Dann kamen wir an. Das Hotel war keins. Es war ein an der lauten Landstraße gelegenes, ziemlich kleines Gebäude, weder am Meer noch im Ort. Die Zimmer waren alle schrecklich, aber als Irene die Kammer sah, in der ich mich schmal machte, bekam sie einen Lachanfall.
Foto: Lokilech/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Dieses Bild ist nur leicht übertrieben.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, dem Meer zugewandt, befand sich eine großzügige Anlage. ‚La Rocca‘, zu deutsch: ‚Die Festung‘. Irgendwie eroberten meine Eltern diese Festung und schafften es auch, uns für den nächsten Tag aus unserer gebuchten Unterbringung auszulösen. Wie, weiß ich nicht. Ich war ja noch Kind. Erst im nächsten Jahr würde ich volljährig werden (damals mit 21) und den Führerschein machen, und in sieben Jahren würde ich sogar in meine erste eigene Wohnung umziehen. Da lag noch viel vor mir – zunächst aber der Aufstieg nach Taormina. Eine lange, lange, steile Treppe führte bergaufwärts zum Ort. Wir gingen sie rauf, sahen und tranken einiges und gingen sie dann wieder runter. Dabei leistete ich mir einen Fehltritt. Tollpatschig war ich schon immer, aber es blieb (bisher) das einzige Mal, dass ich mir den Fuß verstauchte.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Die Nacht war grässlich. Ich hatte starke Schmerzen und lag die ganz Zeit wach in meinem Kabuff, aber am nächsten Tag zogen wir um. Erika und Hartmut auch. Ich bekam einen sehr kleinen Bungalow ganz für mich, auf der winzigen Terrasse saß ich, schrieb und sog den Duft von Orangenblüten ein. Noch war mir unbewusst, dass ich nicht nur am ersten meiner vielen unveröffentlichten Romane schrieb, sondern auch am letzten, dessen Veröffentlichung ich gar nicht anstrebe, vielleicht auch deshalb, weil ich keine Ahnung habe, ob es das Manuskript noch irgendwo gibt.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Im Laufe des Tages wurden meine Schmerzen weniger und waren am folgenden Tag fast weg. Die Treppe gingen wir trotzdem nie wieder, sondern fuhren gegen fünf mit dem ‚Admiral‘ nach oben. Der Weg vom Parkplatz zum Ortskern war nicht weit. Wir saßen immer vor demselben Café, tranken Campari und gaben Menschen, die immer wieder die Bühne kreuzten, Namen, worin besonders Guntram höchst erfinderisch war. Am besten erinnere ich mich an den ‚Nickelzahn‘, einen ziemlich runtergekommenen Italiener, ‚das Gefräß‘, eine Dame mit ausladender Kinnpartie, und ‚Ordinärchens‘, ein deutsches Ehepaar mit Sohn.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
In Taormina hatten vor uns schon Wilhelm II., Richard Wagner, Guy de Maupassant, Emil Nolde und Tennessee Williams gesessen. Vielleicht im Grandhotel ‚San Domenico‘, dessen Halle und Garten wir mit Ehrfurcht und Sonntagskleidung betraten.
Foto: gnuckx/Wikimedia Commons, CC BY 2.0
Erika trug vorzugsweise weiße Bluse und dunkelblauen Blazer und wurde dafür von Guntram ‚Provinzgans‘ genannt. Er mochte Erika nicht besonders und erwähnte gern mal ihre Bund-Deutscher-Mädel-Karriere zur Nazizeit. Dabei hatte Irene sie in Berlins elegantestem Damengeschäft kennengelernt: ‚Horn‘. Dort war Erika vor ihrer zweiten Ehe Empfangsdame gewesen und musste den Berlinerinnen, denen das Schicksal der Trümmerfrauen erspart geblieben war, so charmant ‚Guten Tag‘ sagen, dass sie dort möglichst viel Geld ihres am Aufbau oder Schwarzmarkt verdienenden Gatten ausgaben. Damit Erika auch mal ‚Guten Abend‘ sagen durfte, lud meine Mutter sie auf das Kostümfest ein, das meine Eltern 1948 in ihrer gerade erworbenen, zurechtgeflickten Ruine im Grunewald veranstalteten. Da haben Erika und ihr zweiter Mann sich zum ersten Mal getroffen. Von da an reisten und stritten sie viel.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Guntram trat ihr nie näher, sondern gewährte ihr höchstens mal einen Handkuss (als Geber), und ich siezte sie bis zu ihrem Tod. Der trat aber erst viele Jahre später ein. Zunächst, in Taormina, erklommen wir an einem der Nachmittage das antike Theater. Ansonsten ließen wir uns an jedem der Vormittage in die Liegestühle fallen.
