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In der Blase  —   Süd nach Südwest

#50 – Nur 20 Prozent Männer

Am Sonntag ist Ruhetag. Von wegen! Alle haben nur ein Ziel: San Gimignano – der Ausflug des Jahres. Je näher wir dem Örtchen kommen, desto desolater die Parkverhältnisse. In einem Unterdeck, Tief-Etage von der Einfahrt aus, fährt jemand raus, Freiluftkeller gewissermaßen, die Platzsucher schwirren los wie Schmeißfliegen zu einem frischen Haufen. Rafał schlägt blitzschnell zu. So stelle ich mir den Vorverkauf für das Abschlussspiel der Fußballweltmeisterschaft vor. Oder Helene Fischer im Olympiastadion. Endlich kommt mein Rollstuhl wieder zu seinem verdienstvollen Einsatz! Den ganz steilen Anstieg bis zur Stadtmauer mute ich Rafał nicht zu, und auch danach quäle ich mich tapfer durch die Menge. Von 1968 habe ich es hier leerer in Erinnerung. War aber auch kein Sonntag.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Hinter einem Platz kommt noch ein Platz, und da gibt es sogar Platz für uns in einem Ausschank: Café oder Bar. Mit weitem Blick auf die stummen Häuser und die lauten Massen. Komisch, ich genieße das. Der Wirt erklärt mir das Geheimnis seines Negroni. Er nimmt einen ganz bestimmten Wermut. Ich nehme einen zweiten, damit ich die Zusammensetzung auch genügend würdigen kann. Silke und Rafał bewegen sich durch den Trubel und bewundern einen Umzug: Menschen in Garderobe wie aus der Renaissance, also ‚frei und würdevoll zugleich‘, Trommler und Herolde. Der Zug kommt herauf vom Domplatz, immer näher, und dann überquert er die Piazza delle Erbe, an der ich sitze. – Logenplatz.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

Ich bin ausgelassen. Vom zweiten Negroni? Nichts, was mir wichtig war, habe ich ausgelassen. Und jetzt? Oft fühle ich mich so daneben, dass ich fürchte, auch andere könnten das merken. Einige jedenfalls. Denn vieles berührt mich einfach nicht mehr. Nicht jeder Hype versetzt mich in Aufruhr. Im Gegenteil. Ich möchte die Suppe aus der letzten Schildkröte essen und der letzten Eisscholle des letzten Gletschers beim Schmelzen zugucken. Das erinnert mich an im Sprachmeer versinkende Worthülsen wie ‚bio‘, ‚nachhaltig‘ und ‚Fairtrade‘, die schon auf jeder Tütensuppe und in jeder Polyesterbluse stehen. Während ich wunschlos unter dem Sonnendach sitze, kommen mir all die aufwärtsstrebenden Pilger so geschäftig, so zielsicher vor. Ich beneide sie nicht. Niemanden beneide ich. Der Stammtisch, den es vielleicht nur noch im Sprachgebrauch gibt, sinniert bei zünftigem Skat und etlichen Kurzen: „Was machen die da oben eigentlich?“ – Antwort: „Die meisten Politiker leben doch abgekoppelt in ihrer Parlamentsblase. Halten sie es dort vor Machthunger gar nicht mehr aus, dann verkünden sie auf Twitter und auf der nächsten Pressekonferenz: ‚Wenn ich gerufen werde, bin ich bereit, mich der Verantwortung zu stellen, um den Bürgerinnen und Bürger zu dienen und den Markenkern unserer Partei wieder deutlich zu machen.‘ – Siebenundzwanzig.“ – „Passe!“ – Und wieder zwei Stimmen für die AfD gewonnen. Seufzen, Mischen, Geben. Das nächste Spiel.

Foto oben links: Stefan/Flickr | Foto oben rechts: Privatarchiv H. R. | Fotos unten (2): Privatarchiv H. R.

Noch einen Negroni? Erst bin unschlüssig, dann verzichte ich. Wer genau weiß, was er will, ist nicht in jedem Fall zu beneiden. Entweder wird er belacht oder berühmt. Der Unterschied, ob man berühmt wird, weil man fasziniert war von einem Geheimnis, das man entschlüsselt hat (Chemie, Physik), oder ob man berühmt wird, weil man einen Krieg gewonnen oder ein paar Lieder hübsch gesungen hat, das sollte unterschiedlich stolz machen. Tut es das auch? Die beiden besonders interessanten Fragen sind doch die: Warum schaffen ‚es‘ manche Menschen, warum manche (viele) nicht. Wille, Vorsehung, Zeitgeist, Talent, Fleiß, Skrupellosigkeit, Sendungsbewusstsein? Und was macht es mit denjenigen, die ihr Ziel (nicht) erreichen? Die Lottomillionen, den Nobelpreis, die Gleichheit der Menschen, den Glauben an das Gute. Da denke ich immer an Bizet. Er erlebte noch den niederschmetternden Skandal bei der Uraufführung von ‚Carmen‘ – dann starb er, mit sechsunddreißig. Dass sein Werk die meistgespielte Oper aller Zeiten wurde, hat er nicht mehr erfahren. Auf dieses Schicksal können sich seither alle herausreden, die es zu Lebzeiten nicht geschafft haben, berühmt zu werden.

