Fünf nach zwei stand ich wieder auf der Friedrichstraße. – Fünf Minuten zu spät. Der Elektroladen hatte geschlossen. Jenseits der Linden würde ich problemlos bis 16 Uhr eine Videokassette kaufen können, aber das war nicht meine Richtung. Ich hatte mir vorgenommen, die Wahrheit über die Sonnenallee in Augenschein zu nehmen, und das bedeutete, dass ich mit der U-Bahn zunächst bis Tempelhof rausfahren musste, dort hinter einem Gesträuch meiner Blase Lauf ließ – vererbungs- oder milieugeschädigt – und in einem ziemlich nahen Edeka-Laden tatsächlich eine Videokassette kaufen konnte. Wurst und Brot brauchte ich ja nicht mehr. Erst dann kehrte ich zum Bahnhof zurück und bestieg die Linie nach Königs Wusterhausen. Mein Argwohn, dass die Sonnenallee nicht direkt so aussehen würde wie die Straßen um die Charité wuchs und wuchs. Der Himmel klärte sich auf, und als ich am Tempelhofer Feld vorbeifuhr, dachte ich, es wird schön. Wenn ich dem Schwindel mit der Sonnenallee auf die Schliche gekommen bin, fahre ich raus nach Hoppegarten und gehe in Evelyn Bernsteins1 Kindheit spazieren.
Wie rasend schnell kann sich doch eine dunkle Wolke ausdehnen! Als ich am Bahnhof Baumschulenweg ausstieg, war ich dreizehn Stationen östlich vom Bahnhof Zoo in einer Siedlungsgegend, die an Baumschulen nicht mehr erinnerte als der Hohenzollerndamm an den Großen Kurfürsten. Es begann, sehr heftig zu regnen, was mich im ersten Augenblick freute, weil ich auf diese Weise meinen Schirm amortisieren konnte. Das Vergnügen war mir aber rasch verleidet. Ich konnte nichts sehen, allerdings gab es wohl auch nichts zu sehen, und der Regen hatte wenig Respekt vor meinem Schirm, sondern eher die Neigung, mich seitlich anzugreifen, sodass ich mich bald fühlte wie die Leute mit dem Schnitzelteller vor Lutter & Wegner. Meine große Hoffnung war nicht, dass es aufhören würde zu schütten, sondern – weniger vermessen – dass ich in die richtige Richtung lief. Jemand, der in einem Hauseingang stand, bestätigte mir, dass ich, wenn ich nur lange genug geradeaus gehen würde, auf die Sonnenallee stieße. Vom Stadtplan wusste ich, dass ich an der Kreuzung rechts abbiegen musste, dann würde ich auf dem kurzen Stück der Sonnenallee sein, das zu Treptow gehört und verfilmt worden ist, und wenig später, nach Überquerung des Heidekampgrabens, wäre ich im Westen: Neukölln. Da müsste ich dann noch einmal doppelt so lange gehen wie über den Baumschulenweg, um mich durch den Von-der-Schulenburg-Park zum S-Bahnhof Köllnische Heide durchzuschlagen, wobei ich davon ausging, dass es dort genauso viel Heide geben würde wie Jungtannen am Baumschulenweg.
Es war wie angezogen duschen. Berlin, eine Stadt, die sich wusch. Ich geriet an eine Bushaltestelle und genau in diesem Augenblick kam ein Bus. Er fuhr zum Märkischen Museum. Wenn ich jetzt feige kneifen und dort einsteigen würde, könnte ich nach vermutlich langer, langer Zeit an der Endstation umsteigen in die U-Bahn und wäre drei Stationen weiter – Spittelmarkt, Hausvogteiplatz, Stadtmitte – vor der Tür meines ‚Madison‘. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte ich mich an der Verlockung vorbei. Ich dachte an das ‚Schweigen der Sirenen‘ und erreichte die Kreuzung Baumschulenweg/Sonnenallee. – Ein Etikettenschwindel ohnegleichen. Keine Sonne, sondern ein Guss, inzwischen gewürzt durch Gewitter. Keine Innenstadt, sondern breite Straße mit Grün in der Mitte; Bäume entlang des Gehwegs, an Straßenbahn nicht zu denken. Einzelne Neue-Heimat-Mietshäuser, von Rasen gesäumt. Dann kam hinter dem schmalen Graben das Schild ‚Neukölln‘, und dann ging es mit genau denselben Sechziger-Jahre-Gebäuden weiter. ‚Sonnenallee‘! Ein einziger Betrug. Nichts, aber auch nichts stimmte. Als ob man in ‚Königin Luise‘ geht, und die singt sofort los, dass sie die fesche Lola sei. Der Vergleich hinkt weniger, als ich es inzwischen tat, denn die Seitenwege zu den Vierstöckern hießen: Fritzi-Massary-, Leo-Slezak- und Heinrich-Schusnus-Straße. Im Osten hatten sie Frauenlobstraße und Wohlgemuthstraße geheißen, und gießen tat es die ganze Zeit wie närrisch.