Foto oben: WiDi/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 | Fotos unten (3): Privatarchiv H. R.
Mittags gab es auf unserer Festung ein Büfett auf der großen Terrasse über dem Meer. Stimmung, wie von Renoir gemalt. Das Beste war der ganze gekochte Lachs mit Knoblauchmayonnaise. Da konnte man sogar zweimal zulangen.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Das Abendessen drinnen war weniger spektakulär. Vor dieser Abfütterung rückten wir an einem Abend aus nach oben, zu Taorminas schönstem Restaurant. Leider bekam ich nicht einen Bissen runter. Ich sah den Kellner, der an unseren Tisch kam. Sofort war ich blockiert. In zwei Jahren und vier Monaten würde ich zum ersten Mal etwas ‚mit einem Mann haben‘. Zwar wurmte es mich später, dass ich nicht früher losgelegt hatte, aber ich konnte mich rasch trösten, dass ich ziemlich fix beim Aufholen war.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Es wäre wirklich gut, die Geschichte zu diesem Video nicht zu erzählen. Ich hoffe deshalb, dass ich sie sofort streichen werde, nachdem ich sie zwanghaft aufgeschrieben habe. Also, ‚zwei Jahre und vier Monate‘ später sprach mich, als Irene und ich am Samstagvormittag die üblichen Besorgungen in Othmarschens turbulentester Einkaufsstraße machten, ein Mann an. Irene war gerade in einem Laden, es wird wohl die Apotheke gewesen sein, da war sie auf meine Ratschläge nicht angewiesen, und ich gucke lieber Leute an als Medikamente.
Foto oben: Karl-Heinz Wangel (Sammlung HOV)/mit freundlicher Genehmigung des Hamburger Omnibus-Vereins e.V. | Fotos unten (2): Privatarchiv H. R.
Der Mann fragte mich, ob wir uns nicht von – ich weiß gar nicht mehr woher – kannten. „Da war ich noch nie“, sagte ich. Mädchen fanden es schon damals penetrant, ‚angemacht‘ zu werden. Ich fand es toll. Attraktiv war er auch. Ob wir uns nicht trotzdem wiedersehen könnten, fragte er. Ich fand das … – weiß nicht, wie ich das fand. Ich nannte ihm einen Termin um 12 Uhr gleich am Sonntagvormittag. Das schien mir eine Zeit, zu der mir nichts passieren könnte. Der Tee zieht nicht mehr und der Sex ist noch nicht wach. Die Messe, in die ich nicht mehr ging, war vorbei. Das Mittagessen, das damals noch überwiegend Irene zubereitete, stand erst um halb zwei an. Eine Abfuhr an einen Verführer als Frühschoppen wäre doch ganz lustig, dachte ich. Allmählich wurde es ja Zeit, Gott zu beweisen, wie standhaft ich war. Der Teufel war natürlich auch ziemlich interessiert. Ich enttäuschte bzw. befriedigte beide.
Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: ANCH (Orangenblüten), kavalenkava (Turm)
Der erste (unfertige) Roman mit Anfang 20, und nun ein sich kontinuierlich erweiternder Blog. Konsequent in ihren Leidenschaften sind Sie jedenfalls.
Störrisch.
Kommt ja auf das gleiche raus 😉
Was einem wichtig ist, lässt man so einfach auch nicht los. Glückwunsch übrigens noch zur Buchveröffentlichung von „Fast am Ziel“. Ich hatte das Banner vor kurzem erst oben gesehen!
Danke. Ein Text in der Hand ist für viele doch immer noch etwas anderes als ein Text auf dem Display.
In der Tat. Und auch nochmal eine ganz andere Erfahrung diese Art der Reise-Tagebuch-Einträge in einem Rutsch zu lesen. Bravo!
Ich habe das Gefühl man wird heute kaum noch einfach so auf der Straße angemacht. Die unvermeidbare Realität der Datingapps? Oder doch schon das Alter?
