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2. Berlin-Reise / 2000

#2.56 | Einordnung

Sonntag, 30. Juli

Sonntags darf man noch ein bisschen länger im Bett bleiben als am Sonnabend. Der Pfarrer unserer Gemeinde nannte von der Kanzel herab das Zehn-Uhr-Dreißig-Hochamt ‚Langschläfer-Messe‘. Und dass es nicht ausreichte, gerade bloß einmal die Woche diese lange Stunde dem lieben Gott und dem ungnädigen Priester zu opfern, das machte er drohend klar, sodass ich mich konsequenterweise aus der beschimpften Gemeinschaft der Gläubigen ausklinkte. Ein frommer Spaziergang mit meinen Eltern und das Anheizen des Ofens für den Sonntagsbraten, um andächtig ein Stück Fleisch ins Rohr zu schieben, boten segensreich Ersatz, und ich war Gott ausgesprochen dankbar dafür, dass er mir nicht nur den Kirchgang, sondern auch ein schlechtes Gewissen ersparte.

Nach dem fiktiven ‚Ite missa est‘ verließ ich die Zufluchtsstätte meiner Matratze. Zum Mittagessen war ich mit Peter Böhme und Winfried Werner verabredet. Winfried war in den späten Sechzigerjahren ein enger Freund von Roland. Er lebt zusammen mit Peter, der bei den Berliner Festspielen seinen Erfolg und sein Geld verdient und auf beruflichem Wege ein nicht ganz so enger Freund von mir wurde, in den frühen Achtzigerjahren. Zunächst hatte ich mich nicht gemeldet, und dann hat Peter ja auch immer irgendwelche Festivitäten vorzubereiten oder abzuwickeln, und so kam es, dass wir uns erst an meinem buchstäblich letzten Tag allein in Berlin treffen würden.
Das von Peter ausgewählte Lokal hieß ‚Ponte Vecchio‘. Ich kannte es nicht, Peter beschrieb es mir. Von der U-Bahn-Station Bismarckstraße in die Wilmersdorfer und dann gleich in die Spielhagenstraße, wer kennt die schon? Als ich mich, sonntäglich aufputzt, unter die Erde begab, beschlich mich der Verdacht, dass die U2 mir nicht wohlgesinnt ist. Neulich hatte sie mich in Richtung Osten am Senefelderplatz in den Bus entlassen, jetzt ließ sie mich wissen, dass im Westen am Zoo Schluss sei. Pendelverkehr bis Bismarckstraße per Bus. So traf ich mit gelinder Verspätung im ‚Ponte Vecchio‘ ein. Winfried und Peter waren schon da, sonst allerdings niemand. Das Lokal hatte ferienhalber geschlossen und nur unseretwegen noch mal den Herd aufgeheizt. Das sind eben die Vorteile, wenn man bekannt ist.
Peter klärte mich auf, dass es auf dem Bahnhof Deutsche Oper gebrannt habe, gleich nach der Vorstellung. Nun wird die ganze Strecke erneuert. Zur Tragödie war es aber nicht gekommen, im Gegensatz zur ‚seria‘ waren keine Opfer zu beklagen. Es war ein wunderbares Zusammensein. Schade, dass es über Gelungenes und Schönes so viel weniger zu berichten gibt als über Misslungenes und Schreckliches. Ein Flugzeugabsturz macht in den Medien viel mehr her als eine gelungene Landung. Auch in die Kamera kotzen findet bei einer Talkshow mehr Beachtung als wohlgesetzte Worte. Gutes Benehmen heißt: Keine Tempel anzünden; aber wer ist finanziell so abgesichert und so ehrgeizlos, dass er sich ein solches Ausmaß an Gelassenheit leisten kann?
Die ‚BILD‘-Schlagzeile ‚ALLES IST GUT!‘ gibt es nicht. Über ungestörte Harmonie werden keine Bücher geschrieben und keine Filme gedreht. Das mag daran liegen, dass es für einen solchen Zustand weder ein glaubwürdiges Vorbild noch ein zahlendes Publikum gibt. Wenn man trotzdem zwei schwerelose Stunden miteinander verbringen kann, dann ist das Glück. Ein blasser Feiertag, freundlich mild. Beschwingt, nicht schwungvoll. Anregend, nicht aufregend. Ein Gang war köstlicher als der andere, mein Appetit entzückte mich. Das Gespräch war eine Kette von Übereinstimmungen.
Wie so oft gelang es mir, nicht unerheblich zur Unterhaltung beizutragen: Lieber rede ich mit vollem Mund, als zu riskieren, dass die Kartoffeln kalt werden. ‚Zustimmung‘ ist das gute Häppchen für den kleinen Hunger zwischendurch, wenn ‚Anerkennung‘, das Entbehrung voraussetzende Schlemmen wie im Paradies, nicht auf der Karte steht. Noch nicht. Und ich bin noch nicht verbittert. Ich glaube nicht, dass ich verbittert bin. Noch nicht.
Sie waren unverändert. Peter sah mit der langen Nase, dem guten Blick und dem Silberhaar nach wie vor aus wie von El Greco gemalt, und Winfried war wie immer aufgeheizter. Er hat mehr Dampf und Peter kann mehr ablassen. Es ist verblüffend, wie wenig Mittagsschlaf ausreicht, wenn man den Wein zum Essen weglässt. Der ganze Tagesablauf gerät durcheinander.

