Für den Sonntag war das gute Wetter am wichtigsten – denn der Sonntag war unser Ausflugstag. Ich hatte schon telefonisch versucht, den Dampfer nach Werder zu buchen, aber dafür hätte ich die Karten entweder in Treptow, ganz im Osten, abholen müssen, oder ich musste mich darauf verlassen, dass das Schiff nicht ausgebucht war und wir an der Kasse am Wannsee noch drei Plätze ergattern würden.
Der Himmel schien völlig unentschlossen, was er zu tun gedächte. Zu neun Uhr waren wir zum Frühstück verabredet. Bos und Ingrids Verspätung nutzte ich dazu, an der Rezeption nach den Wetteraussichten zu fragen. „Gut. Gut, denke ich“, sagte die freundliche Blonde auf gut Glück, „ich schau’ mal nach.“ Sie verschwand kurz, ich weiß nicht, ob zu Petrus oder zum Meteorologischen Institut, und kam zurück mit der Mitteilung: „Ach nein, doch nicht, wechselhaft, mit Schauern.“
Folgende Thesen bestimmten mein Denken:
1.) Guntram hat so oft von der Baumblüte in Werder geschwärmt, da muss ich hin, das bin ich ihm schuldig.
2.) Roland und ich haben so oft an der Glienicker Brücke gestanden und nach Potsdam rübergesehen, da muss ich jetzt drunter durchfahren, das bin ich ihm schuldig.
3.) Wenn der Dampfer ausgebucht ist, dann bleiben wir eben im ehemaligen Westen. Wir fahren an Gatow und Nikolskoe vorbei zur Pfaueninsel und wieder zurück, das ist meine Kindheit, das ist Roland, das muss mir und das wird Bo und Ingrid reichen.
4.) Nur wenn sich das Wetter schlecht entwickelt, besteht eine Aussicht darauf, dass wir noch Plätze bekommen. Dann werden wir auf der grauen Havel bei grauem Himmel nach Werder schippern, eine klägliche märkische Kleinstadt im Regen betrachten und dann befriedigt über Potsdam zum Wannsee zurückfahren. Besser war das Wetter auf unserem Stockholmer Wasserausflug auch nicht gewesen, auf mehr hatten Bo und Ingrid keinen Anspruch.
5.) Sollte es doch mehr sonnig sein, dann würden alle Dampfer ohne uns fahren, dann würden wir einen hübschen Spaziergang am Wasser machen, vielleicht zum Strandbad, auch Schlachtensee und Krumme Lanke waren denkbar. Es blieb dann auch mehr Zeit für die Erschließung meiner Kindheitsgebiete im Grunewald.
Dann traten Bo und Ingrid aus dem Fahrstuhl. Eine darauf gedrillte Dame im schwarz-weißen Kostüm wies uns ihr geeignet erscheinende Plätze an. Bo und Ingrid aßen reichlich, ich Rührei, ließ aber die Kiwi-Stachelbeer-Marmelade bleiben und versuchte es mal mit Wildkirsche. Eigentlich hatte ich uns vorgenommen, dass wir um zehn am Wannsee sein wollten, eine Stunde vor Abfahrt des Bootes mochte es wohl noch drei Plätze unter Deck geben, hatte ich mich hoffen gemacht.
Fünf nach zehn verließen wir das ‚Savoy‘, und ich musste Bo und Ingrid nun schnellstens zum Bahnhof Savignyplatz treiben, ohne dass sie merken sollten, wie es drängte. Dieses Kunststück gelang mir aber nicht durch Schieben, sondern indem ich in weitem Abstand vorauseilte. Dass sie dennoch nicht sonderlich bestrebt waren, mich einzuholen, fand ich nordisch stur. Gerade, als sie auf dem Bahnhof eintrafen, kam der Zug nach Potsdam. Nicht auszudenken, mein Wutanfall, wenn wir ihretwegen die S-Bahn verpasst hätten.
Charlottenburg, Westkreuz, Grunewald, Nikolassee, Wannsee. Es war halb elf und warm. Der Himmel annähernd wolkenlos. Meine Geduld war am Ende. Ich rannte über die Straße zum Wasser und an die Kassen der Ausflugsdampfer. Ein wenig achtete ich noch darauf, dass Bo und Ingrid mich nicht ganz aus den Augen verloren. Es gab tatsächlich noch Karten, ich nahm Hin- und Rückfahrt, mit einer Stunde Aufenthalt in Werder.
