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1906
In der Blase  —   Süd nach Südost

#29A – Vermutungen

Zurück zum Hauptschlüssel des Mercedes. Ich war mit ihm bis zum Restaurant ‚Hidalgo‘ gefahren, in dem wir mittaggegessen hatten. Danach war Guntram gefahren, offenbar mit dem Zweitschlüssel. Jeder von uns beiden war insgeheim sicher, dass er den fehlenden Schlüssel verschusselt hatte, sagte aber nichts. Für mich als Verlierer sprach die Häufung der Fälle, für Guntram, dass ich ihm alle anderen Dokumente auf dem Weg ins Restaurant übergeben hatte.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Nachdem wir an uns selbst und aneinander auf dem windig-kühlen Bahnhof jede mögliche Form von Leibesvisitation absolviert hatten und sich Irene unter jedem Sitz die Hand aufgeschlagen hatte, drangen wir ins Bahnhofsinnere ein, wo ich nach zehnminütigem Warten auf eine freie Telefonzelle den ADAC anrief. Der versprach auch, als nach weiteren zehn Minuten Klingeln jemand abnahm, einen Fachmann vorbeizuschicken.

Foto: Nehris/shutterstock

Unterdessen gab Guntram einem anlungernden jungen Mann auf dessen Bitte hin eine Mark. Anschließend war sein Portemonnaie weg. Völlig von allen Nerven und allen guten Geistern verlassen, kehrten wir zum Auto zurück und waren uns alle drei einig, dass man niemals mehr in seinem Leben jemandem eine Mark geben dürfe. Niemals! Das Portemonnaie fand sich dann aber doch in Guntrams Gesäßtasche wieder ein.

Der ADAC-Mensch kam auch recht ‚bald‘, was bei dem herrschenden Wetter ein relativer Begriff ist. Er war wirklich ein Fachmann, denn er sah sich den Wagen bloß kurz an und sagte gleich: „Da komm i net rein.“ Tröstend fügte er hinzu: „Wann’s das vorige Modell gewesen wär …“

Störender als der Gedanke, ohne Nachthemd im holpernden Zug wachliegen zu müssen, war die Idee, dass den Kofferraum zu öffnen gar nicht sehr lohnend wäre.

Foto: Severinson/pixabay

„Es ging ja so schnell, als ich den Deckel zuklappte“, sagte Guntram, „es war auch dunkel. Aber ich glaube, es wäre mir doch aufgefallen, wenn er leer gewesen wäre.“

Die zigeunerhaft anmutende Familie auf dem Parkplatz in Kiefersfelden begann allmählich, in den Blickpunkt des Interesses zu rücken. Sie hatte da so rumgehockt, teils im, teils am Wohnwagen. Guntram und ich hatten die Raststätten-Waschräume aufgesucht, während Irene vorn im Auto sitzen geblieben war.
––„Es ging ja so schnell“, sagte sie, „und es war auch schon dunkel, aber ich glaube, es wäre mir doch aufgefallen, wenn sie den Kofferraum aufgemacht hätten.“
––Leergemacht hätten.

Foto (links): Alan Levine/pxhere | Foto (rechts): Wikimedia Commons/gemeinfrei

Das half ja nun alles nichts. Es musste den Tatsachen ins Auge gesehen werden, und zu denen gehört, dass Guntram gegen Abend Hunger bekommt. Wir nahmen uns also eine Taxe und fuhren zunächst mal zur an der Bahnhofspharmazie angegeben Notapotheke. Unsere Necessaires befanden sich, wie gesagt, im Kofferraum, na ja, also jedenfalls nicht in unserem Gewahrsam.

Der Apotheker öffnete das Fensterchen ohne Anzeichen von Argwohn. Wir sahen eher nach herzkranker Großmutter in der ersten Etage unserer Bogenhausener Villa aus als nach Junkies vom Stachus, die Stoff brauchten.
––„Einmal Rhinospray und eine Dose Ohropax“, sagte ich beherzt.
––Er sagte nichts und ging weg. Wir sagten auch nichts, aber ich glaube, wir hatten beide das Gefühl, dass er unseren Wunsch für ein besonders blödes Ablenkungsmanöver hielt. Ich lugte verstohlen zu Irene, ob sie nicht doch aussah, wie ein Junkie vom Stachus. In der tuckernden Taxe saß, Schlüssel und Würschtel im Kopf, Guntram. Es hätte genauso gut unser Dealer sein können.

Foto oben (Symbolfoto): Y. Pieper/shutterstock | Foto unten links: SlayStorm/shutterstock | Foto unten rechts: zuttinee/shutterstock

Foto: Privatarchiv H. R.

