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Fast am Ziel

Die Steigerung der Steigerung | #72

Sonntag, 7. August
Ich könnte doch auch einfach nur glücklich sein. Der größte Teil meines Lebens liegt hinter mir, und es sind ‚unterwegs‘ nur zwei richtig schlimme Dinge passiert. Dass Menschen, die über achtzig sind, sterben, muss man hinnehmen. So vieles muss man hinnehmen, aber manches muss man nicht hinnehmen, sondern ändern. Ob man die richtige Wahl dafür getroffen hat, weiß man, wenn man im Parlament sitzt oder im Gefängnis: herrschen oder hängen. In der nächsten Generation läuft es vielleicht umgekehrt. Solche elementaren Einsichten ändern nichts daran, dass jeden Morgen Aufstehen, Waschen und Anziehen näherliegend sind als Weltrevolution und Klimakatastrophe. An einem Tag wie heute spielt sich zwischen Aus-dem-Bett und In-das-Bett nichts ab, was erzählenswert wäre, ein Tag also, wie man sich alle wünscht.

Tut man das wirklich? Ein Tag wie der andere? Der Teufel steckt nicht im Detail, sondern in der ewigen Wiederholung. Die Wiederholung kennt kein Ziel: Das Essen, oh, war das lecker! Und dann will man wieder essen. Das Abspritzen, oh, war das geil! Und dann will man wieder ficken. Immer dieselben Gebete sprechen, immer dieselben Gedanken denken, immer die gleichen Pornos gucken: Das ist der Weg in die Hölle, wenn man wie ich inzwischen unter der Hölle versteht, aus diesem einzigen Leben nicht das Bestmögliche, also das Abwechslungsreichste, gemacht, sondern es in gleichförmigen Wiederholungen vertan zu haben. Als ich selbst noch sturzfromm war, betete ich jeden Abend eine Art Rechenschaftsbericht des vergangenen Tages und eine Art Vorsatzgelübde für den kommenden Tag, immer anders, immer bezogen auf die Situation, bloß nicht diese Litaneien, diese verdummenden Patres nostri und Ave Mariae. Form entsteht nicht durch rhapsodisches Weiterspinnen, sondern durch Wiederholung, eleganterweise als Variation, weiß ich. Aber die Welt ist nicht durch den Rosenkranz weitergebracht worden, sondern durch den Mut, ihn nicht mehr zu beten.

Trotzdem habe ich es nie übertrieben mit den Erneuerungen, war dafür auch nie mutig genug. Das Neue ist das Alte von morgen, tröste ich mich. Was 1950 ein ‚flottes Fräulein‘ war, war 1970 eine ‚kesse Biene‘ und 1990 eine ‚geile Alte‘. Die Mode hat sich geändert, die Anschauungen auch, klar, dass die Ausdrucksweise da Schritt halten muss. Ich habe ja immer von Zeitlosigkeit geschwärmt: in der Musik, in der Wortwahl. So kommt man nie aus der Mode. Wenn man Pech hat, kommt man auch nie rein.

Durch die Möglichkeit der Wiederholung ist unser Leben völlig anders geworden: das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit. Ich kann mir Schuberts Streichquintett anhören, immer wieder, bis ich verscheide, oder mir die geilste Stelle eines Pornos so lange reinnudeln, bis ich abkratze. Das ist neu für die Menschheit und wie das meiste Selbstverständliche den meisten nicht bewusst. Buchdruck, Schallplatte, Internet. Der vorwärtsstrebende Geist muss sich tatsächlich nicht mehr damit befassen, dass Goethe weder fließendes Wasser noch Zentralheizung hatte, er fragt sich höchstens, wie Deutschlands meistgefeierter Dichter dreckig und frierend die „Iphigenie“ schreiben konnte. Tell me, Göhte!

Bild: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Der Weg sei das Ziel, das meinte ich erfunden zu haben, als ich den Satz 1993 in einen meiner Filme einstreute. Als dann Mitte der 90er-Jahre alle das sagten, glaubte ich, jeder von ihnen hätte meinen Film gesehen. Dabei ist diese Erkenntnis ursprünglich von Konfuzius. Sie ist das pure Gegenteil von Wiederholung. Wie soll man das interpretieren? Liegt die Erfüllung in der Geradlinigkeit oder in der Steigerung? Der Kapitalismus braucht die Steigerung. Unser Personalchef sagte immer: „Wenn die Umsätze nicht steigen, kann Ihr Gehalt auch nicht steigen.‟ Ist immer weiter, höher, schneller wirklich besser? Wir glauben nicht mehr so recht daran und zeigen uns dennoch beeindruckt von Rekorden.

Foto: sirtravelalot/Shutterstock

Es wurde Zeit, die Terrasse zu verlassen, um etwas zu essen. Das ‚Moresco‘ war die erste Lokal-Wiederholung seit Triest. Die Steigerung sollte in der Wahl der Speisen liegen. Am Nebentisch aß eine große Familie mehr als ich in einem Monat. Ich sah neidisch zu: nicht auf das Essen, sondern auf den Appetit.

7 Kommentare zu “Die Steigerung der Steigerung | #72

  1. Haben Sie wirklich das Gefühl ihr Leben in Wiederholungen zu leben? Das überrascht mich nun tatsächlich. Wenn ich Ihrem Blog folge, habe ich immer den Eindruck, Sie haben wahnsinnig viel erlebt, sind viel gereist, haben Zeit mit spannenden Menschen verbracht… Aber meine Sicht ist natürlich eine sehr subjektive. Die Dinge bis ins Letzte zu durchschauen ist rein durch die Lektüre solch eines Tagebuchs natürlich unmöglich. Vielleicht sind wir aber auch alle Suchende, Wollende, Hungrige. Ich frage mich immer ob man im Alter wirklich zufrieden und gesättigt sein kann oder ob immer eine Sehnsucht nach dem Verpassten bleibt.

    1. Nein, nicht ich lebe in der Wiederholung, sondern die, die sich täglich denselben Riten anpassen: in der Religion, in der Arbeit. Das ist vielleicht fromm, vielleicht bequem, aber bestimmt langweilig für den, der sich diesem System nicht völlig untergeordnet hat.

    2. Wahnsinnig langweilig sogar! Und in der Regel sind’s dann gerade diejenigen, die sich tagein tagaus denselben Abläufen und Ritualen unterwerfen, die meckernd durch’s Leben gehen, sich beschweren, ihre Unzufriedenheit in alle Richtungen versprühen und irgendwann an ihrer Miesepetrigkeit verrecken. Es lebe die Neugier!

  2. Selbstverständlich braucht Kapitalismus die Steigerung. Und immer weiter, höher, schneller ist die einzige Maxime. Um besser geht es überhaupt nicht. Weder dem Anbieter noch dem Kunden. Neu muss es sein. Anders. Cool. In. Sonst wird’s sowohl dem Ottonormalverbraucher wie auch dem Hipster einfach zu langweilig.

    1. Unzufriedenheit führt häufig nur zur Meckerei. Langeweile ist der Ausgangspunkt für Veränderung. Wenn ich mich anfing zu langweilen, fiel mir immer etwas ein: mal grotesk, mal umsetzbar.

    2. Ich mag mich täuschen, aber ich habe das Gefühl in unserer heutigen Gesellschaft wollen die Menschen zwar gerne Veränderung, aber möglichst ohne sich zu ändern.

    3. Das kann man so nicht sagen. Gerade die junge Generation kämpft doch für Veränderung. Siehe die Bewegung um Bernie Sanders in den USA…

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