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1908
In der Blase  —   Süd nach Südwest

#46 – Weltkulturerbe und wir Erben

Zwei Ausflüge habe ich während unseres Aufenthalts eingeplant: einen nach Süden mit Mittagstisch, einen nach Norden mit Abendbrot – beide Mahlzeiten exquisit, wenn’s geht. Silke sollte nicht zu kurz kommen.

Scherz!

Ob ich 1968 mit meinen Eltern in Syrakus war, weiß ich nicht. Mit Harald 1974 war ich bestimmt da. Ich erinnere mich, dass wir pflichtschuldig durch Ruinen geklettert sind, und ich lese in alten Aufzeichnungen, dass wir in Syrakus auch übernachtet haben. Die Altstadt liegt auf einer Insel und ist wieder mal Weltkulturerbe. Eigentlich hat mich nur Pompeji wirklich beeindruckt, da konnte ich mir richtig vorstellen, wie das Leben dort gewesen war, selbst wenn ich es mir falsch vorstellte. Aber ich habe mir Korinth, Mykene, Delphi, Delos, Paestum und alles, was sonst noch in den Gegenden rumlag, auch aufmerksam angesehen. In den Filmen meiner Kindheit – ‚Quo Vadis‘, ‚Ben Hur‘, ‚Spartacus‘ – sah das deutlich eindrucksvoller aus. Gute Kulissen sind besser als die Reste von Untergegangenem. Das Echte hat mich nie mehr beeindruckt als die Fälschung, wenn sie gut gemacht war. Originale brauche ich nicht, weder im Louvre noch bei Louis Vuitton. Ich lasse mich gern betrügen, aber natürlich nur, wenn es klappt und ich nicht schon von Weitem rieche, dass die Suppe aus der Tüte stammt.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Am Tag nach Syrakus nahm Harald in Vittoria auf enger Gasse einem Einheimischen, der von rechts kam, die Vorfahrt: zwei Stunden Werkstatt! Besser als Abschleppdienst. Immer bleiben die Pannen im Gedächtnis frischer als die Sehenswürdigkeiten. Von denen gibt es einige in Syrakus, aber sie sind nicht ganz so eindrucksvoll wie die Geschichte der Stadt.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

Um 730 v.  Chr. von griechischen Siedlern aus Korinth gegründet, mehrere Jahrhunderte lang selbstständig unter der Herrschaft von Tyrannen. An deren Hof Aischylos und Simonides. „Platon lehrte […] Philosophie, und Archimedes entwickelte Kriegsmaschinen […].“1

Platon

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Archimedes

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Dann passierte alles Mögliche. 439 n. Chr. eroberten die Vandalen Syrakus, 493 die Ostgoten. Ab 535 drei Jahrhunderte lang Oströmisches Reich, von 663 bis 668 sogar dessen Regierungssitz statt Konstantinopels. 878 von arabischen Truppen eingenommen und bis ins 11. Jahrhundert Zentrum der Araber in Italien. 1038 byzantinisch, ab 1086 kamen die Normannen, 1221 Kaiser Friedrich II. aus dem Haus der Staufer. „In den folgenden Jahrhunderten […] Anjou, Aragon, Savoyen, die Habsburger und die spanischen Bourbonen […].“2 Wem Aufzählungen nicht reichen, der/die erfährt mehr in meinem Buch ‚Fast am Ziel‘Teil #46: ‚Spinnen Moslems, Juden und Christen?‘.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

Zur Unterscheidung zwischen Einst und Jetzt schreibe ich die Stadt für den neuen Besuch italienisch: Siracusa. Der erste Unterschied zu 1974: Altstadt für Autos gesperrt, wie überall. Parkmöglichkeit auch nach zweimaliger Umrundung der Insel nicht zu finden, wie üblich. Immerhin, gleich hinter der Brücke auf dem hässlichen Festland konnten wir einen Platz für Rafał und den Wagen finden. Ich musste weiterfahren: in meinem Rollstuhl, von Rafał geschoben, das erste Mal seit dem Strandausflug auf Sardinien. Einerseits genieße ich die Bequemlichkeit, andererseits schäme ich mich für meine unübersehbare Schwäche. Aber einerseits hätte ich den Fußmarsch durch die Stadt tatsächlich nicht geschafft, und andererseits hätten wir den Rollstuhl gleich im Sanitätsladen stehen lassen können, wenn ich mich ziere, ihn zu benutzen.

