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Fast am Ziel

Überwältigt am Ende der Welt | #68

Freitag, 5. August
Die Abreise aus Rom verlief unproblematisch. Meiner Kreditkarte wurde vertraut, Giuseppe wurde verabschiedet, das Gepäck lustlos, aber verlustlos verstaut und der Wagen unbeschädigt aus der Parkgarage verbracht. Auf der Ausfallstraße vermutete ich erleichtert, dass ich dem Schicksal wohl ein Schnippchen geschlagen hatte. Ganz sicher kann man da ja nie sein, weil man nie weiß, welche überraschenden Wendungen das Regietalent Schicksal sowieso schon ins – den Darstellern unbekannte – Drehbuch geschrieben hatte, so dass alles, was dem Spieler auf der Bühne wie eine unerhörte Begebenheit erscheint, hinter den Kulissen längst ausgetüftelt war.

Foto: Giuseppe Cammino/Shutterstock

1987 nahm Bernstein in Rom ‚La Bohème‘ auf. Irene und ich machten ‚bella figura‘ im Palazzo des US-Botschafters. Am nächsten Tag goss es, und ich erkältete mich. Ich fühlte mich meist mies. Rom und das Leben kamen mir unheilschwanger vor, und vier Wochen später sollte ja auch wirklich das größte Unheil meines Lebens über mich hereinbrechen. Meine Filmpassage dieser Tage dünstet Endzeitstimmung aus. Rom kann nichts dafür. Es sind mein Schnitt und mein Ton, und im Text deute ich an, dass das wohl mein letztes Mal Rom sei. An dieses Menetekel habe ich immer gedacht, besonders während der Reiseplanung, und erst recht seit Bari. Nun konnte ich zufrieden sagen: Selbst wenn uns gleich auf der Autobahn ein Lastwagen zerquetscht und ins Jenseits befördert – ich habe das Schicksal überlistet und Rom noch einmal gesehen, nur aus der Kutsche, aber immerhin.

Vor uns lag – wieder mal – die Vergangenheit, also ein weiterer Höhepunkt. Als Harald und ich im Juni 1975 von Sardinien kamen, wollten wir Silke und Esther vor dem geplanten Rom-Aufenthalt noflohalber in Bracciano treffen. Warum? Weil wir da noch nie gewesen waren. Nun weiß jeder vernünftige Mensch, dass das kein Grund ist, aber meine Liebe zu Italien war nicht vernünftig, ist ja Liebe sowieso nie, und was man liebt, das will man ganz und gar kennenlernen, ‚von oben bis unten, unter besonderer Berücksichtigung der Mitte‘, wie ich es seit der Pubertät ausdrückte.

Wenn man die Fähre in Civitavecchia verließ, brauchte man nur schnurstracks ins Inland zu fahren, dann kam man zum Lago di Bracciano, und wenn man ihn so betrachtete, dann wurde einem klar, dass man das nicht hätte zu tun brauchen. Es hat schon seinen Grund, warum der Gardasee und der Lago Maggiore berühmter sind. Unter Berücksichtigung der Mitte landet man in Italien zwar etwa dort am See, aber dieser Sinn für Symmetrie zahlt sich nicht aus. Mein Vater zitierte gern seinen Vater mit dem Ausspruch „Wer Kopf und Schwanz kriegt, hat kein Glück, am besten ist das Mittelstück.“ Das war aber, zumindest ursprünglich, weder geografisch noch sexuell gemeint, sondern bezog sich wohl auf Räucheraal.