Es tauchte wieder mal eine Bushaltestelle auf. Dort stand ein Mann meines Alters im Trocknen und kommentierte mich: „Jrößer geht’s wohl nich’?“ Da er meinen morgendlichen Vers nicht kannte, spielte er wohl auf meinen Schirm an.
„Geht’s hier zur S-Bahn?“, fragte ich zurück.
„Ham Se ma’ ’ne Mark?“, parierte er seinerseits meine Frage mit einer Gegenfrage, „ich brauch’ ’n Brot“, erklärte er und unterstrich seine Lüge noch, als ich schon mit der schirmfreien Linken nach meinem Portemonnaie fummelte, das sich in der rechten hinteren Hosentasche unter dem Mantel befand: „Ich brauch’ wirklich ’n Brot!“ In seiner Linken hielt er eine Bierdose, leer vermutlich, so wie sie zerbeult war.
Mein Schirm war wirklich gewaltig. Während eines ähnlichen Unwetters wie diesem war ich ins Alsterhaus geflüchtet und hatte ihn wegen seiner farblichen Ergänzung zu meinem Regenmantel gekauft. Danach hatte ich, wo ich schon mal dort war, in der Lebensmittelabteilung, bei den Schreibwaren und im Kosmetikbereich dies und das, was man so braucht, erstanden, an längeren Kassenschlangen abgestanden und unten im Sound-Center in CDs gestöbert. Als ich wieder auf den Jungfernstieg trat, war der Himmel unbefleckt, aber ich war gewappnet gegen alle Tiefs Islands, ja, ich war sogar überzeugt, dass ich Jessye Norman und Pavarotti ebenfalls hätte Schutz gewähren können, und alle drei wären wir trocken geblieben. Wohl ein Irrtum, denn hier auf der Sonnenallee hatte ich es bereits geschafft, nasse Füße und unter dem Mantel nasse Knie zu bekommen. Ich nestelte zwei Mark aus den Münzen und sagte liberal: „Mir ist egal, was Sie sich davon kaufen.“
„Zur S-Bahn immer geradeaus“, beendete er unser Gespräch zuvorkommend.
Ich stapfte weiter; nun wusste ich, dass ich auf dem rechten Weg war. Er lief schirmlos Richtung ‚Bolle‘. Bier und Brot – klingt das nicht biblisch? Es war nicht mehr besonders weit, auch wenn ich den Schlamm des Schulenburg-Parks mied und die nächste Straße zur S-Bahn vorzog, sie hieß Krebsgang.
Gleichzeitig mit mir traf der Zug ein. Nun schüttete es so unerhört, dass ich nichts mehr sehen konnte. Die Wagenscheibe und meine Brille waren beide gleichermaßen beschlagen, bei aller Fantasie konnte ich nicht erahnen, was sich draußen abspielte. Insofern war es ungünstig, dass dies der erste Zug seit meiner Ankunft in Berlin war, in dem die Stationen nicht über Lautsprecher angesagt wurden. Beim nächsten Halt ergriff mir gegenüber ein Pärchen Platz, sie: hässlich und ungeschminkt, er: vollkommen unattraktiv, auch ungeschminkt, allerdings schlecht blondiert. Sie sprachen lebhaft miteinander und gaben sich nach jedem, aber auch jedem Satz fünf schmatzende Küsschen auf die Lippen; der, der gerade nicht sprach, schürzte seine bereits erwartungsvoll, während der andere noch redete. Das machte mich so wahnsinnig, dass ich mich darauf konzentrieren musste, sie nicht mit meinem Schirm zu schlagen. Dadurch versäumte ich es, die Stationen mitzuzählen. Als der Zug nach längerer Fahrt hielt, stürmte ich nach draußen. Natürlich befand sich meine Zugtür weit vor der Überdachung. Ich breitete mein Zelt aus, erreichte den geschützten Teil des Bahnhofs, und wirklich, es war Tempelhof. Auf der Hinfahrt war mir aufgefallen, dass die Strecke bis zum nächsten Halt besonders lang gewesen war.
Ich hetzte die Treppe herunter, mit schmerzendem Fuß und von der Furcht getrieben, meinen Anschluss zu verpassen. Tatsächlich – so etwas habe ich im Gefühl – stand der Zug schon da, als ich die letzten zwei Stufen auf einmal nahm, um ein Haar wäre ich lang hingeschlagen. Ich preschte durch die Tür, der Zug fuhr ab. Allerdings in die verkehrte Richtung, stadtauswärts. Das merkte ich so schnell, dass ich auf der nächsten Station wieder aussteigen konnte. Inzwischen vermählte sich die Nässe meines Schweißes im Hemd mit der Nässe, die von außen in meine Jacke eingedrungen war. Die Hochzeitsfeierlichkeiten auf meiner Haut waren in vollem Gange, als im ‚Madison‘-Fahrstuhl eine der Hostessen zu mir stieß. Sie kannte mich nur aus dem Ei gepellt und sah mich erstmalig als Rührei.
