Mittwoch, 28. Juni
Jeder Morgen ist die Hölle, dieser ist keine Ausnahme, sondern nach den Weinmengen vom Vorabend eher der Höhepunkt der Regel. Ich flackere aus dem Bett wie eine Flamme in der Zugluft und schmeiße alles, was sich nicht wehrt, in den großen Koffer, den ich in der Abseite gefunden und gnadenlos ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt habe. Die Öffentlichkeit besteht aus Giuseppe, Bo und Ingrid, die – formvollendeter Logierbesuch – in meinem Esszimmer sitzen und aufs Manierlichste ihr Frühstück einnehmen. Tee und Toast, Servietten und Sets, Konfitüre und Kerzen, von Giuseppe andächtig entzündet. Bo hat ein bisschen Barockmusik aufgelegt; ihre hehren Klänge kaschieren, dass mangels gemeinsamer Sprache kaum gesprochen wird. Ich gespenstere ins Bad, raffe zusammen, was ich für wichtig halte, muss es aber gleich wieder rauskramen, um mich zu waschen und zu rasieren. Während ich meine paar Haare föhne, bemerke ich halbtrunken, dass Giuseppe etwas aus dem Kühlschrank holt und dass ich nicht ganz so grauenhaft aussehe, wie ich mich fühle. Bin ich ein Hypochonder? Ich versuche, mich so zu fühlen, wie ich aussehe, was meinem Gesicht nun doch einen schmerzlichen Zug verleiht. Wenn ich aufhören würde zu trinken, ob man dann meine Augen mal wieder sehen könnte?
Giuseppe schleicht mit einem Kännchen an der Badezimmertür vorbei. Uneingeweihte könnten sein Betragen für verstohlen halten, aber es ist nur Rücksichtnahme. Diese beiden großen, breitschultrigen Männer sind so behutsam, wie ich es niemals sein werde, und sie essen schon morgens mehr als ich während des ganzen Tages. Von Zeit zu Zeit sagt Ingrid „Yes“, was aber nur auffällt, wenn man sie gefragt hat, wie ihr Hamburg gefiele. Die Badezimmertür halte ich nicht aus Schamgefühl geöffnet, sondern um ihnen als Gastgeber das Gefühl zu geben, ich wohne ihrer Tafel bei.
Beim Einpacken in die große Reisetasche achte ich darauf, möglichst viele gleichfarbige Schuhe mitzunehmen; was ich ideal fände, wären zwei schwarze, zwei rote und zwei braune, so befinden sie sich aber nicht in meinem Schuhstall, da sieht es mehr nach Orgie aus. Stoffschuhe sollen vor allem mit. Im Juli wird es ja wohl sehr warm sein. Socken brauche ich also nur wenige, auch die Farbe ist da nicht so entscheidend, denn wenn ich kurze Hosen anziehe, trage ich sowieso keine Strümpfe, das wäre spießig. Bei solcher Hitze, wie sie wohl herrschen wird, ist auch Unterwäsche eher auftragend, unter Jeans ist sie geradezu störend.
Ich scheuche Slips und Socken, die schon in der Tasche dösen, beiseite wie dummes Federvieh, um sicherheitshalber die Schuhe unter den Hemden durchzuzählen: zehn, eine gerade Zahl. Ein Paar pro Woche. Gut. Ich irre ins Wohnzimmer. Warum? In der Gästeabseite Giuseppes geöffneter Koffer. Die Kleidungsstücke bilden ein anmutiges Mosaik. Ich reiße mich los von dem Anblick, denn mir ist eingefallen, was ich wollte. Ich greife drei Bücher aus dem Regal, der CD-Stapel daneben fällt zu Boden, es klingt schlimmer als es ist, zwei CDs sind sogar in den Plastikkästen geblieben.
Bo und Ingrid steigen gesättigt die Treppe herab, um ihre Koffer von meinem Studio in ihren Wagen zu bringen.