Der Apotheker kam zurück, Rhinospray und Ohropax in der Hand und so etwas wie Betretenheit im Gesicht. Er nannte den Preis. Irene, die instinktiv spürte, dass man ihm irgendetwas Erklärendes schuldig war, sagte leidenschaftlich: „Vielen Dank, Sie haben uns aus großer Not gerettet!“ Der Apotheker verschwand, ohne einen Ton zu sagen, in der Dunkelheit seiner Diensträume. Irene und ich, wir gönnten uns beim Zurücksteigen ins Taxi einen bescheidenen Lachanfall.

Das Abendessen im ‚Spatenbräu‘ machte mir wenig Freude, obwohl ich mir Mühe gab, mich mit einigen Obstlern aufzumuntern. Immerzu dachte ich an meine verlorenen Aufzeichnungen in meiner verlorenen Tasche, und immerzu musste ich mich zwingen zu denken: „Vielleicht ist ja alles da und gut verschlossen. So schnell geht nichts verloren.“ – Die Erfahrungen meines Lebens hatten mich eines Schlechteren belehrt. Entsprechend unruhig schlief ich in der Nacht. Die Furcht rüttelte mich mehr als die Bahn.

Einen kleinen Spaß hatten wir vorher aber doch noch gehabt: Dieses Mal war es nicht Guntram, sondern Irene, die den Schaffner becircte, uns die zweite Kabine mit Zwischentür für ein Doppel aufzuschließen. Sie tat das mit den abgedroschenen Worten: „Es soll Ihr Schade nicht sein …!“ Guntram und ich lachten uns später in unserem daraufhin halbwegs geräumigen Appartement halb tot, und Irene lachte mit, schon damit nicht der Gedanke aufkommen konnte, es sei ihr mit der altmodischen Redewendung ernst gewesen, und die Bestechung selbst übernahm sowieso wie immer Guntram.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Über ‚Krankenkassen-Reden‘, wie mein Vater sie nannte, machten wir uns gern lustig.
––Gastgeber(in) an der Tür bei Entgegennahme von Blumen oder Konfekt: „Ach, das wär’ doch nicht nötig gewesen …“
––Da frotzelte Guntram schon mal kess: „Na, dann geben Sie’s wieder her!“
––Beim Angebot eines zweiten Stücks Kuchen: „O nein – ich will Sie nicht berauben …“
––„Aber bitte, nehmen Sie doch!“
––„Ja, dann bin ich mal so frei.“

Bei der Vorstellung der Teilnehmer einer Gesprächsrunde kurz nach dem Krieg freute Guntram sich über den unbedarften Veranstaltungsleiter: „Und vor allem begrüße ich ganz herzlich seine Wenigkeit, Herrn Professor Doktor Müller.“ Der verzog keine Miene. Die versierteren ‚Führungskräfte‘ saßen halt als Nazis in Haft oder als Verlierer in Sibirien.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Guntram mochte auch immer die Geschichte vom jungen Mann, der in Heidelberg studierte. Zu Sankt Martin wird er von einem Studienkollegen seines Vaters zum Essen eingeladen. Die Hausfrau platziert ihn an der langen Tafel mütterlich neben sich. Der gebratene Vogel wird aufgetragen. Er kommt in die Mitte des festlich gedeckten Tisches, und der Student sagt – halb verlegen, halb geschmeichelt: „Oh, ich sitze ja direkt neben der Gans.“ Die anderen Gäste räuspern sich leicht irritiert, so dass der Student rasch hinzufügt: „Ich meine natürlich die gebratene!“

Eine Mahlzeit in ungewohnter Umgebung bietet eben neben Geschmacksvielfalt aus inspirierter Küche auch reichlich Gelegenheit für Peinlichkeiten überforderter Esser. Über Derartiges konnte Guntram lauthals lachen. Natürlich nicht gleich am Tisch. Aber hinterher an unserem eigenen.

Foto: Privatarchiv H. R.

1970. Bei einem offiziellen Essen sitzt ein Konsulatsangestellter neben einem Afrikaner in Nationaltracht. Während der Vorspeise möchte der Deutsche höflich sein. Er wendet sich an seinen Nachbarn und fragt: „Hammhamm guutt?“ – Der Schwarze nickt gedankenverloren und nimmt einen Schluck Wein. – Der Weiße wird zutraulicher: „Gluckgluck guutt?“ – Der Schwarze nickt wieder und steht auf, nachdem die Teller abgetragen sind. Er bedankt sich für die Einladung und hält eine Rede über den Zustand der Beziehungen zwischen Nordeuropa und Zentralafrika – in fließendem Deutsch. Dann setzt er sich wieder und erkundigt sich bei seinem Nachbarn: „Blabla guutt?“

Foto: peerawat Songbundit/shutterstock

Und weil wir gerade dabei sind, noch einen Letzten. Zwei Fliegen sitzen auf einem Scheißhaufen. Sagt die eine: „Du, ich weiß einen unanständigen Witz.“ – Sagt die andere: „O nein! Aber doch nicht beim Essen!“

Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Krakenimages.com/Shutterstock (Mechaniker), Athina Psoma/Shutterstock (Ohrenstöpsel-Box), Privatarchiv H. R. (Nasenspray und Ohrenstöpsel)

31 Kommentare zu “#29A – Vermutungen

  1. Verlorene Portemonnaies, Handys, Schlüssel … sie alle finden sich meist in der eigenen Hosentasche, alternativ in Rucksack oder Handtasche wieder.