Da saßen wir nun im hellen Sonnenschein auf dem Oberdeck, außer uns noch weitere acht Menschen, und ich fragte mich, fünf nach halb elf, warum der verdammte Kahn nicht endlich ablegte. Alle neu Hinzukommenden starrte ich hasserfüllt an, sodass die Bank vor unserer frei blieb. Der Kellner fing bereits an, frisch gezapftes Bier hin- und herzutragen, und er fand auch gleich freudige Abnehmer für seine Gläser.
Dorothee, die ja so was Aufbauendes haben kann, hatte am Telefon gesagt: „Ach, nach Werder … Eine Cousine von mir hat das neulich gemacht. Alle waren besoffen, es muss ganz furchtbar gewesen sein.“
Punkt elf tutete das Schiff markerschütternd, das Deck war dreiviertel voll, die Leute sahen eigentlich alle viel manierlicher aus, als ich das erwartet hatte, einige tranken sogar nur Orangensaft. Bo saß schon wieder in kurzen Ärmeln, und selbst ich zupfte an meinem Pullover. Dann ging es los.
Die hügelige Landschaft, das silbrige Wasser, Wälder und Villen: wunderschön. Am Land ballte sich Gewölk zusammen, aber hier auf dem See schien noch die Sonne. Ich erklärte Bo und Ingrid die Bedeutung von Gatow und Schwanenwerder für mich und die Menschheit, die Dame aus dem Lautsprecher direkt neben unseren Sitzplätzen hatte ihre eigene Meinung dazu; sie hatte uns gleich bei Abfahrt des Schiffes so aufmerksam mit „Verehrte Fahrgäste“ begrüßt.
Zu meinem Entsetzen hielt unser Dampfer in Kladow. Die Reihe vor uns würde ich wohl mit meinen wütenden Blicken freihalten können, die Reihe hinter uns, in entgegengesetzter Richtung, schien mir äußerst gefährdet, zumal ja die Leute, selbst wenn ich mich peinigend nach ihnen umreckte, hinten keine Augen im Kopf hatten. Aber es ging noch mal gut, und an der Pfaueninsel stiegen sogar mehr Menschen aus als neue hinzukamen. Und jetzt stand mir eine Entdeckung bevor, der überwältigendste Augenblick, der in diesem Schriftstück beschrieben wird.
Viele Male habe ich mit meinen Eltern diese Fahrt gemacht und einige Male mit Roland. Die Sacrower Kirche, am Wasser gelegen, das ganze Ufer jenseits der Pfaueninsel war durch die Mauer abgesperrt seit den Sechzigerjahren, und immer hatte das Schiff wie selbstverständlich an der Glienicker Brücke wenden müssen. Oben an Land hatte Roland im Film 1976 vor dem Schild ‚Berlin‘ posiert, im Hintergrund sah man die Schranke auf der Brücke und noch weiter weg die ersten menschenleeren, verrotteten Villen von Potsdam.
Jetzt stand die Sacrower Kirche frei, und der Dampfer fuhr genauso selbstverständlich unter der Brücke hindurch – das war schon ein erhebender Augenblick. Aber dann, hinter der Biegung, weitete sich die eng gewordene Havel überraschend wieder zu einem neuen, großen See. Links am Hügel lag Schloss Babelsberg, rechts begann Potsdam sich zu erstrecken. Das, was ich immer für das Ende der Welt gehalten hatte, war ihr Anfang gewesen. Die Havel wurde hier nicht zum Rinnsal, sondern entfaltete sich zu einer grandiosen Offenheit, die alles von Tegel bis Wannsee in den Schatten stellt. „Wenn es nicht mehr weitergeht, dann fängt es erst an“, diesen Satz habe ich schon vor Jahren geschrieben, als ich geglaubt hatte, unter dem Eindruck von Drogen an eine (Lebens-)Grenze gestoßen zu sein, und dann, mit Mut, tun sich neue Empfindungszentren auf, die eine weitere Eroberung unumgänglich machen – hier war die geografische Entsprechung dazu. Als wir auf Potsdam zufuhren, hatte ich ein solches Gefühl von Freiheit und Weite, wie ich es nur auf Highways von Los Angeles her kannte, wissend, dass diese wahren Freiheiten dort stattfinden, wo auch die wahren Abenteuer sind: im Kopf.
Die Dame aus dem Lautsprecher machte auf die Garnisonkirche und das Stadtschloss aufmerksam, natürlich konnten wir beide nicht sehen: Das Schloss hatte Ulbricht sprengen lassen, die Kirche Honecker, stattdessen standen dort nun abblätternde Mietshäuser im warmen Sonnenlicht.