Harald und ich trafen etwas eher aus Cagliari ein als Silke und Esther aus Salzburg, und so hatten wir schon beschlossen: Hier bleiben wir nicht. Erstmal aber doch. Esthers Auto musste in die Werkstatt und, viel schlimmer, das Okular meiner Kamera war kaputt. Ein gewitzter alter Optiker bastelte mir etwas, so dass ich ein bisschen ahnen konnte, was ich aufnahm. Sonst hätte ich die Reise abbrechen müssen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Natürlich nicht. Aber das Filmen war damals mein halbes Leben, die andere Hälfte war die Musik, und die dritte Hälfte war der Sex. Mit meinem Smartphone jetzt habe ich erst eine einzige Aufnahme gemacht, sie zeigt meine Füße ohne Yeezy boost – ich hatte die Foto-Taste aus Versehen gedrückt. Damals, vor 41 Jahren, fuhren Esther und Silke in ihrem reparierten Fahrzeug und Harald und ich in Irenes ‚Käfer‛ zurück ans Meer. Mein Kofferradio hatte ein Musikkassettenfach, so waren wir auch musikalisch versorgt: Mina, Umberto Balsamo, Adriano Celentano, Drupi – nicht dieser Kram aus UK und USA.

Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons

Auf unserer Hinfahrt nach Sardinien hatten wir durch Zufall die Halbinsel Monte Argentario entdeckt: Was am Wegesrand liegt, kann ich da nie so liegen lassen. Als also die schmale Verbindung zum Festland hinter uns lag, waren wir uns vorgekommen wie im Paradies: üppig bewachsene Hänge, unberührte Natur, blitzblaues Meer. Wir waren überwältigt. Dann fanden wir am Wegesrand ein Lokal über der Klippe mit kross gebratenen Fischen im Angebot, wir waren noch überwältigter; und am Ende lag hoch über dem Wasser ein aus italienischem, weißem Lego zusammengesetztes Luxushotel an einem Turm. Da waren wir am überwältigtsten. In dieses Eden wollten wir zurück mit den Mädels. Zwar nicht zu jenem ‚Torre Di Cala Piccola‘, den konnten wir uns nur für einen Negroni im Sonnenuntergang erlauben; aber wir fanden unten am Ortsrand ein kleines Hotel mit Strand und hatten fünf herrliche Tage.

Der Unterschied 2016: Die Noflo ist zerbrochen, aber wir Rest können uns jetzt, verschont von Altersarmut, den Torre Di Cala Piccola leisten. – Von Rom aus fuhren wir ans Meer und immer am Meer entlang nordöstlich. Nach zwei Stunden entdeckten wir eine seltsame Erscheinung am Himmel, die wir seit Wochen nicht mehr gesehen hatten: Wolken. Zu meinem Ärger verdichteten sie sich und tröpfelten auch bisweilen. Schlechtes Wetter unterwegs nehme ich immer persönlich übel, ich weiß nur nicht, wem.

Die Autostrada war ja verkehrsmäßig in Ordnung gewesen, der Weg über den Deich war es nicht, und auf der Insel selbst steckten wir in einem Stau wie zu Feierabend in Shanghai (war noch nie dort). Staus sind etwas, das Rafał noch weniger liebt als ich; auch seine Flüche sind meinen überlegen. Manchmal kommt man ja andersrum ebenfalls ans Ziel: So hat Kolumbus Amerika entdeckt, weil er dachte, dass Indien etwas näher sei, als es ist. Ich schlug vor, von der Küstenstraße abzubiegen und über den Berg zum ‚Legoland‛ zu fahren. Silkes Stimme quengelte von hinten noch, dass wir das alles gleich wieder zurückfahren müssten, da waren wir auch schon auf der anderen Seite und wenig später auf dem steil abschüssigen Weg zu unserem Turm.

Das Hotel ließ dem Turm die Ehre und machte ihm seine überschaubare Höhe nicht streitig; es war in die Breite gebaut, genauer gesagt, in die Tiefe. Bungalowartig zog es sich den Hang hinab. Ich wies dezent auf meine Gehbehinderung hin, und die direttrice sagte mir unumwunden, dass ich das mir zugedachte Zimmer wohl kaum erreichen würde.

