Renaissancefassade des Doms und zwinkernde Leuchtreklame am andern Ende der Piazza standen sich gegenüber und höhnten einander. Das bunte Licht blinkte siegesgewiss, in hypnotisierend einförmigem Rhythmus, aber das Portal bewahrte die Ruhe, der Feuerschlucker bewahrte die Ruhe, während die Flammen vor seinem Gesicht tanzten oder unsichtbar in seinem Schlund verschwanden. Die Menge, staunend oder belustigt, blieb ruhig, ein Raunen nur, das nichts Erschreckendes hatte.
Der Einzige, der sich aus der Reserve locken ließ, war ich. Mit meiner äußersten Wimper, der kürzesten von allen, sah ich, dass er ein paar Schritte näher gekommen war, und dann sah ich mit meinem Wirbel am Schopf, dem oft gezwirbelten, dass er hinter mir stand. Ich wendete mich um. Er stand gar nicht direkt hinter mir, es waren ungefähr drei Meter. Das sind so die Sekunden, die nicht mitgefilmt werden, auch nicht vom Gedächtnis. Oder doch? Ein Lächeln muss es wohl gewesen sein, eine geheime Übereinkunft. Zwei Menschen wittern etwas. Leidenschaft oder Opferbereitschaft? Etwas Glück, etwas Geld? Etwas.
Wir gingen nebeneinander, es fielen Worte. Wir gingen seine Richtung, weg vom Platz. Die Straße war belebt, zumindest nicht leer, sie war erleuchtet, jedenfalls nicht richtig dunkel. Noch konnte mir nichts passieren. Ich gehe nur mit Menschen mit, denen ich ansehe, dass sie harmlos sind – ich gehe nie mit Menschen mit, denen ich schon ansehe, dass sie harmlos sind.
Eine Seitenstraße, und wir standen vor einem Wagen. Ich ahnte es: vor seinem Wagen. Er schloss die Beifahrertür auf – für mich. Dann ging er um die Kühlerhaube herum und öffnete die Fahrertür. Er setzte sich und wartete darauf, dass ich einsteige. Als er merkte, dass ich zögerte, beugte er den Kopf zu mir hin und sagte etwas. Ich verstand plötzlich kein Wort Italienisch. Ich sah nur, dass er nicht vertrauenerweckend aussah. Er sah nicht aus wie jemand, der zu nichts fähig war, im Gegenteil, er sah zu allem fähig aus – weder schüchtern noch durchschaubar. Ich musste ihm das erklären. Ich ging auf die Fahrerseite, stand direkt vor ihm, die weit offene Tür schirmte mich gegen die Straße ab, und ich sagte in wiedergefundenem Italienisch irgendetwas, was ich nicht meinte. Er war bestimmt jünger als ich, Anfang dreißig. Ich kam mir nicht besonders draufgängerisch vor, an seiner Stelle hätte ich die Tür zugeklappt und wäre weggefahren, aber er nahm nur seine Hand und fasste dorthin, wo er – sehr zu Recht – meinen Schwanz vermutete. Ich hatte Irene so überstürzt verlassen, dass ich nicht, wie sonst immer, mein Portemonnaie weggelegt und mir nur zwei Scheine in den Strumpf gestopft hatte. Mein Portemonnaie mit allen Kredit- und Scheckkarten samt Bargeld ruhte in der sogenannten Gesäßtasche, seine Hand – ein wenig unruhiger – befand sich 30 cm weiter vorne. Er sagte, er habe Poppers. Ich spürte, wie meinem Körper die Jeans zu eng wurden, wie es wuchs und puckerte. Auf dem Bürgersteig flanierten die Menschen in der Dunkelheit, Freitag Abend, kurz vor zwölf, 18 °C hatten die Leuchtziffern am Domplatz gezeigt, und morgen würde Vollmond sein.
Foto: Tomer Dahari/Pexels
Ich sagte nichts. Ich ging am Kofferraum vorbei und stieg ein.
