Es ist schon lange nicht mehr schwierig, einen Logenplatz in einem der drei Cafés zu bekommen. Jeder kennt die Preise, und so werden die Sitzenden mehr begafft als die Flanierenden, bei denen es sich allerdings überwiegend um Vorbeilatschende handelt.
Foto: Privatarchiv H. R.
Dafür haben die Kellner das Aussehen und die Arroganz, die man an den Dahinziehenden so resignierend vermisst. Aber dann gilt es eben, ganz akribisch imposante Gestalten aus dem durchkleckernden Brei der Besucher herauszufiltern. Gewiss, für Lenin wäre das eine entgeisternde Beschäftigung, nur dass Lenin tot ist und Armani nicht.
Foto: Privatarchiv H. R.
Es ist leicht, aus einem überheblichen Ober einen charmanten Lakaien zu machen: Man bestellt mit befehlsgewohnter, aber lässiger Stimme in gutem Italienisch, ohne sich die Karte geben zu lassen, gezielt zwei geeignete Cocktails. Schüchternheit, Bier und Cola lösen ein derartiges Maß an Ungnädigkeit aus, dass der Sitzplatz sein Geld nicht wert ist. Zu zwei hochprozentigen Mixgetränken aber kann man Zahnstocher, auf dicke Oliven gespießt, ein Schüsselchen mit paprikabepuderten Kartoffelchips und das Einverständnis des Kellners erwarten, der einem das Tablett dann auch nicht mürrisch auf den Tisch pflanzt, sondern – „Prego, Signori“ – anmutig Erfrischungen darbietet. Der Ort, der Blick, das Bewusstsein, an einem der berühmtesten Plätze der Welt in einem der bekanntesten Cafés der Welt zu sitzen, muss einem dann neunundzwanzig Euro für zwei Gläser Aperitif wert sein. Sonst sollte man sich besser an der übernächsten Ecke im Feinkostladen zwei Sprite für 1,80 EUR kaufen. Die restlichen 27,80 EUR kann man, für ein wohliges Gewissen, einer Hilfsorganisation spenden. Ich muss ja bei luxuriösem Konsum auch immer zehn Euro mit einrechnen, die ich – zusätzlich zu den üblichen Gaben – in die nächsten zehn Hüte am Wegesrand werfen werde. Keine Almosen, sondern Tribute.
Foto: Privatarchiv H. R.
Rührung über Gebliebenes: Das in der Erde festgemauerte Repertoire der Salonmusiker; die Ausheimischen, die sich tatsächlich noch beim Taubenfüttern fotografieren lassen, wenn auch voneinander mit Wegwerfkameras und nicht mehr von den ehrwürdigen Fotografen unterm schwarzen Tuch; der marmorne Boden, über den alles hinweggeht, und er wirkt dabei so unbeschadet von den Tritten wie die Wasseroberfläche von den Wellen.
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Freude über Neues: Der Dom und der Glockenturm sind abgerüstet: Ganz ohne Bauzaun – wann hat man das je gesehen? Die Kartoffelchips haben Charakter: Sie sind knusprig und schmecken nicht wie Frittaten ohne Suppe. Irene hat aufgehört, über die juckenden Mückenstiche zu klagen: Sie hat die Stiche – wie so vieles – vergessen. Das ist schade, denn nur über Leid, das einem noch gegenwärtig ist, kann man sich freuen, dass und nachdem es einen verlassen hat. Ich jedenfalls bin dankbar über jeden Toten, den ich nicht (mehr) betrauern muss. Es piksen ja noch genügend Leichen im Herzen herum …
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„Wie du willst“, sagt Irene oft, und manchmal meint sie es auch so. Wir beschlossen, nicht zum Abendessen zu bleiben, sondern auf unsere über Brücken unerreichbare Insel zurückzufahren. Kein Risiko. Denn man weiß ja nie: Da hätte dann Irenes Tisch in Venezias ‚Do Forni‘ mitten im Durchzug oder zu nahe am Klo gestanden, und an meinem Tisch hätten so unweigerlich Guntram, Pali, Arthur und Roland gesessen, dass ich die vorbeigleitenden Gondolieri mit meiner Wehmut hätte füttern können.
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Auf dem Vaporetto blieb Irene drinnen sitzen, hinten im offenen Heck gab es keine Sitzplätze mehr. Das kommt davon, wenn man erst jenseits der Seufzerbrücke einsteigt. Ich ging trotzdem hinaus ins Freie und sah Venedig schmaler werden. Natürlich bemerkte ich, dass neben mir, mit Blick auf den breiter werdenden Lido, zwei Männer standen; eine ältere Frau, mit der sie manchmal Worte tauschten, saß auf der Bank, aber die beiden Männer gehörten zueinander.
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Als die Anlegestelle so nahekam, dass das Schiff abbremste, riss ich mich los vom dämmernden, erleuchteten Venedig und ging zurück zu Irene. „Hast du dich gut unterhalten?“, fragte meine Mutter ätzend. – „Wir haben kein Wort gesprochen“, antwortete ich gegen meinen Willen. Auch noch Rechtfertigung! Es gab Zeiten, da habe ich auf dieser Überfahrt hin und wieder eine stille Bekanntschaft gemacht, die für den Rest der Nacht vorhielt.