Foto oben links: Instituto del Patrimonio Cultural de España/PICRYL/Public Domain | Foto oben rechts: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten links: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten rechts: Luigi Caputo/Wikimedia Commons, CC BY 3.0

‚Die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze‘, hieß es früher. Das galt vor allem für Schauspieler, betraf aber auch Dirigenten und Interpreten. Seit es Schallplatte und Film gab, galt diese Einsicht nicht mehr. Aber jetzt? Im digitalen Zeitalter werden die neuen Ideen so schnell weltweit verbreitet, dass für die Aufarbeitung unterschätzter Vergangenheiten kaum noch Zeit bleibt. Alle reden von Nachhaltigkeit, aber viele Menschen unseres Kulturkreises sind so befangen in ihrer Kurzlebigkeit, dass sie es nicht schaffen, einen Film aufmerksam von Anfang bis Ende zu verfolgen, ein Buch von Anfang bis Ende zu lesen. Männer sind noch viel ungeduldiger als Frauen. Was den Umfang einer WhatsApp-Mitteilung überschreitet, wird oft intellektuell nicht mehr erfasst, und täglich kommt Neues dazu. Wer kann da noch einem Bildungskanon trauen? Gelesen wird überwiegend von Frauen: 80 Prozent Anteil am Buchmarkt haben sie. Ein bisschen Kultur gehört immer noch zur Weiblichkeit dazu, bei den Männern reicht der Sport. Blasen, lauter Blasen. Wenig Verständigungsmöglichkeit zwischen den unterschiedlichen Lebensformen trotz allumfassender Globalisierung. Der Einzelne ist vom Alleskönner zum Spezialisten geworden. Wahrscheinlich wird die Menschheit in hundert Jahren – voll durchdigitalisiert – eine andere sein, noch weit mehr eine andere, als sie das seit fünfhundert Jahren von Generation zu Generation ohnehin ist. Es schmerzt mich nicht, dass ich das nicht mehr erleben werde. Höchstens schmerzt es mich, dass mich das nicht mal mehr schmerzt: altes Eisen. Was ein Edelmetall bleibt und was Schrott ist, das beurteilt die Nachwelt nach ihren Maßstäben.

Foto links: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto rechts: Pxhere/gemeinfrei

Ich will – ach nein, ich muss – mich damit begnügen, dass ich die 20 Prozent Männer (Minderheiten first), die 80 Prozent Frauen und die prozentlosen Lebewesen, die sich keiner von beiden Gruppierungen zuordnen wollen oder können, dass ich all die so professionell wie möglich motiviere: Neckereien und Leckereien. Damit ich sie bei der Stange halte, die man Treue nennt.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Wer berühmt werden will, hat in jedem Fall mehr davon, wenn er es schon zu Lebzeiten wird. Aus der Hölle raufzugucken, verursacht Genickstarre. Ob damals im irdischen Leben berühmt gewesen zu sein wirklich Spaß gemacht hätte und ob man später womöglich noch das eigene Vergessenwerden bei lebendigem Leibe hätte miterleben müssen, diese Fragen trösten die, die es nicht geschafft haben, manchmal, aber nicht immer. Was bedeutet es, berühmt werden zu wollen, berühmt zu sein (geplant oder nicht) und schon zu Lebzeiten das Verblassen des eigenen Ruhms zu erleben? Was macht es mit dieser Person, mit seiner Umgebung, mit der Menschheit. Zu dieser Frage hätte ich mich gern habilitiert, aber es geht auch so.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Silke und Rafał kommen zurück, ich lasse mich wegschieben. Ein bisschen ist es wie in einer Jahrmarktsgondel. Ich fahre, ich schwebe. Da, wo der Ort eigentlich zu Ende ist, führen ein paar Stufen zu ‚Le Vecchie Mura‘ – grammatisch eigenwillig, aber überwältigender Blick und unbeschwertes Essen. Ein rundum gelungener Ausflug.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Am Abend hatten wir keine Lust auf Hotel drinnen, sondern verzogen uns in etwas, das wie ‚Dorfkneipe auf Italienisch‘ anmutete. Aber natürlich gab es nicht Bauernfrühstück wie in Holstein, sondern Carpaccio und für die überraschend bodenständige Silke sogar Pizza.

Fotos (8): Privatarchiv H. R.