In Potsdam hielt unser Dampfer, wie zu erwarten, und es stiegen viele Menschen, aber nicht genug aus, denn noch viel mehr stiegen ein. Das Unvermeidliche geschah, die Bank vor uns blieb als einzige leer, aber drei Menschen, die hinten so überhaupt keine Augen im Kopf hatten, setzten sich auf die Bank hinter uns. Ich weiß, es ist ungerecht, aber irgendwie gab ich Ingrid die Schuld, sie sah so harmlos aus. Sich vor mir nicht zu fürchten, ist unvernünftig, denn ich bin triebbestimmt, nur manchmal dient mir der Verstand als Rettungsanker.
Nun fuhren wir wieder. Ich meine, es war wirklich sehr schön, das Wetter, das Wasser, das Wissen: Hier war ich nie, hier komm’ ich her. Klar, in Wirklichkeit komm’ ich aus Schlesien und Polen und dem Rheinland, ‚Rheinland‘ sagte zumindest meine Großmutter immer, obwohl ihr Geburtsort Essen auch damals schon an der Ruhr lag, ein Fluss, bei dem ich eher an Darmkrankheiten denke, als dass ich ihm liebevolle Gefühle entgegenbrächte wie meiner Havel, die unser dreier Leben nach Jahren weniger bestimmt hat als die Elbe: ein in Wurzen in Sachsen geborener Guntram, eine staatenlose Irene aus dem Freistaat Danzig und ein mit sieben Jahren von Berlin weggezogener Hanno. Aber die wahre Heimat ist genau da, wo auch die wahre Freiheit und die wahren Abenteuer nisten. Der Überschwang, von einem See über ein schmaleres Flussstück in den nächsten zu gleiten – das Ufer nah, das Ufer weit –, das war mehr für mich als eine Fahrt ins Grüne, das war Eroberung neuer Welten. Am Sonntag, dem 4. Mai 1997, fiel endgültig die Mauer, die Welt ging auf am Havelsee bei zwanzig Grad im Schatten, ganz bestimmt!
Ich war beeindruckt, als die Dame aus dem Lautsprecher uns sagte, hier habe Einstein gewohnt, während wir in Caputh anlegten. Ich wusste das zwar, hatte es aber, zu DDR-Zeiten unerreichbar, immer trotzig als ‚kaputt‘ gelesen; jetzt wurde es praktisch für Potsdam und Berlin das, was für Hamburg schon immer der Süllberg war.
Alles erhebend, alles bewegend. Bloß – wie sollte das enden? Ein See immer idyllischer als der andere, doch wo blieb Werder?
In meiner Planungsnot wandte ich mich an die drei, die hinten keine Augen im Kopf hatten, denn sie sprachen sehr fachkundig von der Gegend und machten auch sonst einen aufgeschlossenen Eindruck.
Die von mir für den gesamten Ausflug veranschlagten zweieinhalb Stunden dauerte es, vom Wannsee nach Werder zu kommen. Eine Stunde Aufenthalt und wieder zweieinhalb Stunden zurück, das hieß nicht nur, den wichtigsten Punkt der Reise, die Wissmannstraße, zu streichen, da war auch ‚Let’s pop‘ schon voll in Gange – Vorstellungsbeginn: achtzehn Uhr.
Ob es auch einen Zug von Werder nach Berlin gäbe, erkundigte ich mich. – Ja, gäbe es. Man lande in Werder auf einer Insel an. Die müsse man überqueren, dann laufe man parallel zur Hauptstraße den Hügel rauf, und von oben gehe man die Treppe wieder runter, dann sei man auch bald an der Bahnstation.
„Aha!“, dachte ich. Mehr zu denken verbot ich mir. Werder, das hatte ich mir von Guntrams Erzählungen her vorgestellt wie das Alte Land bei Hamburg: lange Tische, nahe am Wasser. Familien sitzen unter Obstbäumen bei Kaffee und Kuchen. Hier würden sie stattdessen bei Obstwein sitzen, mir sowieso viel sympathischer.
Titelgrafik mit Material von Shutterstock: Ferdinand Schmutzer (Einstein), SuriyaPhoto (Bilderrahmen), André Stiebitz (Schloss Babelsberg), Potapov Alexander (Bäume), photolike (Sacrower Kirche), by-studio (Umleitungsschild)
#2.05 (D) | Geld wegzaubern#2.05 (F) | Schnapsleichen und Marzipanpflaster
Berlin und Umgebung auf dem Boot zu erkunden gehört zu den Dingen, die ich zwar schon öfters vorgehabt, aber noch nie umgesetzt habe. Irgendwann einmal…
Man muss bei so etwas halt wirklich Glück mit dem Wetter haben. Im Regen oder im Grauen hat man keinen schönen Ausblick und bei zu viel Sonnenschein verbrennt man auf Dauer auf dem Deck zu leicht.