Fotos (7): Privatarchiv H. R.

Rafał schob mich mal durch zielführende Straßen, mal durch verkehrte. Silke lief mit. So sahen wir neben Unbedeutendem auch die Reste des Apollo-Tempels und schließlich auch den Domplatz. Silke und ich genossen den Anblick der Kathedrale vom Café gegenüber aus, Rafał ging sogar rein, dann lenkten wir unsere Schritte bzw. Räder zum Ristorante ‚Regina Lucia‘ auf der anderen Seite des Platzes. Das war mir im Internet als das beste erschienen. Wir wurden gleich in den Keller geführt. Das Lokal war erste Wahl, gut möglich. Wir waren jedenfalls die ersten Gäste, offensichtlich. Alles sehr elegant und fensterlos. Das Essen war gut, die Kellner bemüht. Es hätte auch in Los Angeles oder Bottrop sein können.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Rafał schob mich durch heiße Gassen zurück zum Auto und uns alle über die gut besuchte Autobahn zurück zum Hotel. Den Abfall am Straßenrand waren wir ja gewohnt. Dass sogar ein Polizeiauto anhielt, um seinen Dreck durch die geöffnete Wagentür zu entsorgen, fanden wir aber doch bemerkenswert. Wer soll vor solchen Wachtmeistern genug Respekt haben, um sie anzurufen, wenn er einen Unfall oder einen Mord beobachtet oder verursacht hat?

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Der zweite Ausflug führte uns am späten Nachmittag des nächsten Tages nach Taormina. Die Beschreibung dieser Unternehmung dürfte etwas ausführlicher ausfallen:

1966

Konflikt: Wiederholen will ich mich nicht, möglichst, aber kann ich so vermessen sein zu glauben, dass, wer das hier liest, auch schon alles gelesen hat, was ich früher mal geschrieben habe? Ausweg: Kurz bleiben (bzw. werden) und andere Wörter verwenden – mach ich bei Wikipedia-Zitaten auch immer so.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Das Jura-Studium bot mir wenig Spaß. Um es bleibenzulassen, bedurfte es keiner großen Überredungskunst, zumal mein Musik-Hochschulprofessor Gernot Klussmann mir sehr viel mehr Talent attestierte, als es die Juristen im Rechtshaus taten. Zu ihrer Ehrenrettung will ich zugeben, dass ich mich nicht so benahm, dass ich ihnen unbedingt auffallen musste. Um kein 68er zu werden, musste ich ja ohnehin noch zwei Jahre warten. Als es längst zu spät dafür war, sagte meine Mutter: „Du wärst ein sehr guter Strafverteidiger geworden!“ Da ich wusste, wie ungehemmt ich reden konnte, gab ich ihr recht. Und da sie die Anzeige der Deutschen Grammophon Gesellschaft entdeckt hatte, die meine Karriere einleitete, habe ich ihr und mir nichts vorzuwerfen. Zehn Jahre später sagte sie, wenn sie bei mir gegessen hatte: „Du könntest ein Restaurant aufmachen!“, was ich glücklicherweise nicht tat. Lieber wäre ich Popsänger geworden, weil ich so viele Stücke komponierte und textete. Aber da hatte mir meine Mutter ihr Talent vererbt, keinen Ton halten zu können, was für die Menschheit und für mich vielleicht auch ein Glück war. Jedoch: Um die große Italienreise mitzumachen, holte ich mir leichten Herzens an der Universität den Exmatrikulationsstempel mit dem ziemlich vagen Vorsatz, im Herbst weiterzustudieren.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Guntram hatte, zum ersten Mal seit meiner Geburt, als neuen Wagen keinen Mercedes, sondern einen Opel Admiral. Petra Gundlach, die Nachbarin meiner Freundin Tine, sagte vor unserer Garage: „Jeder Popel fährt Opel.“ Das habe ich weder ‚Petsi‘ Gundlach noch Guntrams Auto je verziehen. Zum Wagen sagte ich nur ‚Admiral‘: Das klang doch bedeutend, nicht wahr? Tines eingebildete Nachbarin nannte ich fortan ‚Petra Mundloch‘. Da sie ziemlich dünne Lippen hatte, saß die Bezeichnung und blieb ihr bis zu ihrem frühen Tod erhalten.