Ich gab mich unbefangen und erzählte ihr von der Sonnenallee, vor allem der echten. Sie hinderte mit ihrer Hand die offene Fahrstuhltür am Zuschlagen. Ich stand begossen im Flur, sie makellos im Aufzug.
„Ja‘, sagte sie, „am Anfang dachte ich auch: Der Film ist blöd. Aber dann hab’ ich so gelacht, die ganze Zeit hab’ ich gelacht. Ich hab’ später die Kulissen in Babelsberg besichtigt. Die waren ja so teuer, dass mehrere Filme darin gedreht werden mussten.“ Dann nahm sie die Hand weg. „Schönen Tag noch!“, und die Tür entzog sie meinen Blicken.
Ich war sprachlos. Diese abgeblätterten, verkommenen Fassaden waren auch noch extra gebaut worden! Für dasselbe Geld hätte man womöglich die Innenausstattung einer Grunewald-Villa zimmern können.
Who is who! (Akkordeon)
1 – Evelyn Bernstein
[ˈɛvɐliːn] [ˈbɛʁnˌʃtaɪ̯n]
Die Witwe von meines Vaters Golfpartner
Titelbild mit Material von Jcornelius/Wikimedia Commons (Ausschnitt), CC BY-SA 3.0
Es ist so selten, dass ich bei Filmen herzhaft lachen muss. Aber es ist immer so toll, wenn es doch mal passiert.
Lebensfreude kann man auf alle Fälle noch schlechter planen als Gags in Hollywood.
Ich glaube, man ist, wenn man jung ist, nicht nur veränderungswütiger, sondern auch lachanfälliger als später. Wenn andere sich am Boden wälzen vor Lachen und man selbst bleibt ungerührt sitzen, dann fühlt man sich entweder ausgeschlossen, oder man hält die anderen für doof.
Ist das weil man seine Leichtigkeit verliert? Oder weil man einfach schon zu viel gesehen hat?
Beides kann bestimmt eine Rolle spielen. Und dazu, dass man die Witze vorher schon mal gehört hat 😉
Es macht Spaß, die Gags – verbal und optisch – vorauszuahnen, was routinierten Sehern leichtfällt. Anschließend lachen man man darüber dann leider selten.
Neukölln ist ja nicht ohne Grund angesagt. Aber auch heute noch gibt es da riesige Viertel, wo man nur an endlosen Sechziger-Jahre-Gebäuden entlangläuft. Es dauert wohl noch einige Zeit bis die Gentrification da ihr Ding vollbracht hat.
Und das ist gut oder schlecht?
Ich glaube große Teile Neuköllns sind schon ziemlich gentrifiziert. Aber wer nicht gerne an hässlichen Häusern entlangläuft, dem geht es natürlich trotzdem nicht schnell genug.
Neulich in Britz fand ich Neukölln sehr hübsch.
Hahaha, an die Paarung ‚Bier und Brot‘ musste ich auch gleich denken. Es hat tatsächlich fast etwas liturgische 😉
Obwohl der Papst Wein bevorzugt.
Den kann er sich ja demnächst zu Genüge gönnen, wenn er zurückgetreten ist.
Aber auch im Amt, falls er ihn nicht aus Versehen in Christi Blut gewandelt hat.
Anscheinend war der Film „Sonnenallee“ aber nur der letzte Aufhänger für den Bau dieser Kulissenanlage in Babelsberg. Die Pläne solch einen Straßenzug für Filmaufnahmen zu erbauen gab es, wenn ich das richtig verstanden habe, schon vorher.
Bei Filmsets geht es ja auch nicht unbedingt um Schönheit.
Geschichtlich einigermaßen korrekt schadet dabei aber auch nicht.
Und selbst beim größten Regenschirm gibt es meistens nasse Füße.
Hohe Stiefel helfen, sind aber modisch nicht durchgehend gefragt. Zu den Salzburger Festspielen hatte ich immer Gummi-Galoschen im Gepäck.
Oh ist Salzburg so verregnet?
Naja, früher gab es ja weniger Dürre. Und ich sitze bei Figaros Hochzeit ungern mit nassen Füßen rum.
Das letzte Mal bin ich so lange in die falsche Richtung gefahren, dass sich meine Fahrtzeit fast verdreifacht hat. Schön blöd, wenn man sowas nicht bemerkt.
Blödsein ist menschlich.
Hahahaha, schön gesagt! 🙂