Ich unterschrieb gott- oder ihr ergeben ein Formular, dass ich mehr bezahlen würde, und bekam zum Lohn ein Appartement, das über dreißig Meter Asphalt zu erreichen war: zwei Balkone, Wohnraum, Schlafraum, Baderaum, alles so kalkweiß wie erwartet. Diese Gemächersammlung war noch einen Happen teurer als das Zimmer, in das ich umgebucht hatte. Aber aus Mitleid mit dem armen Krüppel hatte mir die direttrice für die erste Nacht die Superior Suite genehmigt. Morgen würde dann das ‚billigere‘ Zimmer frei. Umzüge sind für Rafał beschwerlicher als für mich. Ich gehe nur ein paar Räume weiter; er packt und schleppt. Dass ich gern mit ihm tauschen würde, hängt aber nicht mit meinem Fleiß, sondern nur mit seiner Drahtigkeit zusammen. Silke und Rafał mussten sich ihre Legosteine über viele Abwärtsstufen erwandern, was besonders Silke, die immer noch unter ihrem Leipziger Fall litt, mehrfach beklagte. Ach ja! Da nimmt sie mal nicht die teuerste Kategorie, und dann gestattet das Ergebnis doch kein Lob auf die Sparsamkeit.

Zum Mittagessen trafen wir uns in einem kantinenartigen Raum, zwei Stockwerke unter meiner Bleibe. Das war für mich mit dem Fahrstuhl sehr bequem, für meine Mitreisenden aus der Tiefe ihrer Behausungen eher nicht. Dem Restaurant war anzusehen: Es war gewohnt, dass die Gäste draußen aßen; das war aber wegen des stürmischen Regens den Kellnern nicht zuzumuten. Wir wählten jeder irgendetwas aus der Karte. Die Schmerzschwelle bei den Preisen würde hier, konkurrenzlos am Ende der Zivilisation, recht hoch liegen, vermutete wohl die Hotelleitung und handelte entsprechend. Ich hatte mir unseren Einzug auf dem Monte Argentario etwas anders vorgestellt, sonnendurchfluteter, aber bei Tito hatte sich ja auch alles zum Guten gewendet, warum nicht auch hier?

7 Kommentare zu “Überwältigt am Ende der Welt | #68

  1. Mit dem Auto einfach drauf los fahren, ein grobes Ziel im Auge, aber offen für alle Überraschungen und all das „was am Wegesrand liegt“. So genieße ich meinen Urlaub am liebsten. Ich habe noch nie verstanden, wie man seinen Aufenthalt bis ins kleinste Detail, jede Besichtigung, jedes Restaurant, jede Strandpause durchplanen kann. Pläne sind toll, wenn man sich erlaubt sie zu brechen.

    1. So habe ich es früher immer gehalten. Jetzt, mit meiner Behinderung, muss ich alles durchorganisieren. Ein sehr anderes Lebensgefühl. Man gewöhnt sich daran, dass die Abenteuer im Kopf stattfinden. Und Umwege gestatte ich mir immer noch.

  2. Film, Musik, Sex…Das klingt ziemlich anständig. Persönlich würde ich noch gutes Essen dazuzählen und die Liste ist komplett.

  3. da werden Erinnerungen wach: Lago di Bracciano, Jugendzeit -Jugendliebe, Lago di Garda und Lago Maggiore mögen berühmter und schöner sein, sie können doch nicht die gleichen Gefühle wecken.
    Es spielt sich eben alles im Kopfe ab, dort wühlt, was sich aus der Mitte dorthin abgelagert hat

  4. Der Wechsel zwischen (Rückblick in die) Vergangenheit und (Beschreibung der) Gegenwart sagt mir sehr zu…, zumal er nicht nur das Innenleben, sondern auch Landschaft, Technik (Fototaste aus Versehen gedrückt usw.) betrifft…
    Dann das Überlisten des Schicksals, das doch angeblich hinter den Kulissen „alles ausgetüftelt“ hat…
    Fehlt nur die Zukunft (während die Zukunft der Vergangenheit immerhin anklingt). Wunderbare Fotos!

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