Er fuhr los, die Menschen wurden ungreifbarer, die Straße glitt dahin. Seine Hand fasste mein linkes Bein, eine vertrauenerweckende, beunruhigende Gebärde. Ein Gemisch aus Panik und Geilheit brodelte in mir. Die Ampel war rot, ich musste mich losreißen und rausspringen. Wenn ich nicht so verblendet wäre, könnte ich ihm etwas ansehen, was ihn zum Gauner prädestinierte – und zum Liebhaber.
Jörg hatte Furchterregendes berichtet. Bill wusste auch so allerhand Geschichten. Meine Erfahrungen mit Italienern waren hinreißend, aber das war Venedig gewesen, Florenz, Rom, Neapel. In Mailand wird nur geklaut und betrogen. Einfach rausspringen, ganz schnell und rein in die nächste Straße. Grün. Der Wagen fährt weiter. Wenn er erst aus der Stadt raus ist, habe ich keine Chance mehr. Was mach ich bloß? Die Autos stauen sich. Er hält. Raus und weg! Nein, das ist nicht mein Stil. Er fährt wieder. Vor einer breiten Straße muss er halten. Das ist meine letzte Möglichkeit. Ich höre mich sagen, dass meine Mutter auf mich warte. Ich habe den Schlag geöffnet, nein, ich stehe auf der Straße, Gott sei Dank, nichts und niemand kriegt mich wieder in dieses Auto – in New York, in London, in Paris: gefährlich, aber o. k. Doch in Mailand, mit den italienischen Männern, die ja alle, wie man sagt, gar nicht wirklich schwul sind, sondern nur eitel, und wenn sie’s machen, dann kurz und heimlich, und sie schreien „paura, paura“, wenn sie irgendwo ein Risiko wittern. Meine Erfahrungen waren ganz anders, bisher. Aber was sind meine kleinen Erfahrungen gegen die Übermacht von Freundeswissen? Er redet auf mich ein. „Tutti i stranierei hanno paura“, sagt er. Natürlich haben alle Ausländer Angst, sie wissen, warum. Und wenn mir jemand sagen würde, er müsse weg, weil seine Mutter warte, noch dazu jemand, der älter ist als ich, dann würde ich Gas geben und sehen, dass ich von ihm wegkomme, so schnell wie möglich. Wer nur einen Funken Geilheit im Leib hat, muss doch vor so einem zaudernden Fadling wie mir Reißaus nehmen – es sei denn, er ist auf sein Geld aus.
Obwohl es ja auch andere mit mir ausgehalten haben, als ich mich jungfräulich, zickig und pubertär gebärdete. Jahre her. Damals war ich jung. Was habe ich jetzt, wenn mein Erfolgsrezept ‚Ran an die Buletten!‘ außer Kraft gesetzt ist? Was, außer einem teuer wirkenden, herabgesetzten Sakko und einem prallen Portemonnaie in der Arschtasche?
Hinter ihm hupen die Autos. Er fährt über die breite Straße hinweg in eine enge, ich laufe – lächerlich genug – nebenher. Er parkt neben einer Baustelle. Die Wagen müssen sich mühsam an seinem Auto vorbeiquälen. Die Fußgänger drücken sich irritiert an die Hauswand.
Ich steige wieder ein. Es ist eine ruhige Straße, wenige Fußgänger, von Zeit zu Zeit ein Motorrad, ein Fiat.
Ich kann das nun alles auch nicht mehr aushalten.
Ich gab ihm recht, das ging hier einfach nicht. Die Leute, die Autos: nicht ständig, aber immer wieder. Er fuhr los. Bis ans Ende der Welt, dachte ich. Die nächste Ecke führte zu einer Sackgasse, acht Häuser nur auf jeder Straßenseite. Er parkte in einer Einfahrt. Wir stiegen aus und schlüpften durch die Hintertüren wieder hinein.