Die Hürden für eine lustige Bootsfahrt sind also hoch 😉
Hauptsache, die mitfahrenden Trinker sind nicht zu lustig und die Lautsprecher nicht zu dröhnend.
Das unterstreiche ich sofort. Die entspannte Stimmung auf so einem Ausflug kann tatsächlich schnell kippen sobald jemand am Nebentisch oder auf der nächsten Bank ein Bier zu viel hatte.
Ich habe aber auch schon Glück gehabt und wirklich nette Leute kennengelernt. Das kann so oder so laufen…
Ich hab das einmal gemacht kurz nachdem ich nach Berlin gezogen bin. Mittlerweile ist das auch schon wieder 18 Jahre und einen Wegzug her.
Ich finde, es lohnt sich. Ich werde es wieder machen.
An einem sonnigen Tag ist das wirklich eine wunderbare Sache. Man muss sich nur wie oben angedeutet von nervenden Mitfahrern fern halten. Schließlich ist man eine ganze Weile unterwegs.
Vor allem sieht man mal eine Seite, die man sonst nicht sieht.
Das gilt besonders für Regierungsviertel und Landwehrkanal.
Hahaha, die Taktik heimlich das Schritttempo anzuheben um ohne viel Druck noch einen Termin oder ein Treffen zu schaffen, habe ich auch schon oft probiert. Das Ergebnis hängt allerdings sehr von den Begleitern ab. Manche passen sich gleich an, andere sind da völlig unsensibel.
Es braucht ja auch einen sensiblen Anführer 😉 Wer ohne etwas zu sagen einfach mit großen Schritten voraus rennt, der bekommt wahrscheinlich eher genervte Blicke von den Anderen.
Ein Reiseführer, der Mut hat, gibt zu: Wenn dieser Dampfer weg ist, klappt es erst morgen wieder, aber da sind wir ja schon in Prag, Rom oder Paris.
Da muss man dann auch einfach durchgreifen und darauf vertrauen, dass der Reiseführer es eben besser weiss als die unbedarften Hinterherläufer.
Hahahaha, viel Glück dabei! Ihnen werden wahrscheinlich eher die Leute weglaufen.
Man muss gleich ein Abhängigkeitsverhältnis schaffen: Pässe wegnehmen, Prügelstrafe u.ä.
Die Wegbeschreibung in Werder klingt ähnlich wie die Anweisungen vom Busfahrer neulich.
Die zweieinhalb Stunden hin und zurück sind aber auch ein Ding.
Zweieinhalb Stunden in jede Richtung!
Den Satz „Wenn es nicht mehr weitergeht, dann fängt es erst an“ kann man wirklich auf viele Lebenssituationen anwenden.
Und macht das eher Mut oder schüchtert es ein?
Vorher schüchtert es ein. Nachher macht es Mut.
Kommt wohl auch darauf an, ob man es als Chance für etwas Neues, Gutes sieht oder als Androhung von mehr Schlechtem.
Eroberung neuer Welten! Ja bitte!
Das muss dann aber im Persönlichen passieren. Also, dass man z.B. neue Erfahrungen macht. Bitte nicht im Verständnis Putins.
Na von Eroberung im militärischen Sinn war doch auch überhaupt keine Rede.
Die deutsche Sprache sei vom Preußischen her gespickt mit militärischen Ausdrücken, las ich gerade. Aber nicht nur unsere Roland Kaiser liebende Verteidigungsministerin würde niemals von Soldaten sprechen, ohne ihnen die Soldatinnen voranzustellen. So wird aus einem Doppelkorn doch noch ein Smoothie.
Mein Sonntagsausflug bringt mich heute nur bis zum Wintergarten. Bei Kaffee und Regenprasseln. Es mag weniger aufregend sein, aber eigentlich dich ganz gemütlich.
Vom Fenster in meinem Arbeitszimmer sehe ich auf Eichen, die noch im Februar zu verharren scheinen.
Freunde schickten mir gestern ein Foto aus Schweden … mit einem knappen Meter Schnee. Man kann sich das Wetter nicht aussuchen.
Das Wetter kann man sich nur dann aussuchen, wenn man frei ist, sich den Ort selbst auszusuchen. Sonst wählt man halt bloß im Urlaub zwischen Spitzbergen und Marokko ganz nach eigenem Geschmack.