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2. Berlin-Reise / 2000

#2.28 | Sehen trotz Kontaktlinsen

Dienstag, 11. Juli

Ich war verblüfft. Prüfend schickte ich mein Bewusstsein in jede erdenkliche Körperzelle. – Kein Zweifel: Es ging mir gut – falls das den Zustand bezeichnet, in dem es einem nicht schlecht geht. Ich stand auf, kochte Wasser für den Teebeutel und beschmierte einen Zwieback mit Pflaumenmus. Es kam mir ganz exotisch vor, so normale Dinge zu tun. Das Badewasser lief, das Geschirr klapperte. Wäre es nicht elf Uhr vormittags gewesen, so hätte das der Tagesbeginn jedes x-beliebigen Arbeitnehmers sein können. Ich hatte genügend Drive, um in verschärfter Form meinen E-Mail-Anschluss anzumahnen. Um 13.30 Uhr sollte jemand von Siemens kommen, wurde mir versprochen.
Gestern hatte ich mit Socken, Unterwäsche und Friseur einen Anfang gemacht. Heute wollte ich mein Programm vom Kopf auf die Füße stellen: Leichte, schwarze Sommerschuhe schwebten mir vor und eine Jeans. Vier hatte ich in Hamburg im Schrank gehabt, die beiden besseren nach Berlin mitgenommen. Der Anblick im Fahrstuhlspiegel war niederschmetternd: abgewrackt, ausgeleiert. Was ich mir beim Reinschlüpfen als geil-verschlissen ausgemalt hatte, erwies sich bei objektiver Betrachtung als figurlos-verschlampt. Der Vorteil von Badezimmerspiegeln ist, dass man unten und hinten nicht sieht und deshalb selbstbewusst auf die Straße treten kann. Der Vorteil von Kopf-bis-Fuß-Rundum-Spiegelung ist, dass man über Änderungsmöglichkeiten nachdenken kann.
Wegen des Schuhkaufs blieb mir nichts anderes übrig, als ein Paar der gestern erstandenen Socken einzuweihen und Slipper anzuziehen. Aus ‚TOD’s‘-Loafers kommt man besser raus als aus Senkel-Schuhen. Es gab einige Schuhgeschäfte an der Friedrichstraße, aber was sie an Schuhen im Schaufenster ausstellten, waren die beiden Gegenteile dessen, was ich wollte. Mehr oder weniger weiße Turnbekleidung mit Stupsnase und drei farbenfrohen Streifen an den Seiten oder Panzerschuhwerk mit Plateausohle, klobig, als trage man eine Dampflokomotive als Fortbewegungsmittel am Fuß. Schlanke Eleganz ist außerordentlich unmodern, zumindest an den Fesseln. Vom Straßenbild her wusste ich das eigentlich, aber als Ware im Schaufenster langt es doch noch unverfrorener ins Bewusstsein. Einzig bei ‚Budapester Schuhe‘ sah ich im Regal einen federleichten Schuh aus zartem Leder. Sechshundertachtzig Mark! Ich war empört. Für das bisschen Schuh so viel Geld! Wo kiloschwere Lokomotiv-Treter weniger als die Hälfte kosteten. Wenn ich an zwanzig Nachmittagen die zierlichen Budapester trüge, dann würde mich das pro Nachmittag vierunddreißig Mark kosten. Und wenn ich dann noch drei Petits Fours à vier Mark fünfzig essen würde, statt eines Stücks Buttercremetorte zu drei Mark, wäre ich so verschwenderisch, wie meine Eltern es immer von mir behaupten. Ich registrierte, bevor ich das Geschäft verließ, dass sich ein Mann, der mit seinem Begleiter Russisch sprach, drei Paar Schuhe einpacken ließ, und beklagte den Werteverfall.
Mir war klar, dass es mit den Jeans auch nicht so einfach sein würde, dass aber an denen kein Weg vorbeiführte. Ich besitze ein Paar schwarze Stiefel für Wintermärsche neben den vier oder fünf Paaren, die ich nicht mehr er-tragen kann; ein Paar noch recht anständige schwarze Abendschuhe neben den drei unanständigen; und ein Paar schwarze Leinenschuhe für Freizeit und Frohsinn. Meine vier Jeans aber sind untragbar geworden, alle.
Hosen sind Schuhen überlegen; man sieht ihnen nicht sofort an, wie grotesk sie sind, sondern erst, wenn man selbst grotesk in ihnen dasteht. Nachdem ich mich in Spezialgeschäften bis weit über die Grenze der Selbsterniedrigung hinaus von meinem Anblick in Levi Strauss’ und ähnlich Authentischem hatte deprimieren lassen, betrat ich erhobenen Hauptes das Lafayette wie ein Großwildjäger Hagenbeck. Auch der jung gebliebene Verkäufer hatte das gebremst Animalische einer im Zoo geborenen Leopardin. Mit Raubtiergriff zerrte er an einigen Exemplaren und sagte bei drei von ihnen: „Die sind richtig für Sie.“
Mir war klar, dass ich mich vom Pfad des Wahren und Echten fort ins schillernde Dickicht der Designer-Ware begeben hatte und erlag schließlich einer Armani, die ich die Leopardin unerbittlich zwang, mir um vier Zentimeter zu kürzen, trotz ihrer Beteuerung, die Hose müsse so aufliegen. Mich interessierte nicht, was die Hose musste, sondern wie ich aussah, mit bis in den Schritt verschrumpelten Beinen. Sie hatte sich zu fügen. Am Freitag könne ich die gestutzte Jeans abholen.