Wieso war er so nackt? Wo waren seine Hosen, seine Schuhe? Da waren nur Lippen, Augen, Körper und um uns nichts. Wie schön sind Windschutzscheiben, besonders beschlagene! Mitten in Mailand schwammen wir in unserer Waschküche, unserer Arche, unserer Sintflut. Eben noch unbekannt und schon für immer vereint. Dieses unsinnige Misstrauen hätte mir fast alles verdorben.
Ich fasste nach meiner hinteren Hosentasche: leer! Kein Zweifel, leer! Er hatte meine Benommenheit ausgenutzt und das Portemonnaie weggezogen. Aber es konnte nur hier hinten irgendwo sein. In seiner Jacke? Ich tastete ihn liebevoll ab, unten rum war er ja nackt. Ich nestelte zwischen den Sachen hinter der Bank. Er merkte wohl etwas. Vielleicht würde er gleich ein Messer oder eine Pistole rausholen. Würde ich dann zuschlagen? Ich schmiegte meinen Kopf gegen seinen Rücken – und sah mein Portemonnaie auf dem Boden liegen. Es war mir aus der Tasche gefallen. Kann ja vorkommen. Ich schämte mich ziemlich.
Wir lagen in Mailand auf der Straße, im Auto. Wir sagten uns unsere Namen. Es war unfassbar. Ich musste das wieder haben, ich musste das noch mal spüren. Er auch.
Irgendwann öffnete ich ein Fenster. Jemand ging vorbei. Sein Komplize? Ein Auto kam. Ich saß in der Falle! Es wendete, drehte ab. Ich sagte, ich würde zu Fuß zum Hotel gehen. Frischluft! Nein, sagte er, es sei ziemlich weit. Warum sagte er das? Weil er mich – erst der Spaß, dann die Arbeit – doch noch irgendwohin schleppen wollte, von wo aus es kein Entrinnen gab?
Schäbige Unterstellung. Ich ließ mich fallen. Er fuhr los, um Ecken. Er zeigte mir seine Mütze mit Aufschrift „One Way“. Er zeigte mir Bilder. Fleisch von meinem Fleisch, aus selbem Holz geschnitzt. Ach ja, selbst dann, wenn ich jetzt noch übertölpelt werden sollte. Wir stiegen aus, er hatte den Wagen am Domplatz geparkt. Zum zweiten Mal an diesem Abend überquerten wir die Piazza. Wie hatten wir die Zeit genutzt! Kein mühsames Gestakse und kein peinlicher Abschied. Wir kannten unsere Namen, und er sagte mir, dass er mich toll fände, schön fände. Ich badete mich in den unverdienten Komplimenten und fühlte ihn unterm Trenchcoat. Er wusste, dass er der knackigste Bursche von Mailand war und erwähnte es, leichthin grinsend.
Vor der Hoteltür verabschiedeten wir uns zerschmelzend, er gab mir ein Bild von sich und seine Adresse, und er war so schön, so schön.
Wir nahmen uns in die Arme, und nun las ich es in seinem Gesicht: Es war nichts Kriminelles, es war meine Hemmungslosigkeit, mein Schmerz, mein Glück. Nur jünger, schöner, unbekümmerter. Er ging und drehte sich nicht mehr um.
Im Spiegel, im Fahrstuhl sah ich, wie zerzaust ich war. Ich öffnete leise die Tür. Irene hatte ein Tuch über dem Gesicht. Das Licht war an. Ich zog mich aus und ging ins Bett. Zähneputzen kam nicht infrage. Ich wollte nicht aufhören, Carlo zu schmecken. Irene nahm eine Tablette und löschte das Licht. Gesprochen wurde kein Wort.
Foto oben: Oggogg/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 | Foto unten: Neven Krcmarek/Unsplash | Illustrationen (15) im Beitrag: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Yongkiet Jitwattanatam (Vollmond), Voraorn Ratanakorn (Wolken), Dragon_Fly (Hand)
Was für eine Geschichte! Für solche Erlebnisse kann man Sie tatsächlich nur beneiden.