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Ein letzter Blick durchs trübe Glasfenster hindurch auf die nächtliche Stadt. Ich spürte Lust, als lächerlicher alter Mann zwischen lauter Jungen auf Mykonos zu sitzen: tränenüberströmt, erinnerungswund und ganz ich selbst. Ich will mich zum Narren machen und zum ersten Mal in meinem Leben „Hurra!“ schreien, während doch alle anderen nur noch „Hey, hey, hey!“ brüllen. Ich will unter denen sein, die so sind, wie ich mal sein wollte. Immer wollte ich gegen die Einbahnstraße fahren, und nie habe ich es getan: Erstens hatte ich Angst um meinen Führerschein und zweitens wollte ich sinnlose Unfälle vermeiden. So habe ich dieselben Umwege gemacht wie alle. Also habe ich keinen Grund, an meinem Denkmal zu basteln, das keiner aufstellen wird. Wer aus seinem Leben nichts macht, ist nicht nur selber schuld, sondern er wird auch nicht zufrieden. Ich habe dazu einen Angelus-Silesius-Satz gefunden:
Vor jedem steht ein Bild
des’, was er werden soll;
solang er das nicht ist,
ist nicht sein Friede voll.1
1 Quelle: Angelus Silesius (1624–1677)
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Nun hat uns Giuseppe nach Meran zurückverbracht, blieb einen Tag und fuhr wieder ab. Ich schreibe bei 37 Grad im Schatten, sitze allerdings in der Sonne. Jeden Tag koche ich. Abends breite ich Schinken und Mortadella übers Holzbrett, manchmal richte ich auch was Warmes an. Die Küche bietet eine vorzügliche Ausrede, Arbeiten wegzuschieben, die durchzuführen man sich fest vorgenommen hat: Verpflegung hat Vorrang.
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Die Sitzenden werden mehr begafft als die Flanierenden. Das ist das nervige an Venedig. Es gibt wirklich nicht so viel interessantes anzuschauen.
Nee, das habe ich anders erlebt. Zu sehen gibt es doch immer etwas.
Doch. Aber vielleicht nicht unter den Touristen auf dem St. Marc’s Square.
Wenn die vorbeilaufenden Touris schon keinen Charakter haben, dann wenigstens die Chips.
Geschmacklich als Kompromiss annehmbar.
Während meiner Home Office – Zeit habe ich das Motto „Verpflegung hat Vorrang“ auch streng befolgt. Mit wechselnder Arbeitsproduktivität.
Deshalb bin ich auch ganz froh wieder im richtigen Office zu sein. Zuhause wird man viel zu viel abgelenkt.
Kollegen eintöniger als Kinder?
Kinder braucht es dafür gar nicht. Man kann sich ja selbst noch viel besser ablenken, als das die Kollegen können 😉
Ich fand es übrigens beeindruckend wie viele Freunde froh waren wieder ins Büro zu dürfen. 24/7 Kinder unterhalten, erziehen und betreuen ist halt auch nicht immer eine Freude.
Oh, Stelvio Cipriani! Der ist mir bisher nur aus Mario Bavas Filmen ein Begriff gewesen. Toll.
‚Anonimo Veneziano‘ wird auf der Piazza St. Marco alle halbe Stunde gedudelt. Wenn man es als Geräusch nimmt wie Taubengurren oder Turmuhrschlagen kann man er in die Stimmung einbeziehen ohne der Töne überdrüssig zu werden.
Und ich dachte immer er wäre ein unbekannter Indie-Komponist. Italienischer 70er Jahre Horror / Giallo gehört ja nicht gerade zum Mainstream. Aber wieder etwas dazu gelernt. Vielen Dank.
Cola bestelle ich sowieso nicht, aber den Trick mit dem Ober probiere ich trotzdem mal aus. Ich lasse mich zu schnell nerven von schlecht gelauntem Personal.
Selbstbewusstsein ohne Arroganz hilft fast immer. Ist aber schwer vorzutäuschen, wo es fehlt.
Mich nervt es allerdings, wenn man dem Ober erst beweisen muss, dass man es wert ist von ihm bedient zu werden. Gab es nicht mal eine Regel, die besagt „Der Kunde ist König“?
Kunden haben schlechte Tage, Ober haben schlechte Tage. Aber Freundlichkeit hilft natürlich generell schon einmal weiter.
Oder nach Martin Walser: Auch Kränkungen wollen gelernt sein. Je freundlicher, desto tiefer trifft’s.
Mal die Spitze, mal der Hammer. Jeder so, wie er’s kann, und jedem so, wie er’s braucht.
Seit 1600 hat sich dann eigentlich gar nicht so viel geändert. Wir versuchen immer noch wir selbst zu sein oder jedenfalls noch zu werden bevor wir sterben.
Ohne Frage ein tolles Zitat von Angelus Silesius. Aber viel zu oft geben wir uns doch mit dem Status Quo zufrieden. Dass wir bis zum Tod diesem Ziel entgegenstreben, dass ist doch eher eine Phantasie.
Phantasie ist besser als Gedankenlosigkeit.
da kann man nichts gegen einwenden
Gibt es in Venedig auch diese Aperitivo-Kultur? Ein Jammer, dass Deutschland da so hinterher hängt bzw. keinen Sinn für hat. Hier muss man sich schon über ein paar Erdnüsschen freuen.
Kartoffelchips machen ja noch keinen Aperitivo aus. Auch nicht mit Charakter. Aber Deutschland ist definitiv auch nicht Italien.
Aber die machen sich nett neben dem Getränk. Ist doch immer hübsch, etwas mehr zu bekommen, als man bestellt hat. (Nicht Menge, sondern Auswahl!)
Na klar, wer freut sich denn nicht über nette Gesten. Außerdem liebe ich Chips.
Die von Kettle.
Oder Tyrrels
Wenn doch nur viel mehr Menschen die restlichen 27,80 EUR spenden würden. Vielleicht nicht bei jedem Drink, aber wann immer man es kann. Es geht halt nur miteinander.
Dann mal los. Gerade ist doch genau der richtige Moment um der BLM Bewegung etwas zu spenden. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kommt uns ja am Ende allen zu Gute.