Am Abend war ich noch mal bei Dorothee in der Bleibtreustraße. Pasta und Pellegrino. Sollte sie vielleicht doch oberflächlich sein, dann ist es die ausgedehnteste Oberfläche, die ich kenne. Sonntag Abend, späte Juli-Dämmerung. Wer sich auf Wehmut abtastet, wird meistens fündig. Der Bahnhof Tiergarten zog vorbei, und ich zog Bilanz. Alle Untaten und Hilfeleistungen, die ich nicht begangen hatte, schienen auch vorbeizuziehen.

Mein Berlin 2000 neigt sich, und es führt kein Gleis mehr an der Einsicht vorbei, dass dieser langatmige Bericht pointenlos enden muss. Kein Liebespaar wird sich kriegen, kein Täter als Überraschung präsentiert. Allenfalls eine tiefgreifende Wandlung des Autors ist noch denkbar, er darf ja lügen. Wahrscheinlicher aber ist, dass ich noch von Glück sagen kann, wenn mir rechtzeitig ein würdiger Abschlusssatz einfällt, und gebe es Gott, dass ich dafür nicht noch etwas erleben muss, sondern dass mein Talent ausreicht, ihn zu erfinden. Welches Talent hat das Mädchen mir gegenüber, das am Lehrter Bahnhof eingestiegen ist? Töpfern? Das Leben hinnehmen, wie es ist? Gar keins? Und das alte Paar gleich an der Tür, das schon dort saß, als ich am Savignyplatz einstieg, und das seither nicht miteinander gesprochen hat. Das Talent, zu schweigen.
Wozu sind Talente da, wenn man nicht bedeutend oder beseelt durch sie wird? Nur dazu, einen verrückt zu machen und vom vernünftigen Weg abzubringen, wie Camus es der Sexualität unterstellt? Was wäre ich ohne Talente! Ein gut funktionierendes, zufriedenes Arschloch: die Freude seiner Familie. – Ich weiß, ich bin ungerecht. Guntram ist ungerecht. Alle sind ungerecht, die nicht das, was sie haben, als freundlichen Ausgleich für das hinnehmen, was sie wollen, aber nicht bekommen. Und die, die den anderen vorenthalten, was sie ihnen nicht geben können oder wollen, sind ebenfalls ungerecht. Ach, und die, die den anderen unbedingt etwas aufdrängen wollen, was die nicht brauchen oder nur noch nicht wissen, wie dringend sie es brauchen – und/oder und/oder. Gerechtigkeit ist nichts weiter als eine Abstraktion, an der wir das Ausmaß der real existierenden Ungerechtigkeit zu messen versuchen.

Ich habe, so unbehelligt wie jedes Mal seit 1990, den Bahnhof Friedrichstraße verlassen. Wenn ich von einem still gewordenen Reisebahnhof, den die Fantasie schützt, in die Wirklichkeit der Straße trete, scheint es mir immer, als käme ich aus dem Kloster ins wahre Leben, aber dieses Mal bin ich wohl eher im Kreuzgang gelandet. Wenige, in sich gekehrte Büßer halten sich mehr an die Säulen der Arkaden als an die Bilder: Schaufenster verschlossener Geschäfte. Flughafen Friedrichstraße, Engel in der Einflugschneise – wäre das schön? Flughäfen haben keine Romantik. Tempelhof hat eine Geschichte, Tegel eine Funktion, Schönefeld eine Zukunft.