Mit leeren Händen, aber einem Zettel im Portemonnaie, ging ich zur Rolltreppe. Ein bindfadenfarbener Pullover, grobmaschig, für dreihundertzwanzig Mark gefiel mir im Vorbeigehen. Über zweihundert für eine Jeans ist doch auch viel, dachte ich, in Euro wird das weniger. Es drängte mich, zum Ausgleich etwas Preiswerteres zu kaufen. Bei H & M – Schwellenangst ist mir fremd – kaufte ich ein dunkelblaues und ein weißes T-Shirt, beide saßen wie angegossen und kosteten je zwölf Mark. Unterm offenen Hemd trag’ ich nicht gerne Hals pur, und meine sechs mitgeführten Schlipse würde ich auch nicht immer umbinden wollen. Aber heute Abend, Uwe Dierks hatte mir auf Band gesprochen, er, Thomas Grube und Craig Urquhart wollten heute Abend mit mir in die ‚Bar jeder Vernunft‘ gehen: zu Gayle Tufts Show ‚Miss Amerika‘. Uwe und Thomas, der Thommy genannt wird, was ich etwas penetrant finde, haben eine TV-Produktionsgesellschaft und wollen einen beziehungsweise den ultimativen Bernstein-Film fürs neue Jahrtausend machen. Craig war bis zu Bernsteins Tod dessen Assistent, jetzt ist er Vice President der Firma, die im Sinne der Erben Bernsteins Andenken bewahrt oder die Leiche fleddert – je nach Gesichtspunkt. Ich kannte Uwe schon länger, aber nur vom Sehen im Kreise derer, die Bernstein groupiemäßig zwischen Bar und Bett und Backstage begleiteten. Zusammen mit Thommy besuchte er mich im vorigen Jahr. Beide waren sehr sympathisch und voller Eifer, und so hatte ich sie rechtzeitig wissen lassen, dass ich in Berlin sein würde.
Ich sah auf die Uhr. Es war Zeit, zurückzugehen, aber es bestand kein Grund zur Eile. Straßen, Häuser, Menschen. Das war Berlin. Etwas völlig anderes als vor zwanzig Jahren, als London, Paris und München schon genau das waren, was sie jetzt noch sind. Armani-Jeans und Autobusse gibt es überall – nichts Besonderes. Die Summe der Kleinigkeiten und die Summe der Vorstellungen addieren sich zu einem Klima, das die Medien ‚anregend‘ oder ‚aufregend‘ nennen oder ‚mega-out‘ – eine Börse, die Millionen beeinflusst: Gelder und Menschen. Eine Hose für 260,00 DM, zwei T-Shirts für zusammen 24,00 DM. Drei Teile für 284,00 Mark. Unter hundert Mark pro Stück. Aber der Bindfaden-Pullover kostete über dreihundert.
Der SAT.1-Ballon hing über meinem Balkon, im Innenhof lärmten Kinder, die bei Regen drinnen gespielt hätten. Der Siemens-Mann kam eine Viertelstunde zu spät. Er telefonierte dreimal um Kollegenhilfe und hatte das Problem nach anderthalb Stunden gelöst: Er musste einen Befehl ausschalten, bestimmte Daten zu ignorieren – fertig. Vorher hatte ich nie Probleme gehabt, aber kaum befand ich mich auf dem ehemaligen Hoheitsgebiet der ehemaligen DDR, schon stellte sich mein PC als einseitig programmiert heraus.
„Eigentlich soll das ’ne Hilfe sein“, erklärte mir der Siemens-Mann.
Das sagen sie dann immer, die Zensoren. Er verabschiedete sich, und ich konnte ins Internet. Zuerst kam ich mir vor wie ein Volksschädling, der sträflicherweise Feindsender abhört, dann wie ein Hacker im Auftrag der russischen Regierung. Aber nach kurzer Zeit wird alles Routine, und dann trägt man federleichte, schwarze Slipper für hundert Mark, zuerst mit Begeisterung, später mit Selbstverständlichkeit: zum Ball, zum Spaß, zum Schluss zum Müll.
Ich las die Empfehlungen des ‚Barbaren in Berlin‘ zu Ende. Bloß eins von sieben Kapiteln hatte den Westen gewürdigt, eher herabgewürdigt. Nur die Fasanenstraße gefiel selbst ihm. Sonst beschäftigte ihn neben Kulturellem mehr, wo es das billigste Bier und die größten Portionen gibt: ‚In dem arabischen Schnellrestaurant Rissani findest Du Berlins leckersten Falafelteller, 5 Mark für eine ganze Mahlzeit!‘ Auf dem Umschlagbild sitzt er allerdings mit schwarzem Sakko und weißem Hemd vor Großem Braunen, Cognac und Hegel an kühn gestyltem Tisch. – Hier gibt es so viele Trends und Möglichkeiten, dass du, um nichts zu verpassen, vielseitig bis zur Verlogenheit sein musst.
Optiker sind rar, vor allem, wenn man sie sucht. Beerdigungsinstitute, die man eigentlich seltener braucht, sind im Straßenbild geläufiger: an Bussen, Haltestellen, Eckhäusern. Oder bilde ich mir das ein? Ein Trauerfall in Ihrer Familie, Fragezeichen. Brille. – Fielmann, Ausrufungszeichen. Todessüchtig … Hellsichtig …
Unten, in der Friedrichstadt-Passage, hatte ich eine Einrichtung entdeckt, die zunächst wie eine Galerie anmutete, deren Objekte aber, kunstvoll beleuchtet und erlesen platziert, dennoch Brillen waren. Eine Dame kam so forsch auf mich zu, dass ich sie nicht für Kundschaft halten konnte, und fragte mich diesen amerikanischen Standardsatz: ‚Kann ich Ihnen helfen?‘, der von ‚Was wünschen Sie?‘ bis ‚Hau ab!‘ so ziemlich alles bedeuten kann. Dass ich auf kein brillantenbesetztes Lesegerät fixiert war, sondern mehr ein Allerweltsding wollte, mit dem ich, auch wenn ich Kontaktlinsen trüge, meine altersbedingte Weitsichtigkeit auszugleichen fähig wäre, brachte sie nicht in Verlegenheit. Sie griff, nahezu blindlings, in eine Schublade, aber ihr Blick verriet mir, dass sie meine Dioptrien und – heikler noch – mein Alter wissen wollte. Ich nannte ihr beides und fand es unwürdig, bei den Dioptrien zu schummeln. Sie griff ein silbernes Futteral – wie schreibt man wohl Schi-Schi: Chichi? –, darin lag etwas Zerbrechliches, dem zuzutrauen war, dass es mich klarsichtig machen könnte, wenn ich Linsen trüge, die früher dem Kontakt dienten, aber seit einiger Zeit verhindern, dass ich in der Nähe etwas entziffern kann. Früher war ich kurzsichtig. Jetzt bin ich nicht mal das so richtig. Ich betrachtete Brille und Etui. Aufsetzen war zwecklos.
„Hundert Mark“, sagte die Dame.
Ich sagte: „Gut.“ Das war gelogen. Dann sagte ich die Wahrheit: „Es wäre doch sicherer, sie auszuprobieren … Ich komme noch mal wieder, wenn ich die Kontaktlinsen drin habe“; das war wieder gelogen.

