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Fast am Ziel

Hirn contra Schleimhaut | #31

Gegen 20 Uhr nehmen wir unsere Plätze auf der Terrasse ein und bei Harfenmusik unseren Aperitif. An unseren Dinner-Tisch begeben wir uns erst, wenn es ringsherum schon genügend Menschen gibt, deren Aufmerksamkeit wir erregen können. An schwachen Abenden sind das bloß die Kellner. Dafür ist das Risotto mit Foie gras unschlagbar. Gleich am ersten Abend hatte Rafał einen Schlaf raubenden Erkundungsgang unternommen. In der Hoffnung, im Ort noch ein bisschen zu erleben, war er aufgebrochen, aber das Gelände ist tückisch, eine Bucht reiht sich an die nächste, und man kommt seinem Ziel kaum näher. Rafał landete statt bei Clubs und Drinks vor einem kleinstadtgroßen Campingplatz, fand aber mit Hilfe seines Handys im Morgengrauen doch noch den Weg zum ‚Boutique Hotel Alhambra‘ zurück.

Rafałs Glück: Wo Tourismus ist, gibt es schwule Kellner. Die sagten schon vor fünfzig Jahren bedeutungsvoll „Ich arbeite in der Gastronomie.“ Man wusste gleich, die tragen Gläser durch eine Kaschemme, und man achtete auf andere ihrer Merkmale. Ja, früher in der Schwulenkneipe grübelte man noch: Geh’ ich jetzt mit dem mit, der mich gerade anmacht, oder warte ich doch noch auf was Besseres? Wenn man Pech und zu große Erwartungen hatte, ging man am Ende leer aus, wenn auch voller Träume. Heute sortiert man die Angebote auf dem Handy und wundert sich höchstens nachher beim ‚Date‘, wenn das vorausgesandte Bild, das die Entscheidung bestimmt hatte, etwa 13 Jahre alt ist.

Foto: Privatarchiv H. R.

Im 19. Jahrhundert trug man seine Verliebtheit schmachtend vor sich her und dachte, das sei nun Liebe, weil ja nichts passieren durfte, was zur Ernüchterung geführt hätte. Die Erfüllung ist der Tod des Wunsches. Aber wunschlos ist man als Mensch nie glücklich, sondern nur unglücklich. Ich hatte mich so auf die Zeit ohne Sex gefreut, aber nun sehe ich, ohne Lust ist es auch nicht lustig. Glücksmomente habe ich nie durch den Glauben erlebt – wie auch? –, sondern nur im Sex. Komisch, ich erinnere mich daran, dass ich außer mir war vor Be- und Entgeisterung, doch richtig nachvollziehen kann ich es nicht mehr. Ich muss es – glauben.

Obwohl ich doch weiß, dass Form erst durch Wiederholung entsteht, kommt mir dieses Streben nach immer neuen Geschlechtsteilen im Nachhinein dennoch unverständlich, ja wie reine Zeitverschwendung, vor. Einem Schwulen würde ich sagen: „Schwanz? Hast du doch selber!“ Einen Hetero würde ich belehren: „Eine Möse sieht doch ziemlich aus wie die andere.“ Wo die Lust fehlt, fehlt auch das Verständnis. Ein Laster, das ich nicht teile, muss bestraft werden. In einem schwulen Verona wäre Romeo dafür hingerichtet worden, dass er Julia liebte und nicht ihren Vetter Tybalt. Gut, dass er Gift trank, was ihm den Tod vor allen Leuten auf dem Marktplatz ersparte.

Es erfordert ein hohes Maß an Toleranz, Neigungen, die man nicht teilt, zuzulassen. Zu akzeptieren, dass Menschen AfD wählen, fällt schon den Medien schwer, wie soll man da Verständnis für den Tschador aufbringen? Ich zum Beispiel stelle mir genussreich vor, wie ich einer Frau, der ich auf der Straße im Tschador begegne, den Fetzen vom Leib reiße, die Sau nackt ausziehe – das Vieh muss gerade stehen, damit man ihre stinkende Vulva sieht –, sie fotografiere und das Bild mit Namen und Adresse ins Netz stelle. Vielleicht würde ich auch bloß dazu anstiften. Aber ich tue es nicht. Weil ich es nicht kann. Auch weil ich es nicht darf? Es gibt wirklich keine Gemeinheit, in die ich mich nicht hineinversetzen kann.

Foto: Monkey Business Images/Shutterstock

Mit dem Edelmut ist es genauso. Gesetze sind dazu da, solche Frage ohne die Hoffnung auf das Gute im Menschen zu beantworten. Wenn dieses Gesetz allerdings die Scharia ist, möchte ich alle, die für sie eintreten, zerstampfen, aber langsam, der Todeskampf soll mehrere Wochen dauern … und so weiter.