Foto: Antranias/Pixabay

Mit dem ‚Admiral‘ gingen Irene, ihre (bis zu dieser Reise beste) Freundin Erika, ihr hochblonder Sohn Hartmut und ich auf große Fahrt (vergleiche ‚#35A – Damals, mehrmals‘). Vierwaldstätter See, Gotthardtunnel, Mailand, Rom, Sizilien, alles erste Male für mich: 1964. Guntram kam mit dem ‚Vogel‘ geflogen, nach Neapel. Von dort fuhren wir über Nacht nach Palermo, mit der Autofähre. Den Wagen musste aber weder Guntram noch Hartmut auf das Schiff hieven. Das besorgte damals ein Kran.

Fotos oben: Privatarchiv H. R. | Foto unten: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Bis dahin hatten Erika und Hartmut den ‚Admiral‘ gesteuert, abwechselnd. Sowieso saß Irene nur ungern hinter dem Lenkrad, aber in einem so großen Fahrzeug stellte sich die Frage gar nicht erst. Mein Mangel an Fortschrittsglaube kam schon durch Nichtmitgliedschaft im Sozialistischen Studentenbund zum Ausdruck, aber mehr noch dadurch, dass ich mit zwanzig immer noch keinen Führerschein angestrebt hatte. Das chauffierende Mutter-Sohn-Gespann erfüllte seine Aufgaben allerdings nicht zu unserer vollen Zufriedenheit. Hartmut stopfte sich gleich im ersten Lokal in Italien das Päckchen Grissini aus dem Glas in die Tasche: „Haben wir doch bezahlt!“ Bezahlt hatte wie immer auf der Reise meine Mutter, und die hätte sich nie so danebenbenommen.

Kurz vor Rom stieg Hartmut an der Autobahn aus, um auf der auseinandergefalteten Landkarte einen Hinweis darüber zu finden, wie wir weiterfahren sollten. Ein freundlicher Italiener hielt an und fragte, ob er uns helfen könne. Hartmut antwortete mit: „Hau ab!“ In Rom selbst verlangte er zum Mittagessen als Vorspeise Ravioli, als Hauptgang Spaghetti. Als Irene ihn darauf aufmerksam machte, dass man normalerweise nicht zweimal Pasta bestellt, antwortete er selbstsicher: „Is’ mir doch egal.“ Irene wollte, schon durch ihre Herkunft bedingt, im Ausland immer alles richtig machen. Hartmut wollte, schon durch seine Herkunft bedingt, dass sich das Ausland ihm anpasst. Sein Vater war Offizier an der Ostfront gewesen und für seinen Führer gefallen. Seine Mutter war BDM-Frauenführerin gewesen und zum zweiten Mal verwitwet. Werner hatte sich nach zermürbender Ehe von ihr scheiden lassen wollen, starb dann aber glücklicherweise kurz vor dem Termin. Zumindest für den Tod ihres ersten Mannes konnte Erika nichts. Der zweite hinterließ ihr so viel Geld, dass sie sich eine elegante Wohnung an der Alster leisten konnte. Unter ihr wohnte Herr Rademacher, dem ein Reisebüro gehörte. Bei ihm hatte Erika unseren Aufenthalt auf Sizilien gebucht. Erwartungsvoll fuhren wir von Palermo nach Taormina, Guntram am Steuer. Ich saß ab jetzt hinten zwischen Erika und Hartmut.

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Talaj (Rollstuhl), Antoine2K (Säulen)

32 Kommentare zu “#46 – Weltkulturerbe und wir Erben

  1. Mit Grünkohl scherzt man nicht 😉 Offensichtlich, dass das Essen auf Sizilien anders aussah, Appetit bekomme ich beim Grünkohl-Teller trotzdem.