Von Osten nach Westen. Ich war am Wittenbergplatz aus der U-Bahn gestiegen. Auf dem Tauentzien (so nennt man die Tauentzienstraße) musste es doch neben dem KaDeWe auch einen Optiker geben, hoffte ich skeptisch. Ich trug sie, die Kontaktlinsen, und wollte bei dem zu erwartenden Essen die Auswahl der Speisen nicht dem Zufall überlassen. Da ich zwei solcher Sehhilfen in meinem Schreibtisch in Hamburg meist verwahre und immer vergesse, lag mir nicht daran, ein besonders teures Modell zu erwerben. Spätestens an der Marburger Straße musste ich, wusste ich, abbiegen, von dort an würde es keine Geschäfte mehr geben. Aber siehe da: Kurz zuvor stieß ich auf eine Ruhnke-Filiale; dieses Unternehmen wirbt bereits seit den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem eingängigen Slogan ‚Sind’s die Augen, geh zu Ruhnke!‘ Schon als Berlin noch Reichshauptstadt war, kalauerten seine Bewohner: ‚Sind’s die Augen, geh zu Mampe, gieß dir einen auf die Lampe; dann kannste alles doppelt sehn, brauchst nicht mehr zu Ruhnke gehn.‘
Man befand auch: ‚Die Traurigkeit hat keinen Zweck, Grieneisen schafft die Leiche weg.‘ Ja, so ist er, der Berliner Volksmund. Zweifellos wäre auch ich lieber zu Mampe gegangen, aber das ist nun mal abgerissen, und Ruhnke war wieder da.
„Ich möchte eine Brille, damit ich lesen kann, wenn ich Kontaktlinsen trage.“ Ich fand, das klang etwas umständlich, aber die Optiker-Verkäuferin bat mich sehr freundlich, Platz zu nehmen.
„An was für ein Modell hatten Sie denn gedacht?“, fragte sie liebenswürdig.
„Gibt es so viel Auswahl?“, erkundigte ich mich. „Ich wollte so eine Wegwerfbrille.“
Sie schien zumindest zu wissen, wovon ich redete, denn ihr Gesicht bekam einen Ausdruck, als hätte ich nach einer Pornobrille gefragt.
„Die sind ganz schädlich, die dürften wir eigentlich gar nicht führen“, sagte sie und langte nach hinten.
Sie führten sie eben doch.
„Ich nehme sie ja nur zum Programmheft- oder Speisekartenlesen“, beruhigte ich sie und kam mir dabei vor, als beschwichtigte ich sie: ‚Heroin spritze ich immer erst nach dem Abendbrot.‘
Sie blieb gekränkt, aber mein Geld nahm sie doch: 19 Mark. Davon konnte sie sich natürlich nur einen weißen Kittel leisten und kein solches Kleid wie die Dame aus der Friedrichstadt-Passage, im Keller zwischen Lafayette und ‚Planet Hollywood‘.