„Kann ich dir helfen?“, fragt Giuseppe. Deutsch spricht er mit mir nur, wenn er mich für unzurechnungsfähig hält. Wir sammeln die CDs ein, ich eine, er den Rest, denn um die andern nicht warten zu lassen, muss ich nun aus meinem Arbeitszimmer die wichtigsten Dinge holen: Zwei Manuskripte, die ich durcharbeiten will, Schreibblöcke, Stifte, Tipp-Ex, ein halbes Papierwarengeschäft ergießt sich auf die Unterhosen. Im letzten Augenblick, als Giuseppe meinen Koffer schon runtergestemmt hat, fallen mir wieder die beiden Necessaires ein, die sich noch auf der Waschmaschine ducken. Das eine ist entbehrlich. Sein Inhalt wäre für 250 Mark in der Kosmetikabteilung von Lafayette nachzukaufen (Zahnpasta und -bürste, Seife, Feile, Scheren: 20 Mark; Nachtcreme – Aldi: 7,50 Mark/Lafayette: 50,00 Mark; Duftstoff – geschenkt/Lafayette: 60,00 Mark; ägyptische Erde plus Pinsel – 90 Mark; Make-up – Karstadt: 8 Mark/Lafayette 30 Mark). Der Inhalt des anderen Kulturbeutels ist unersetzlich: verschreibungspflichtige Medizinen. Ihr Verfallsdatum ist mir so schnuppe wie meiner Mutter die Angabe auf den Teewürsten. ‚Mindestens haltbar bis …‘ klingt schon nicht besonders schlimm. Das englische ‚Best before‘ ist überhaupt nicht ernst zu nehmen. Irene traut im Übrigen ihrem Vorratskeller die konservierenden Kräfte einer ägyptischen Pyramide zu; einen Pharao aus ihren Dosen würde sie Guntram, ohne Böses im Schilde zu führen, auf seine Stulle schmieren, und bis auf seine anschließende Feststellung „Der schmeckte gemein“ würde sich auch nichts Einschneidendes ereignen. Ich bin zwar väterlicher- wie mütterlicherseits selbstmordbelastet, aber die umweltbedingte Abhärtung durch Lebensmittel und andere Mittel zum Zweck wiegen schwerer als der Tod – allerdings nicht schwerer als meine Tasche. Giuseppe kriegt sie kaum allein die Treppe herunter.
Erst will ich noch zögern, aber dann lasse ich es doch, weil die anderen schon warten, und giere mir einen kräftigen Schluck Rum ins heiße Wasser, das ich dann zügig trinke. Ich schwanke noch einmal durch alle Räume, entdecke aber in der Unordnung nichts, was ich noch mitnehmen müsste, bloß, dass Bo nicht ordentlich abgewaschen hat. Pikiert werfe ich die drei Teebeutel in den Mülleimer. Ich koche ja immer richtigen Tee aus getrockneten Blättern, darum überlasse ich das auch lieber Giuseppe, der nimmt die Aldi-Beutel, und ich bin nicht schuld daran.
Irene schluchzt. Guntram stehen die Tränen in den Augen. Es ist ganz schrecklich. Früher bin ich dreimal in der Woche weggeflogen, ohne dass der Hahn gekräht hat. Jetzt fahre ich zum ersten Mal seit Jahren 280 Kilometer weit und es schnürt uns die Kehle ab. Mir wird bewusst, was für eine Schicksalsgemeinschaft wir geworden sind. Irene winkt, und mir ist auf eine noch andere Art elend als oben beim Zusammenklauben.
Die Tropfen rinnen die Windschutzscheibe herunter. Irene winkt immer noch. Bo und Ingrid fahren hinter Giuseppe und mir her: aus dem Privatweg auf die Straße. Giuseppe muss tanken, Bo muss aufs Klo, ich muss einen Grog haben. Giuseppe tankt, Bo erleichtert sich, ich verzichte und bleibe bei Ingrid. „How do you like the weather?“, frage ich sie sarkastisch. – „Yes“, sagt Ingrid. –
Titelgrafik mit Material aus dem Privatarchiv H. R. (Haus) und von Shutterstock: Dmitry Rukhlenko (Koffer), Rawpixel.com (blaues Auto), Ljupco Smokovski (silbernes Auto), Dan Kosmayer (Teebeutel), Ken StockPhoto (Baum)
Wirklich ein Grauen. Diese Morgen.
Deswegen trinke ich immer seltener. Das Aufwachen am Morgen ist ja auch so schon schlimm genug.
Ein Glas Wein hin und wieder kann schon sein. Aber wenn man beim Aufstehen einen dicken Kopf hat, dann sollte man schon ein wenig reduzieren. Der Körper verzeiht ja nicht so leicht.
