Der Autodesigner Paolo Tumminelli hat im Januar 2012 der ‚Zeit online‘ gesteckt: ‚SUV-Fahrer neigen dazu, riskanter zu fahren, weil sie das Gefühl haben, in einer Burg zu sitzen […]‘1 Weiter behauptet er: ‚Man ist zwar schon Ende 50, trägt aber weiterhin enge Klamotten und sucht sich einen noch schnittigeren Wagen.‘1 – Diese Jacke ziehe ich Übersiebzigjähriger mir nicht an. Meine Eitelkeiten hatten sowieso nie etwas mit meinem Fortbewegungsmittel zu tun, außer vielleicht beim Fliegen: Da war ich lieber bevorzugter Gast als transportiertes Beförderungsvieh. Und statt ‚enger Klamotten‘ trage ich gern schrillfarbene Jogginganzüge, besonders zu Hause, wo mich niemand Fremdes sieht. Dass sich Rafał wie in einer Burg vorkommt, das leuchtet mir schon eher ein. Sein zügiges Fahren ist aber, glaube ich, mehr Ausdruck seines Temperaments als seiner Vorstellung, geschwind sein Rittergut erreichen zu müssen. Der Verlust seines Führerscheins wäre für mich schmerzlicher als für ihn, aber ich lasse ihn gewähren. Entweder ist das meine Gleichmut oder mein Wunsch, bloße Strecke möglichst bald zu überwinden. So oder so – am Mittag waren wir in Wernigerode.
1 Quelle: Auszug aus ‚SUVs sind Fahrzeuge des Eskapismus‘ in ZEIT ONLINE‘
Foto: Privatarchiv H. R.
Von meinem Zimmerfenster aus konnte ich den Markt überblicken. Übersehen konnte ich dabei weder die vielen Touristen noch die geschniegelten Fassaden. Schlecht gekleidete Menschen vor rausgeputzten Häusern erinnern immer an Walt-Disney-Land. Kunsthistoriker und andere Ästheten mögen das nicht. Ich schon. Elegante Leute vor verkommenen Bauten fände ich schlimmer. Wörter wie ‚authentisch‘, ‚nachhaltig‘ und ‚Wertschöpfungskette‘ hatten ursprünglich einen tieferen Sinn, sie sind aber inzwischen so ausgelutscht wie ‚Faschismus‘ und ‚Lügenpresse‘. Das sind weniger Begriffe als ‚Schlag‘-Wörter, die man Gegnern an den Kopf schmeißt wie Pflastersteine, damit sie sich anschließend mit ihren Wasserwerfern ins Unrecht setzen.
Foto oben: Autonome NewsflasherInnen/Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0 DE | Foto unten: Wikimedia Commons/gemeinfrei
Meine Mutter nannte den Anblick putziger Stadt- und Landschaft noch: „Wie aus der Spielzeugschachtel!“, und das war damals anerkennend gemeint. Heute sehen wir bei Herausgeputztem schnell die kommerzielle ‚Absicht‘ dahinter und wir sind ‚verstimmt‘ – wieder mal ein Goethe-Zitat. (Das musste man in meiner Jugend nicht dazusagen, ‚Torquato Tasso‘ war noch Schulpensum. Überflüssig, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Bildung dient zwar zum einen der eigenen Erbauung, vor allem aber zur Verständigung unter Gleichgebildeten: Da können dann zwei Humanisten Klassisches genauso erklärungslos abrufen wie zwei Neonazis die ‚Umvolkung‘ und zwei Autonome das ‚Empowerment‘.) Die ‚Spielzeugschachtel‘ aus der Kindheit meiner Mutter gibt es nicht mehr, publikumsheischende Ortsanpreisungen umso mehr. Immer wieder läuft es auf dasselbe hinaus: Der Kapitalismus muss gefallen, um zu verdienen. Der Sozialismus ist sowieso gut und braucht deswegen nicht obendrein noch zu gefallen – tut er auch nicht.
