt war und mit ihm um ihre Stücke rang. Sie rang auch mit der katholischen Kirche vor Ort, versuchte das Leben in Berlin und kam doch von Ingolstadt nicht los.

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