In der Einleitung liest man ja, dass ich anschließend an Berlin lange Zeit abstinent war. Seit Jahrzehnten habe ich keinen mehr Kater gehabt. Entweder ich trinke weniger oder ich bin vollständig abgehärtet.
Na das klingt immerhin scho mal etwas beruhigender.
Das Mindesthaltbarkeitsdatum gibt natürlich nur den Mindestwert an. Aber wenn ich manchmal sehe, wie liberal meine Eltern das nehmen, dann verzichte ich doch lieber auf das eine oder andere.
Die Kriegsgeneration mochte nichts umkommen lassen. Da kam dann mancher an Fleischvergiftung um.
Bei mir wird meistens nur die Marmelade schlecht. Ich sollte wohl doch aufhören mit dem Schmiermesser ins Glas zu gehen.
Besser ist es.
Zehn Paar Schuhe? Da müssen Sie aber einen recht großen Koffer haben 😳
Riesig.
Oder sehr kleine Füße
Und ohne Stiefeletten.
Mit meinen Eltern zusammenleben könnte ich nicht noch einmal. Aber dass sie zunehmend älter werden macht mir doch mehr und mehr Sorgen.
Das klingt sehr bekannt. So geht es uns wohl irgendwann allen.
Bis wir selber Sorgen’kinder‘ werden.
Man darf sich wirklich nicht zu viele Gedanken machen. Das macht einen zu leicht schwermütig.
Wer sich gar keine Gedanken macht, wird unvorbereitet getroffen.
Dabei das gesunde Mittelmaß zu finden ist wohl die große Kunst.
Ich denke auch, dass Gedanken machen und Sorgen machen zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind. Sich vor der Wirklichkeit zu verstecken bringt ja nichts. Irgendwann holt einen das ein. Aber man sollte sich eben auch keine Sorgen über Dinge machen, die man nicht wird ändern können.
Ich musste früher berufsbedingt sehr viel reisen. Inklusive viel zu vieler Male, wo es der erste Flug am Morgen sein musste. Es gibt nichts Schrecklicheres als um 04:00 im Taxi zu sitzen.
Naja, Schreckliches gibt es ziemlich vieles auf der Welt. Man schaue in die Ukraine. Aber ich verstehe trotzdem was Sie meinen.
Das kann man nicht bestreiten. Aber man kann Äpfel eben auch nicht mit Birnen vergleichen. Sonst wäre jeder Satz, den man überhaupt sagt, falsch.
Inzwischen schlafe ich schon schlecht, wenn ich weiß, ich habe einen Termin um 10.00 Uhr. Eigentlich ist es ja ein Unterschied, ob man zum Urlaubsflieger oder zum Zahnarzt muss. Die Nachtruhe ist beide Male hin. Vergleiche mit Mariupol sind immer unangemessen.
Ich verschlafe wirklich nie. Trotzdem bin ich unruhig, wenn ich weiss, dass ich früh raus muss. Schon komisch.
Das kenne ich: Noch nie verschlafen, aber oft eine Stunde eher als nötig wach gelegen – Mangel an Wurschtigkeit?
Gab es Bo, Ingrid und Giuseppe schon im Personen-Akkordion? Ich bin nicht sicher, ob ich die verpasst habe oder mich einfach nicht erinnere.
Giuseppe ist auf jeden Fall schon in anderen Reise-Erzählungen vorgekommen.
Die drei kommen nicht im Akkordion vor, weil sie im Text erklärt werden: Bo Aurehl war mein schwedischer Kollege bei Deutsche Grammophon Stockholm. Er ist groß, dunkelhaarig und zehn Jahre jünger als ich. Seine Frau Ingrid ist mittelgroß, zehn Jahre älter als ich und mehrfache Großmutter. Giuseppe habe ich 1981 in Venedig kennengelernt. Er hat Psychologie studiert, Maisfelder bewirtschaftet und seine reiche Tante beerbt. Mehr über ihn in: ‚Europa im Kopf‘: Veneto #6.2 ‚Posieren und Abtauchen‘.
Ach super, dann danke ich umso mehr für die kurze Zusammenfassung!
Oh wow, Rum am frühen Morgen ist aber auch eine Ansage 😳
Als Dauerzustand nicht empfehlenswert.