Ich wollte halb durch den Artikel eigentlich schreiben, dass ich für so etwas nie die Nerven hätte. Aber wenn man am Ende sieht, wohin dieses Abenteuer geführt hat, dann muss man im Alltag vielleicht doch offener für solche ungewöhnlichen Situationen sein.
Dafür muss man aber auch einfach der Typ sein. So eine Geschichte passiert sicherlich nicht jedem.
Gelungene Bebilderung 😉
Hab ich ziemlich drum gekämpft.
gefällt mir auch. sehr überraschend als abwechslung zu den bisherigen blogtexten.
Heutzutage organisiert man diese Abenteuer einfach per Smartphone. Wahrscheinlich deutlich sicherer als als in dunklen Gassen, aber mit Sicherheit auch ein ganzes Stück weniger aufregend.
Treffen muss man sich am Ende ja doch im echten Leben. Auch da kann es also noch zu bösen Überraschungen kommen.
Man hat zumindest die Chance sein Gegenüber im Vorhinein so gut es geht abzuchecken. Aber klar, am Ende muss man sich auch dann auf sein Gespür verlassen.
Wie besonders solche Momente doch sind, wo sich zwei fremde Menschen zufällig begegnen und irgendeine Art der Verbundenheit spüren. Sei es sexuell oder in welcher Form auch immer.
Genau so: „Eben noch unbekannt und schon für immer vereint.“
„As if you were on fire from within, the moon lives in the lining of our skin.“ Tja der Vollmond…
Die Stunde der Werwölfe und die Stunde der ungezügelten Leidenschaft 😉
Vollmond, Feuerschlucker… man hätte sich das Szenario in der Tat nicht besser ausdenken können. Es ist doch immer wieder spannend, was das Leben für Geschichten bereithält.
Ich bin dankbar, dass ich die Ereignisse damals schriftlich festhalten konnte in einer Form, an der ich jetzt im Alter nichts ändern, nichts erfinden und nicht allzu viel weglassen muss …
Dabei sind die Sachen die man weglässt oft ganz entscheidend 😉
Solche Momente, wo Zähneputzen außer Frage steht, kenne ich auch
Zählt da auch der Geschmack von leckerem Essen? 😉
Eher nicht. Küssen nachzuschmecken ist sinnlicher als selbst den köstlichsten Knoblauchkäse ungezahnputzt mit in die Nacht zu nehmen.
hahaha, klingt logisch
Hemmungslosigkeit, Schmerz, Glück… so muss das Leben oder zumindest die Jugend sein.
Vornehmen kann man sich das wohl nicht. Aber in der Rückschau zu erkennen: Ja, das war’s! Und richtig war’s! das macht wohl ein bisschen gelassener als zu denken: Hätt‘ ich bloß!
„Hätt‘ ich bloß“ ist wohl auch das Schlimmste, was man sich im Alter sagen kann. Da gesteht man sich ja quasi ein sein Leben falsch oder sogar überhaupt nicht gelebt zu haben.
Und Sie haben auf der gemeinsamen Reise immer das Zimmer mit ihrer Mutter geteilt? Das ist ja doch ungewöhnlich.
Ich glaube mehr als die potentielle Gefahr in dunklen Gassen hätte mich die Begleitung von meiner Mutter von solch einem Abenteuer abgehalten. Aber offensichtlich hatten Sie beide ein weitaus besseres Verhältnis als es bei mir selbst der Fall war.
Es wurde immer darauf geschoben, dass ein Doppelzimmer günstiger ist als zwei Einzelzimmer. Nur sehr allmählich habe ich meine Mutter abgehärtet gegen meine Eskapaden, und auf dieser Reise war das offensichtich noch nicht gelungen. Ein Jahr später in Tokio und Sydney klappte es schon besser. Da konnte sie dann ja auch nicht mit der nächsten Bahn Nachhause fahren …