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In der Blase  —   Süd nach Südost

#10 – Badefreuden

Die Ankunft am Strand ist jedes Mal ein Horror. Unsere drei Liegestühle stehen in vorderster Front, dagegen ist nichts zu sagen, aber entweder ist schon jemand anderes da, dann ist der Vormittag gelaufen, weil er unweigerlich zu dicht ‚ausgerechnet bei uns‘ sitzt, oder er ist noch nicht da, dann wird er mit bitterem Verdruss herbeigewartet.

Foto: Alexander Chaikin/Shutterstock

Irenes kassandrahafte Vorahnungen haben ihr während der Nazizeit das Leben gerettet und sie anschließend vierzig Jahre lang beunruhigt. Jetzt sind sie Wirklichkeit geworden. Wir haben uns gerade auf unsere Frotteetücher gelagert, da sehe ich nach rechts und sage: „Die Russen kommen.“ Da alle redlichen Russen zurzeit im eigenen Lande verhungern, kann es sich bei den zahlreichen Familien hier nur um Mafia-Sippen handeln. Wir sind die einzigen Deutschen in Rimini, so dass es bloß Guntram ärgert, dass alle Verbotstafeln, die am Strand und am Hotel das Laufen, das Baden und das Parken verbieten, zwar in Russisch, aber nicht in Deutsch geschrieben sind. Die Speisekarten in den Lokalen verzeichnen neben Italienisch, Englisch und Russisch auch noch immer das Deutsche, aber wirklich nur für Guntram, der mich dann fragt: „Was ist Risenseh Krabpe?“, und ich antworte: „Wenn es unter Nummer siebenundzwanzig steht, dann sind es Scampi.“

Der ehemalige Teutonengrill befindet sich fest in der Tatze des russischen Bären, und schon wenn am Frühstücksbüfett der gekochte Schinken alle ist, wissen meine Eltern, wer ihn genommen hat: der Russe. Nur dass dieser nicht, wie vor 53 Jahren, vergewaltigt, nein, schlimmer: Er hat Frau und Kinder und Freunde mit Kindern dabei. Das trifft dann nicht nur einzelne Fräuleins wie damals, sondern jeden in der Umgebung. Das Moralische daran, auf die Bagage zu schimpfen, ist: Sie sind Gangster! Das weiß man ja. Sonst könnten sie sich das hier doch gar nicht leisten.

Foto: Pavel Kosolapov/Shutterstock

Die Russen beleben die Adria durch ihre Anwesenheit und die Druck-Erzeugnisse durch ihre kyrillische Schrift, allerdings haben Institutionen wie Armani oder Hermès bisher noch kaum etwas von den Familien gehabt, die hier den Umsatz steigern: Billig-Jeans und Plastiktüte herrschen vor.

Natürlich ziehen Guntram und Irene das Unglück magisch an. Sobald sie ein Kind sichten, geraten sie außer sich. „Aber es ist doch ganz ruhig“, beschwichtige ich. „Noch!“, menetekelt Irene. Klar, dass es fünf Minuten später – je nach Alter – anfängt, zu plärren oder Ball zu spielen. Klar, dass die Russen immer drei Liegestühle zu nahe an uns dran sind und sich sehr aufgeräumt miteinander unterhalten. Guntram und Irene schweigen hasserfüllt. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ich sei auf der Krim.

Foto: altanaka/Shutterstock

„Heute bade ich nicht“, sagt Irene. „Es sind viel zu viele Leute im Wasser. Das ist ja wie Wannsee.“ Dann machen wir einen Spaziergang. Aus den Lautsprechern dröhnt Werbung. Das macht mich nun wieder rasend und regt meine Eltern nicht auf. Wir kommen zurück, die meisten Urlauber sind schon zum Essen verschwunden. „Heute kann man nicht baden“, sagt Irene, „sieh mal, es ist kein Mensch im Wasser. Wahrscheinlich ist es voll von Quallen oder fürchterlich kalt. Außerdem sind die Wellen heute viel höher als gestern.“ Ich sage bloß: „Wir sind doch hier, weil du schwimmen wolltest, gegen deine Arthrose.“ Dann setzt sie sich die Badekappe auf und wir gehen schwimmen, nachdem wir zuvor wie zwei Krankenwärter Guntram im Flachen hin- und herbewegt haben.