Kann ein Gedanke meinem Hirn dieselbe Wohltat verschaffen wie eine Schleimhautreibung meiner Eichel? Ist eine Idee so schön wie ein Orgasmus? Das Andauernde wird immer vom Kurzfristigen übertrumpft. Im Moment hören mehr Menschen Justin Bieber, aber auf lange Sicht werden mehr Menschen Mozart hören. Alle die, die wie meine Klavierlehrerin Mozart seit 1792 hinterherrufen: „Aber du warst doch so ein Genie!“, brauchen sich in ihrer Selbstgefälligkeit von der inzwischen 215 Jahre alten Leiche Gott sei Dank nicht mehr sagen zu lassen: „Scheiß drauf, lieber wäre ich ein blöder, reicher Esterházy gewesen.“

Der späte Ruhm nutzt weder Mozart noch irgendjemanden, dem im Augenblick niemand zuhört. Wer nicht komponiert, weil er muss, sondern, damit ihm jemand zuhört, der hat es oft schwer. Wer schreiben möchte, aber es nicht kann, hat es auch schwer. Ein Rollstuhlfahrer, der vom Tanzen träumt, ein Schneemann, der die Sonne anbetet – alle haben es schwer, und leicht ist es, die zu beneiden, denen das nicht bewusst ist. Muss man sie aufklären, damit sie merken, wie schlecht es ihnen geht?

Das ist schon Baader-Meinhofs misslungen und klappt heute vor den Filialen des Konsumterrors auch nicht besser. Die Aufklärung ist eine Geisel der Menschheit. Die Unwissenheit auch. Lernen. Lernen, Widersprüche auszuhalten. Lernen zu ertragen, dass alles Lernen mit dem Tod endet und man nicht für die Ewigkeit gelernt hat, sondern nur dafür, bis zum allerletzten Augenblick noch eine Einsicht gehabt zu haben, die dann verlischt.

Foto: Kite_rin/Shutterstock

Rafał erzählte mir am Morgen, ob oder dass er eine schöne Nacht hatte, und mehr will ich gar nicht wissen. Ein sabbernder Alter, der sich an fremden Lüsten satt trinkt, werde ich wohl nie. Meine Fehler sind pädagogischer: Hier in Kroatien verlasse ich mich zu sehr darauf, dass Rafałs Muttersprache Polnisch eine slawische Sprache ist. Das ist vielleicht so, als würde ich mir zutrauen, Keltisch und Sanskrit zu übersetzen, weil beide wie Deutsch indogermanische Sprachen sind. Aber so bequem mache ich es mir, entgegen meinen Vorsätzen: Eigentlich möchte ich überall, wo ich hinkomme, zumindest „Ja – Nein, Bitte – Danke und Guten Tag – Auf Wiedersehen“ in der Landessprache sagen können, und ich esse das Nationalgericht mindestens einmal. Das finde ich auch von meinen Mitmenschen nicht zu viel verlangt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Wer als Flüchtling an der Bayerischen Grenze ankommt, hat eine Weißwurst zu essen, ein Bier dazu zu trinken und „Danke“ zu sagen. Wer das nicht kann oder will, der hat im CSU-Land nichts verloren, also auch nichts zu suchen, und gehört zurück zu den Hammel-Dönern. Und mit solcher Stammtisch-Weisheit beende ich das Kapitel mal, damit diese Proklamation ein paar Tage im (virtuellen) Raum stehen bleiben kann. Andererseits, da ich mir ‚Dobar dan!‘, ‚Doviđenja!‘, ‚Hvala!‘ und ‚Molim!‘ auf Lošinj auch nicht habe merken können, erfülle ich meine eigenen Kriterien, um in Kroatien bleiben zu dürfen, selber nicht und tue es trotzdem. Aber ich beantrage ja auch kein Asyl. Bisher.

6 Kommentare zu “Hirn contra Schleimhaut | #31

  1. Dieser Blog-Beitrag nimmt mich doch sehr für Zensur ein: Ich plädiere sehr für sprachliche Selbstzensur, denn stellenweise trennt Dich doch vor allem vielleicht gerade noch Dein Ästhetizismus von Pegida. Was für eine verrohte Sprache, was für ein Aggression! Warum nur????

    1. Rausgegriffen ergeben solche Ausbrüche keinen Sinn. Im Zusammenhang von Gemeinheit, Elelmut und Stammtisch schon. Ich unterscheide zwischen mir und dem Blog-Schreiber, zwischen Bekenntnis und Satire; der Leser hoffentlich auch.

  2. Wir sind unterwegs – doch ich steige hier aus und beantrage Asyl.

    Unterwegs #31 soll doch bitte in einer cloud versteckt bleiben – ich bleibe
    auf ihr.

    1. Gestern Abend habe ich ferngesehen: Satire, Reportage, Kabarett. Was innerhalb meines Sprachstils noch ein (zu?) scharfes Gewürz ist, ist im Leben und Denken vieler Menschen nur noch ein Spritzer aus der Maggi-Flasche.

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