Titelbild mit Material von hanohiki/Shutterstock

Hanno Rinke Rundbrief

18 Kommentare zu “#2.28 | Sehen trotz Kontaktlinsen

    1. Im Geschäft stimmt das wohl. Aber der Job eines Verkäufers ist es nunmal zu verkaufen. Eine ausführliche Lebensberatung gibt es selten im Vorbeigehen.

  1. Badezimmerspiegel können ja so unterschiedlich sein. Die einen mahnen und erinneren, die anderen schmeicheln eher.

    1. Genau wie die Spiegel in vielen Kaufhausumkleiden. Manchmal wundere ich mich da, dass die Inneneinrichter einen nicht besser aussehen lassen.

  2. Gut sitzende Jeans sind fast so schwer zu finden wie gut sitzende T-Shirts. Beide Kleidungsstücke haben ja gemeinsam, dass sie wirklich in jedem Kleiderschrank zu finden sind, aber trotzdem gar nicht so selbstverständlich gut aussehen, wie scheinbar jede(r) denkt.

    1. Ein T-Shirt ist meiner Meinung nach einfach kein besonders hübsches Kleidungsstück. Aber schwer zu finden … na ja, das geht schon.

  3. Das billigste Bier und die größten Portionen klingt sehr nach Berlintourismus. Auch 2022 noch. Ich hab im Freundeskreis jedenfalls schon ähnliche Äußerungen gehört. Unglaublich eigentlich.

  4. Rissani sagt mir überhaupt nichts. Aber diese „beliebtesten“ oder „besten“ Irgendwas-Teller taugen ja eh am ehesten dazu, die Touristen von den wirklich leckeren Lokalen wegzulocken. Da ist Berlin sicher keine Ausnahme.

    1. Ich finde man muss sich grundsätzlich nicht eine Stunde für ein Essen anstellen. Da reserviere ich lieber wenn es nötig ist.

  5. „Es ging mir gut – falls das den Zustand bezeichnet, in dem es einem nicht schlecht geht.“
    Ja genau, das muss man sich doch viel öfters bewusst machen!

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