Foto: barbajones/Shutterstock

Wenn ich ein wenig weiter aufs glatte Meer hinaus will, schreit Irene: „Hanno, du weißt, ich habe zurzeit sehr schwache Nerven!“ Einen Augenblick lang wünsche ich mir, zu ertrinken, dann paddle ich wieder zurück.

Foto (2): Privatarchiv H. R.

Trotzdem ist es sehr schön im Wasser, und an Land eigentlich auch. Bloß, dass dann die Essensfrage ansteht. An den ersten Tagen haben wir immer im Hotel-Restaurant gegessen, das war nicht schlecht, aber vor allem reichlich. Abends saßen wir demzufolge bereits würgend vor unseren noch leeren Tellern, weil wir ahnten, wir sollten gleich Schinken mit Melone, eine große Schüssel Nudeln, einen Fleischlappen mit Beilage und Nachtisch essen. Die Angst vor dem Diner versaute einem den ganzen Tag.

Foto: Rytis Bernotas/Shutterstock

So entschlossen wir uns, mittags nur eine Kleinigkeit zu essen. Das allerdings war in unserem Fünf-Sterne-Hotel organisatorisch nicht möglich. – Was tun?

Foto: Federico Rostagno/Shutterstock

„Wenn wir zum Essen in ein Lokal fahren, ist hinterher unser Parkplatz hier weg“, befürchtete Guntram. Aber ich ließ es darauf ankommen und fand auch jedes Mal wieder einen neuen Platz für das Auto, wenn auch meist nicht denselben wie vorher.

Foto: merrymuuu/Shutterstock

Die Kleinigkeit im ersten Restaurant entpuppte sich auf dem Teller als eine Großigkeit, so dass bis auf den Tapetenwechsel und das unterschiedliche Lokal-Kolorit nichts gewonnen war. Guntram isst ja sowieso lieber die Hauptmahlzeit am Mittag, weil ihm Abendessen die Nacht über immer schwer im Magen liegt und auf das Herz drückt. Verhängnisvoll ist dabei nur seine Angewohnheit, alles, was ihm hingestellt wird, aufzuessen. Das Problem blieb bis zum letzten Tag ungelöst: Mittags aßen wir mehr als erwartet, abends ließen Irene und ich auch schon mal einen Pensionsgang weg, nachts hatte Guntram Magenbeschwerden.

Foto: bitt24/Shutterstock

Irene fragt sich und uns bereits bei der Vorspeise, ob ihr das Essen wohl bekommen werde „Ich glaube, mir ist ein bisschen übel“, murmelt sie. Guntram leidet seinen Teller leer. Ich beteilige mich nicht an Prognosen, sondern gehe nach der Mahlzeit still in mein Zimmer und kotze bulimisch alles ins Klo.

Foto: YotsaphonNonthali/Shutterstock

Einmal erzählte ich bei Tisch etwas und machte dabei jemanden mit verstellter Stimme nach. Irene fand: zu laut. Sie versteinerte und verließ den Raum. Sicher, ich hatte schon ein bisschen was getrunken, aber vor allem ist meine Sehnsucht immer noch: Übermut, während ihr Wunsch strikte Anpassung ist. Keinesfalls wollen sie Aufsehen erregen bei den Leuten, die ihnen lästig oder verächtlich sind. Aber direkt unauffällig, übersehbar grau wollen sie auch nicht sein: Wenn sie selbst schon die anderen nicht mögen, wollen sie zumindest von denen gemocht werden.