      1. So weit habe ich die Schusseligkeit noch nicht gebracht (oder sie mich). Im Gedächtnis bleiben ja nur die Male, bei denen der Verlust keine Täuschung war.

      2. Ich habe bisher nichts als wirklich verloren geglaubt was ich gleichzeitig in der Hand halte. Aber diese kurzen Momente, wo man aufschreckt und denkt „hab ich mein Handy eingesteckt?“ kenne ich auch.

      3. Ich hatte vor ein paar Monaten eine ganze Reihe von Situationen, wo ich etwas vergessen /verloren habe: Schlüsse, Portemonnaie, Jacke, Telefon… Entweder das Schicksal wollte mir etwas mitteilen oder ich werden einfach alt.

    1. Aber hallo! Ohne unternehme ich keine Reise mehr. Nachts wachliegen gehört so gar nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

  2. Den Trick mit der Zwischentür muss ich mir merken. Meine letzte Nachtzugreise war in einem Schlafabteil mit kaputter Heizungsanlage. Ich habe dann schweißgebadet in Unterhose versucht die Augen zumindest für ein paar Stunden zuzukriegen.

    1. Seine Wenigkeit sollte man auch öfters verwenden 🙂 Da stellt man gleich klar wie die Rollen verteilt sind.

      1. Oh ja. Die Regel ist ja meistens: je weniger jemand ist, desto weniger Humor hat er auch.

  3. Nanu, aber warum bekommt der ADAC-Mann denn den Kofferraum ebenfalls nicht auf? Für sowas gibt’s doch die entsprechenden Werkzeuge…

    1. Genauso wie der „Diebstahl“ des 1-Mark-Empfängers. Wenn was fehlt, hat man ja schnell andere in Verdacht. Und sind das drei Weiße und ein Schwarzer, dann ist die Richtung ziemlich klar. Bei drei weißen Bettlern und einem schwarzen Anwalt verschiebt sich der Argwohn. Wenn man das Gesuchte dann bei sich selber findet, hat man Zeit, sich zu schämen.

      1. Ja genau, solange man sich im Nachhinein wenigstens schämt falsch verdächtigt zu haben … von Vorurteilen kann sich niemand si einfach frei machen.

      2. Das sind halt so kleine Vorurteile, die wir alle haben. Und je unbekannter uns etwas ist, desto argwöhnischer betrachten wir das erstmal. Das ist auch nichts was uns antrainiert wird, sondern das taucht so oder so ähnlich bei Kleinkindern, Tieren etc. auf. Wir sollten uns weniger damit beschäftigen, dass wir alle gleich sind (sind wir nicht), sondern dass wir alle gleichwertig sind. Und damit auch die gleichen Rechte, Pflichten, Chancen, Jobs, etc. haben.

      3. Eigentümlich, das das Fremde sowohl reizvoller als auch unheimlichen ist als das Bekannte. In der Theorie sind alle Menschen gleichwertig. In der Praxis beurteilen wir sie aber doch nach ihren Taten (in Ordnung) und nach ihrem Herkommen, Aussehen, Bemehmen (ungerecht, aber unvermeidlich).

      4. Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom. Sagt auch Einstein.

  4. „Na, dann geben Sie’s wieder her!“ bzw. „Dann nehme ich’s wieder mit!“ habe ich auch schon einmal zuhören bekommen.

    1. Na dieses „Das wäre nicht nötig gewesen“ ist genauso eine komische Etikette wie „Wie geht’s?“. Beides ist gelogen und dient lediglich dem gegenseitigen Small Talk Geplänkel.

      1. Gelogen ist das nicht. Überflüssig wahrscheinlich. Aber soll man zur Begrüßung handschlaglos sagen: „Herr Schmidt, die Lieferung der GBDR-Turbinen erfolgt am 12.7.“ oder zur Tee-Einladung an der Haustür: „Frau Meyer, zur Obsttorte brauche ich Schlagsahne. Die kommende Generation hat so große Schulden abzutragen, dass ich mich dafür einsetze, das Wahlalter auf fünfzehn herabzusetzen.“? Small Talk ist genauso wichtig wie Argumente.

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