An der ausgestorbensten Kreuzung Berlins: Friedrichstraße/Unter den Linden. Alles ist bereit, und niemand ist gekommen. Die Abend-Andacht hat nicht stattgefunden. Allmählich fangen die Langschläfer an, ihre schwarzen Messen zu zelebrieren, fern im Verborgenen. Die Lichter glänzen stumpf. Die hurtige Lampe schaltet von Rot auf Grün und setzt nichts in Bewegung. Aber weil ich diesen Sonntag nicht nihilistisch beenden will, sondern genauso auf-bauend wie diese Stadt – hier mein Credo: Ich glaube, dass wir von und durch Geburt unglücklich sind. Und ich glaube, dass nicht die Unwissenden selig sind, sondern nur, dass der, der Erkenntnisse gewinnt und verarbeitet, eine Chance hat, glücklicher zu werden. Mein Vater sagte, wenn ich ihn dazu brachte, Musik mit mir zu hören und ihm zu deuten versuchte, was da passierte: „Schrecklich! Du sezierst alles! Du kannst gar nicht genießen!“ – O doch, ich kann! Besser als du, und ich weiß sogar, was ich genieße und warum: Weil Zimt am Hühnchen ist! Weil eine Sauerei ganz besonders pervers ist! Weil die Modulationen, mit denen Mozart zur Reprise zurückführt, gleichzeitig logisch und schwindelerregend sind. Ich kann die römischen Ziffern auf dem Umschlag lesen, die mir anzeigen, dass etwas schon zwanzig Jahre alt ist, was andere für brandneu kaufen. Je mehr ich mich auskenne, desto besser bin ich vorbereitet auf das, was unweigerlich auf mich zukommen wird, und selbst wenn es mich umbringt, dann habe ich doch gewissenhaft genug an meinem Deckchen gehäkelt, um ein Lob von der Handarbeitslehrerin zu verdienen, und sei es nur wegen der Initiale E. A. P., die für den vollen Namen stehen, der so viel Platz braucht, wie ihn nur der Bug eines aus drei Strichen gemalten Schiffes bietet.

27 Kommentare zu “#2.56 | Einordnung

  1. Ich muss unbedingt mal wieder einen richtigen Sonntagsbraten machen. Das ist gleich das erste was mir in den Sinn kam.

      1. Sobald der Braten im Ofen ist kommen die ja meistens schnell. Zumindest die Fleischesser.

    1. So lautet jedenfalls die landläufige Meinung. Aber wie sehr einem das ausgetrieben wird, darüber scheiden sich auch die Geister. Es soll ja durchaus glückliche Menschen geben.

      1. Ich weiss nicht, ob ich mich durchgehend als glücklich bezeichnen würde, aber unglücklich bin ich sicher auch nicht.

      2. Und selbst der meditiert regelmäßig um noch ein wenig glücklicher zu werden.

    2. Der neugeborene Säugling ist nicht glücklich, sondern schockiert. Ich schrie als Baby dauernd, sagten meine Eltern mir später. Da war ich wohl eher nicht glücklich.1946 war allerdings auch keine fröhliche Zeit. Meine erste Erinnerung ist Angst. Ich bin der Meinung, dass man Glück erst lernt.

      1. Der Säugling schreit aber ja auch erst, wenn er auf einmal nicht im gemütlichen Mutterleib ist und sich an die neue Umgebung gewöhnen muss. Nicht weil er nicht leben will. Im Bauch schreien Kinder ja eher selten.

      2. Hat man die Einsicht denn so schnell nach der Geburt? Meine ersten Erinnerungen setzen weeeeitaus später ein.

      1. Außerdem regt man sich ja auch immer schnell auf wenn nicht neu gebaut und nicht modernisiert wird. Alles gleichzeitig geht eben auch nicht.

      2. Dafür wird jetzt im Anschluss ordentlich gemeckert. Sogar falls es so etwas wie ein bundesweites 49€-Ticket geben sollte.

      3. Es geht doch ausschließlich darum, dass gerade ärmeren Menschen mit dem 9€-Ticket die Chance gegeben wurde zu reisen. Sei es in der Stadt oder eben bundesweit. Das ist doch ein erwähnenswerter Punkt. Grundlos gemeckert wird doch momentan eher wenig.

  2. Menschen sind halt auch einfach unterschiedlich. Der genießt, weil er genau weiß wann etwas gut ist, der andere genießt hauptsächlich die Überraschung und damit auch irgendwie das eigene Unwissen.

      1. Da habe ich meine Eltern aber besser erzogen. Von den Doors bis zu Mahler Sinfonien wurde ihnen alles aufgezwungen, was mich bewegte.

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