Nach dem Abendessen beginnt die eigentliche Tortur, die einzige, die der Rede wert ist: das Nachtleben. Unser Nachtleben findet, leicht gelangweilt, in der ‚Bulgarischen Halle‘ oder im lauschigen Hotelgarten statt, selten mal in einem unserer engen Zimmer vor dem Fernsehapparat, dessen einziges deutsches Programm SAT.1 ist. Die Sendungen sind so grässlich, dass man sich immer nur auf die Werbeblöcke hinfreut.

Das Nachtleben von Rimini findet vor unseren Fenstern statt: Auf der anderen Seite der Straße, die unser Hotel vom Strand abtrennt, befindet sich der angesagteste Treff der Küste. Wäre er ein Klub, so wäre er schalldicht. Aber das Szenelokal, vor dem allabendlich an die hundert schwere Motorräder aufscheinen, bietet mehr: Open-Air-Konzerte, vorzugsweise Country-Western-Style, aber gern auch Hard Rock, und Bierausschank auf dem Gehweg.

Foto: Conor Samuel/Unsplash

Wir sind auf mein Drängen hin nach dem Abendessen mal hingegangen. Das heißt, Guntram und Irene blieben feindselig auf unserer Straßenseite. Ich wühlte mich durch die Menge: nette Jungs und ihre Bräute. Jeden Abend nahm ich mir vor, mal auf einen Drink vorbeizuschauen, aber nie tat ich es. Aus Müdigkeit und aus Furcht, dass ich nichts abbekommen würde als eben diesen Drink.

Foto: pxhere/gemeinfrei

Die Rollläden, das Ohropax und die Tablette halfen mir vereint, gegen den Krach anzuschlafen. Guntram lag wach und grämte sich. Um drei Uhr früh war Ruhe und Guntram gerädert. Er und Irene waren empört, dass sie, statt vor den Zimmern gewarnt worden zu sein, auch noch Meerblick bezahlen sollten. Aber umziehen wollten sie auch nicht, zumal die Tapetentür so praktisch war. So blieben sie, der Lärm und der Ärger bis zum letzten Morgen.

Foto: Vladimir Sazonov/Shutterstock

Wir saßen noch beim Frühstück, Guntrams Teller glibberte von Eiweiß und Irene sagte: „Ich glaube, die Feigen gestern haben meinen Darm beunruhigt“, da wurde mir klar, dass dieser letzte Tag keine Klarheiten mehr bringen würde. Besonders unaufgeklärt wirkte das Wetter. Wir beschlossen nach reiflicher Betrachtung des Himmels, 24 Stunden vor der Zeit abzureisen – und taten es sogar. Den Zwei-Wochen-Rabatt haben wir trotzdem gekriegt, aber den Zuschlag für Meeresblick auch.

31 Kommentare zu “#10 – Badefreuden

  1. Die Angst vor dem Diner versaute einem den ganzen Tag. Hahahaha! Das kenne ich so auch nur vom All-Inclusive-Urlaub aus Kindertagen.

  2. Interessant, dass Ihr Vater die Deutschen Hinweisschilder vermisste. Mir geht es meistens so, dass ich auf Reisen so wenig Deutsches wie möglich sehen will. Ich ärgere mich immer über die Touristen am Nebentisch, weil ich mich selbst doch so eingeweiht und einheimisch fühle. Schon ein wenig idiotisch aber wahr.

      1. In Ländern, deren Sprache man spricht, sowieso. Ich glaube, es liegt an der Kleidung. Wenn die Touristen so rumliefen wie meine Eltern 1950 an der Riviera, würden sie nicht stören. Das ist nicht (nur) eine Frage des Geldes, sondern auch des (schlechten) Geschmacks. Mein Lateinlehrer sagte immer: „Wer mit Shorts in die Kirche geht, bringt auch Vater und Mutter um.“

      2. Hahaha, der Lateinlehrer hatte wohl recht. Wahrscheinlich ist es auf Reisen auch einfach so, dass einem hauptsächlich die nervigeren Touris auffallen. Wer nicht durch schlechten Geschmack oder schlechtes Verhalten heraussticht, stört natürlich auch nicht.