Oder man ist selbst zu gestresst um die gelegentliche Anmache als solche wahrzunehmen?
In Masken-Zeiten muss man sich ja fast die Augen rausblinzeln, um auf 1,50m Abstand als Flirtpartner(in) noch wahrgenommen zu werden. Coronese und Coronesse bevorzugen es inter-nett.
Stimmt, dank Corona ist man jetzt selbst unter Menschen allein. Völlig körperkontaktlos, abgeschirmt und dauerdesinfiziert geht es weiter durchs Leben. Wie diese Normalität aussehen wird, von der man ab und an hört, interessiert mich ja schon.
Es hieß, die Pandemie sorge für Solidarität. Inzwischen sorge ich mich, dass sie zur Entfremdung führt.
Dieses antike Theater und im Hintergrund der Etna … WOW!
Das moderne Theater mag Darsteller auf leerer Bühne. Ich bevorzuge Kulisse.
Das ganz moderne Theater wird jetzt wohl noch leerer. Sowohl auf der Bühne, wie auch im Zuschauerraum. Oder man erfindet sich vielleicht nochmal ganz neu, wenn der Zustand sich nicht weiter verbessert.
Andersherum. Vielleicht sollte man dann einfach wieder draußen im Amphitheater (oder innerstädtisch einfach auf öffentlichen Plätzen) spielen. Bis die Theater wieder voll werden wird es ja wirklich noch eine ganze Weile dauern.
Mina kannte ich ja zugegebenermaßen überhaupt gar nicht. Was für ein tolles Outfit. Das ist doch bestimmt schon mal von den amerikanischen Stars (Gaga?) kopiert worden.
‚Se telefonando‘ bedeutet ‚wenn beim Telefonieren‘ (ich dir sagen könnte …) Ich dachte schon, dass diese schwarzen Eigentümlichkeiten Telefonkabel sein könnten. Ein Rindfleischkleid, wie Gaga es trug, wäre damals sinnlos gewesen: Es gab noch keine Veganer.
Ordinärchens, hahaha! Ja die trifft man überall 😉
Neudeutsch nennt man da wohl „Basic Bitches“, aber inhaltlich hat sich da wohl nicht viel geändert.
Ich lese auch beim zweiten Anlauf wieder „zurechtgefickt“. Zeit ins Bett zu gehen.
Freudscher Verleser.
Vielleicht bekommen Sie bei ‚genagelt‘ weniger anzügliche Assoziationen.
Die ganze Zeit wach habe ich nun ebenfalls gelegen. In meinem Fall lag es aber eher an den partywütigen Jugendlichen vor meinem Fenster als an der Unterkunft an sich. Das kommt davon wenn man auf Geschäftsreisen möglich zentral sein möchte.
‚Zentral‘ ist in der Hotel-Fachsprache der Ausdruck für ‚lärmig‘.
Ein guter Vorrat an Ohropax hilft doch schonmal gegen das größte Übel
Gegen Quietscher ja, gegen Brummer nein. (Meine Erfahrung)
Vor allem gegen betrunkenes Geschrei auf der Straße sind die Stöpsel wenig wirksam.
Dass überhaupt irgendjemand glaubt Gott würde es interessieren mit wem wir unsere Zeit im Bett verbringen…
Wer meint, Gott würde nicht unter den Rock oder die Bettdecke kucken, braucht gar nicht erst anfangen zu beten. Was soll an Worten interessanter sein als an Tatendrang?
Dieser Gedanke ist doch um einiges spannender und unterhaltsamer als die Idee, dass da jemand nonstop das Weltgeschehen lenkt.
Spätzünder sein ist ja auch wieder nur eine reine Perspektivfrage. Für den offen und sexuell aktiven 16-jährigen heißt das etwas anderes wie für den seine Sexualität verdrängenden 60-jährigen.
Man möchte gar nicht wissen wieviel Leid durch das Unterdrücken der eigenen Sexualität entsteht. Meistens ja dann nicht nur für sich selbst, sondern auch im Umgang mit anderen Menschen.
Ich möchte es schon wissen. Aber die schrankenlos ausgelebte Sexualität kann, glaube ich, als Leidverursacherin bei Schadenden und Geschädigten uneingeschränkt mithalten.