Wenn wir erst mal auf dem Rückweg nach Hamburg sind, werde ich Rafał spätestens bei Hannover bitten, mittags recht bald wieder Labskaus zu machen, originalgetreu mit Roter Bete und Rollmops. Da bin ich ganz Style-Queen. Und abends Hackepeter. Da bin ich fast in Berlin. Und Harzer Roller. Den hab’ ich in Wernigerode versäumt. Es gibt Speisen, die esse ich nicht auswärts, nämlich dann, wenn ich weiß, das kann ich genauso gut selber machen (lassen), oder wenn ich beim Draufgucken denke: „Was ist da wohl drin?“, und zu keiner schlüssigen Antwort komme. Rote Bete schlägt sich übrigens in der Verdauung nieder. Rot eben. Wohl dem, der da nicht gleich an Darmkrebs denkt.

39 Kommentare zu “#50 – Nur 20 Prozent Männer

  1. Wirklich ein interessanter Gedanke wie nah Nachhaltigkeit und Kurzlebigkeit in unserer „woken“ Gesellschaft beieinander liegen.

  2. Was ist denn wohl schlimmer: das eigene Berühmtsein gar nicht mitzuerleben oder zu sehen wie der eigene Stern nach kurzem Aufglühen bereits wieder verblasst?

      1. Man würde jedenfalls auf ersteres kaum verzichten wollen, auch wenn man weiss, dass man später durch die zweite Phase muss.

    1. über abgeblühte Sterne hat sich schon manch einer umgebracht; das bleibt ihm beim nicht- mehr-erleben erspart. Ein grabloser Vorteil !

    1. „Gelesen wird überwiegend von Frauen: 80 Prozent Anteil am Buchmarkt haben sie. Ein bisschen Kultur gehört immer noch zur Weiblichkeit dazu, bei den Männern reicht der Sport.“ Und schon ist das Zitat belegt, hahaha 😉

      1. Das hätte ich in einem so stark ausgeprägten Verhältnis übrigens nicht vermutet.

  3. Vielleicht ist dieses Gefühl, dass nicht mehr jeder Hype gleich in Aufruhr versetzt, normaler als Sie denken. Mittlerweile folgt doch auch Hype auf Hype auf Hype auf Hype…

  4. Haha, Silke scheint wirklich eine Menge Spaß an ihrer Pizza zu haben. Kann ich gut verstehen. Manchmal überkommt einen so ein Verlangen einfach. Ich bekomme auch gleich ein wenig Appetit 😉

    1. Auf dem Weg zum Domplatz macht sie auch schon solch einen freudigen Eindruck. Das scheint wirklich ein schöne Ausflug gewesen zu sein.

  5. Wieder zwei Stimmen für die AfD. Nach dieser Erstürmung des Reichstags in Berlin muss man wirklich Angst haben wie weit es noch kommt mit den Rechten.

      1. Ähnlich wie bei den Facebook (und co.) Algorithmen. Die meist geteilten Artikel sind irgendwelche Nischen-, Verschwörungs-, Fake-Artikel von kleinen abseitigen Onlineforen. So wird auf einmal Mainstream was eigentlich gar nicht Mainstream ist.

    1. Gerade habe ich hingegen gelesen, dass der Trend zum Populismus wieder abnimmt. Diese Reichsbürger sind villeicht nur besonders laut, aber nicht besonders repräsentativ?

      1. Wenn etwas an der Medienschelte berechtigt ist, dann der Vorwurf dass, alles, was schreit, sofort aufgebauscht wird. „Wehret den Anfängen!“ Das gilt auch bei der Panikmache.

      2. Ein Dilemma oder? Berichtet man gar nicht heisst es es werden wichtige Geschehnisse von den Mainstream-Medien ignoriert, berichtet man ausführlich verstärkt man die von diesen Randgruppen anvisierte Aufmerksamkeit unnötig.

  6. Ob verschiedene Erfolge unterschied stolz machen, hmmm ich bin mir nicht sicher. Ist es nicht trotzdem so, dass man mit dem erfolgreich ist was man am besten kann? Also entsprechend auch sein bestes gegeben hat?

      1. Ja das ist bestimmt so. Beim Lottogewinn ist ja auch deutlich weniger eigener Einsatz nötig gewesen. Da ist wahrscheinlich mehr Freude als Stolz vorhanden. Zumindest wenn man realistisch ist.

      2. Naja, wer auf einen Lottogewinn stolz ist, der scheint zumindest etwas überheblich zu sein. Es ist ja immerhin eine Lotterie, keine Leistungsschau.

      1. Und in Frankfurt Schweinebraten mit Semmelklößen und frischem Feldsalat 😉 Guten Appetit allerseits

  7. Ich hätte bei der meist gespielten Oper ehrlich gesagt Mozart oder Verdi erwartet. Man lernt immer wieder dazu.

    1. Ändert sich wie das Ranking der wichtigsten Filme jährlich. „Das erfolgreichste So-und-so!!!“ sagen zu können, ist marketing-strategisch bedeutsam. Auf den Haufen, auf dem die meisten Fliegen sitzen, schwirren immer noch mehr Fliegen dazu.

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