  3. Ahhh, dieses Gefühl alles essen zu müssen, was auf den Tisch kommt, kenne ich auch. Genau wie ich jeden Film, den ich anfange, auch zu Ende schauen muss.

      1. Der Schritt fehlt mir noch. Vielleicht mein nächster guter Vorsatz für 2021.

      2. Früher habe ich auch jede Serie zu Ende geschaut. Seitdem auf Netflix und Co. gefühlt jede Woche etwas neues veröffentlicht wird, habe ich das Vorhaben aufgegeben.

      3. Ich dachte am Anfang ein Nebeneffekt von Corona wäre, dass unser Leben jetzt wenigstens etwas langsamer wird. Ich habe aber eher das Gefühl, dass das Gegenteil der Fall ist. Jetzt muss man erst recht produktiv und ‚busy‘ sein. Man übertrifft sich aus dem Home Office heraus mit immer neuen Ideen.

      4. So leb ich schon seit Jahren und quäle meine Lektorin Karin bis zum Tag der Veröffentlichung mit immer neuen Bildern und Formulierungen.

    1. Nach den ganzen Corona-Beschränkungen (nötig, keine Frage) freue ich mich schon wahnsinnig darauf einen Abend auszugehen und einfach durchzutanzen.

      1. Denkbar ist alles: Dass Trump Klimaschutz anmahnt, dass Perserinnen ihr Haar offen tragen, dass der Papst heiratet. Machbar ist schon weniger.

  4. Wow, der Werbeclip macht mir wieder deutlich wie lange 1997 schon her ist. Das sieht alles aus wie aus einem anderen Leben.

    1. Vor allem merke ich, wie wenig TV-Werbung ich in den letzten Jahren gesehen habe. Ich habe mein Fernsehgerät vor ein paar Jahren rausgeschmissen und schaue nur ab und an mal eine Serie über mein Apple TV. Diese Werbeblockzeit fühlt sich wirklich wie ein Relikt an.

      1. Trotzdem geben die Firmen und Banken Wahnsinnsgelder dafür aus: im Fernsehen, im Sportstadion, im Printbereich. Angeblich ist jeder beeinflussbar. Dass ich mein Girokonto wechsle oder eine Packung Raffaello verputze, weil die Reklame meinen Willen überrumpelt hat – das mögen Psychologen glauben, ich glaube das nicht.

      2. Gab es zu Beginn des Werbebooms nicht sogar eine große Diskussion um die Wirkung von unterschwelliger Werbung?! Anscheinend hat man ja tatsächlich herausgefunden, dass diese Werbehäppchen unser Kaufverhalten nicht weiter beeinflussen können.

      3. Geworben wird immer. Heute vor allem auf Instagram, Facebook, Youtube … Es werden doch mittlerweile alle längeren Youtube-Videos von mindestens 2-3 Werbeblöcken gestört. Auf Insta kann man auch ohne Geld zu investieren keine Follower mehr erreichen. Sobald ein neues Medium bzw. eine neue Plattform von den Usern entdeckt wird, ziehen die Werber hinterher.

      4. Im Sozialismus griff man, was es gab. Im Kapitalismus muss der Hersteller zusehen, wie er seine Ware loswird, also loswirbt. Nun lernen wir (wieder?) das Schlange stehen. Aber furchtlos: Es gibt drinnen genug Klopapier und Kaviar. Ohne Vorerkrankung, jünger als 60 und die anderen Maskenträger mindestes 1.50m entfernt, überlebt man im allgemeinen sogar den Einkauksbummel in Läden unter 80qm.

  5. Wenn es Spaß macht, hinterher davon zu schreiben oder zu lesen, hält die Erfahrung länger vor als zwei Wochen Wohlergehen. Ein Trost, der erst auf der Rückreise einsetzt.

    1. Das macht doch eh 50% des Reizes am Urlaub aus. Dass man sowohl im Vorhinein als auch Nachhinein davon erzählen kann.

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