    1. Warum der arme Kohl in Deutschland immer stundenlang totgekocht werden muss verstehe ich allerdings nicht. Frischer Grünkohl ist ja nun wirklich lecker.

      1. Obwohl ich zurzeit in Italien bin, höre ich von Freund(inn)en, das die Temperaturen in Deutschland auf Grünkohl mit Pinkel dort nicht mehr Lust machen als am Nordpol auf Stachelbeerkaltschale.

  2. Ruft man in Süditalien nicht sowieso eher die Mafia anstelle der Polizei wenn man einen Unfall oder ein Verbrechen bemerkt? Oder ist das nur in schlechten Filmen so?

  3. Diese Weltkulturerbestätten finde ich schon spannend. Aber man darf auch wiederum keine zu hohen Erwartungen haben. Was die jeweiligen Urlaubsaufenthalte in meiner Erinnerung verankert hat, sind definitiv keine halb erhaltenen Säulen.

    1. Definitiv nicht. Meine liebsten Reiseziele machen sich auch nicht an diesen antiken Stätten oder besonders eindrucksvollen Kirchen fest. Aber es wäre ja auch schräg einen Ort zu besuchen ohne jegliches Interesse für dessen Geschichte zu zeigen.

      1. Der Anteil der Ballermann-Touristen, die das Castell de Bellver besichtigt haben, ist sicherlich nicht sonderlich hoch.

      2. Aber einmal Valldemossa gehört auch für Ballermänner und -frauen dazu. Eine fragte, als ich das letzte Mal da war: „Georg Sand – is das n Deutscha?“ Muss man nicht wissen, aber ein bisschen Vorbereitung schadet auch nicht.

  4. Die trockenen Grissini in italiienischen Restaurants finde ich immer ungeheuer unnötig. Ich meine klar, wenn der Service unendlich langsam ist und man 1 Stunde auf sein Essen wartet, dann knabber ich auch schon mal an den Dingern. Aber ansonsten wäre ein frischer Brotkorb doch tausendmal interessanter.

  5. Zweimal Pasta hintereinander kann man sich nur erlauben wenn man den Rest der Woche gar nichts mehr isst. Zumindest würde meine Strandfigur ziemlich darunter leiden.

      1. Guter Tip. Eines meiner Lieblingsgerichte bei meinem Stammitaliener in der Stadt.

  6. 1964 ging es also auch schon mit dem Admiral bis nach Sizilien. Diese langen Autoreisen haben also quasi Tradition. In meiner Familie gab es so etwas leider nicht, deshalb ist diese Art der Reise wohl auch nie in meiner eigenen Planung vertreten.

    1. Kann ja alles noch kommen 😉 Roadtrips sind fast meine liebste Art zu reisen. Man ist unabhängig und man hat die Möglichkeit alle Pläne über den Haufen zu werfen wenn es einem irgendwo besonders gut gefällt.

      1. Die Realität bietet schon Einiges. Aber erst recht der Film befände sich ohne Road Moovies dramaturgisch noch immer in der ganz frühen Farbfilmzeit: „Vom Wind verweht“. Ohne Schwarze natürlich.

      1. Früher waren solche Reisen spannender 😉 Oder zumindest hätte ich nichts besonderes über meine paar Fähren-Überfahrten zu erzählen.

  7. Das arme Regina Lucia, unbedeutend und charakterlos ist ja fast ein vernichtenderes Urteil als wenn es einem gar nicht gefallen hat. Spätestens beim Verlassen des Restaurants freut man sich aber wahrscheinlich, dass man doch nicht in Bottrop ist.

      1. Schon erstaunlich, dass da so einige Restaurants auf der Reise scheinbar äußerst schlecht besucht waren. Dabei gehen die Italiener doch so gerne raus und treffen sich zum gemeinsamen Essen. Schade.

  8. Was man so bezahlt im Restaurant, darüber kann man sich sicherlich streiten. Jedenfalls nimmt man in den seltensten Fällen den Salzstreuer oder die Tischblumen mit nach Hause. Den Kellner (natürlich nur einvernehmlich) schon eher.

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