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Foto: MarcelBuehner/Wikimedia Commons (nachträglich retuschiert), CC BY-SA 4.0 DE
Rafał war ja, wenn wir wo hinkamen, immer vorher schon dagewesen. Wenn ich ihm das mal nicht glaubte, führte er uns gleich zielsicher zu einem Platz, an den er sich erinnern kann. Ich habe es aufgegeben, zu unterscheiden, was bei Rafał Realität und was Einbildung ist. Er ist der Igel, ich bin der Hase.
Fotos (2): Wikimedia Commons/gemeinfrei
Vor dem ‚Café am Markt‘ waren alle Tische besetzt, kein Wunder: Die ‚Spezialitäten aus Conditorei und Confiserie‘ (Eigenwerbung) will natürlich jeder genießen, der Sachsen-Anhalt aufsucht. Ich tröstete mich mit zwei TripAdvisor-Wertungen, deren Verfasser – orthografisch nicht ganz auf der Höhe – ihre Eindrücke schilderten:
‚Mein Eis war weich plufig. Im Eiscafe schwam ein Eisklumpen, die Eiskristale könnte man gut schwimmend erkennen.‘
‚Edle Sauerei. Für ein Bier für 5,20 Euro in schönem Ambiente kann man sich zusätzlich gratis auf der Toilette ekeln.‘
Foto: Privatarchiv H. R.
Gut, dass Rafał wie immer Rat wusste: Gleich in der ersten Seitenstraße gibt es das ‚Café Wien‘. Von dort aus hatte man zwar nicht den Blick auf ‚eines der schönsten Rathäuser Europas‘2, dafür schwammen dort aber auch keine Eisklumpen im Becher.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Silke und Rafał sahen sich an, was der Ort sonst noch so zu bieten hatte, mir reichte es, vor unserem Hotel ‚Weißer Hirsch‘ zu sitzen und das Lokalkolorit der ‚bunten Stadt am Harz‘3 (Stadtmotto) auf mich einwirken zu lassen. Zwei Perioden greife ich willkürlich heraus: Zwischen 1521 und 1608 bekamen in Wernigerode die überführten Hexen ihre gerechte Strafe: Tod auf dem Scheiterhaufen. Das kommt davon, wenn man sich beim Rumbumsen mit dem Teufel erwischen lässt!
2, 3 Quelle: Wikipedia
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Anfang April 1945 erhielt der Stadtkommandant Gustav Petri den Befehl, die Stadt gegen die anrückenden Einheiten der US-Armee zu verteidigen. Tat er aber nicht. Befehlsverweigerung. So konnte Wernigerode am 11. April ohne weitere Zerstörung besetzt werden. Petri dagegen wurde am 12. April standrechtlich erschossen. Wieso eigentlich? Wenn gleich die Amerikaner da waren, hätte Petri es doch als deren Kriegsgefangener weitaus besser haben können. Was trieb ihn vor die Gewehre des Oberkommandos der 11. Armee und der SS? Rätsel der Geschichte.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Abendessen im Hotel, ‚um die vielfältigsten und raffinierten Köstlichkeiten aus der Küche zu genießen und unseren Gaumen vom Küchenchef und seinem Team kulinarisch verwöhnen zu lassen.‘ Ich habe bereits 1990 mit Roland den Versuch gemacht, Wernigerode kennenzulernen. Wir kamen von Weimar, aber er war schon so schwach, dass er im Wagen sitzen blieb, während ich mir das runtergekommene Nest anguckte. Damals, kurz nach dem Fall der Mauer, standen auf der Speisekarte noch ‚Goldbroiler‘, ‚Ketwurst‘ und ‚Grilletta‘. Königsberger Klopse hießen ‚Kochklopse‘, um den Kaliningrader Befreier-Freunden nicht zu nahe zu treten. Bezeichnungen waren schon immer ideologisiert. Wen oder was man wie nennen darf, das bestimmt der gesellschaftliche Konsens, und wem der nicht passt, der stellt seinen Beschimpfungen die Floskel ‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!‘ voran oder schickt sie hinterher.
Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei
Im 19. Jahrhundert gab es noch – teilweise tödliche – Duelle wegen Ehrverletzungen. Heute ist man nicht mehr satisfaction-willig, sondern verbuddelt sich anonym im Netz. Das macht genauso viel Spaß und ist ungefährlicher. Früher konnte man sterben, weil man zu jemandem gesagt hatte: „Mein Herr, ich verachte Sie!“ Heute gilt ‚du verfickte Fotzensau‘ nicht als Beleidigung, sondern als Meinungsäußerung (okay, leicht übertrieben).
Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Kletr (Touristen), Csanad Kiss (Igel) | Zwischengrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: Tobias Arhelger (Brunnen), lunamarina (Rathaus Wernigerode), Bildagentur Zoonar GmbH (Turm Ingolstadt) und Ines Behrens-Kunkel (Schnittlauch)
#29C – Zusammenfassung#31A – Ein erweitertes Hinterhauptsloch
Haha, sind Einbildung und Realität nicht eh am Ende dasselbe?
Auf dem Siegertreppchen und unter der Guillotine eher nicht.
Da kann man fast nicht widersprechen.
Nee stimmt grundsätzlich, aber in Rafals Fall macht es dann ja wirklich keinen Unterschied.
Wie wahr!
Ich habe mir früher mal eingebildet ich sei unwiderstehlich. Die Realität sah aber dann doch ganz anders aus.
Das hätte ich mir trotzdem auch gern eingebildet. Man geht doch gleich ganz anders in die Manege!
Kochklopse? Das klingt aber auch nicht sonderlich appetitanregend.
Und wenn dann noch die Kapern knapp sind!
Tragödie!!!
Putzige Stadt- und Landschaften unterscheiden sich aber meistens doch noch ein wenig von den immer gleich herausgeputzten Fußgängerzonen. Quasi natürliche Putzigkeit gegen künstlichen Kommerz.
Zur Zeit der Häuser aus Spielzeugschachteln gab es die lausigen Fußgängerzonen noch nicht. Dafür womöglich Kot und Jauche in den ungepflasterten Straßen. Carpe diem! Haare findet man in jeder Suppe.
Jepp, Haare findet man genau wie Schönes überall. Es kommt schlicht und einfach auch immer ein wenig darauf an was man sucht.
Das erinnert mich an den großartigen Film „Le Mepris“. Es gibt kein niederschmetternderes Urteil als Brigitte’s „Ich verachte dich!“.
Hass lässt man sich gefallen. Verachtung ist schon sehr gemein. (Dabei hat sich der verachtete Piccoli bis zu seinem Tod besser gehalten als die schreckschraubige Bardot.)
Weich plufiges Eis isg eine Sauerei. Und wahrlich keine edle. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!
Obwohl ich „plufiges“ Eis ganz gern mal sehen würde. Eine anhaltinische Spezialität? Essen tu ich natürlich lieber unplufiges, wenn ich das so sagen darf.
Und im Café schwamm ein Eisklumpen. Das scheint also auch eine ganz interessante Location gewesen zu sein. 🤔
Was für ein Begriff: publikumsheischende Ortsanpreisungen. Wenn sich die publikumsheischenden Ortsanpreiser doch auch so viel Mühe gäben 😉
Davon werden wir in nächsten Beitrag mehr bekommen.
Der Hase und der Igel war als Kind immer eine meiner liebsten Geschichten.
Die Geschichte setzt die Gleichheit von Mann und Frau voraus.
Sympathisch sind die ja nun alle nicht. Der Hase macht sich über den Igel lustig, der Igel und seine Frau wiederholen den Betrug so oft bis der Hase zusammenbricht und stirbt.
Politically correct ist die Geschichte nicht so richtig. Aber demnach dürfte man heute fast keines von Grimm’s Märchen lesen.
„Lügenpresse“ ist schon lange ausgelutscht und trotzdem wird heute wieder kräftig gegen die Mainstream-Medien ausgeteilt. Und zwar sowohl von rechts wie von links.
Facebook glaubt man dann aber schon. Alles/alle verrückt.
Man liest und glaubt ja gerne das, was man eh schon glaubt. Stimmt das, was berichtet wird, nicht mit der eigenen Meinung überein muss da was nicht stimmen. Und wer reich ist kann aus Prinzip nichts gutes tun. Anti-Kapitalismus halt. Schwarz-weiss bis zum geht-nicht-mehr.
Geschichten, in denen der Reiche arm wird und die Arme reich, laufen meist auf einen Charakterwandel heraus und sollen moralisch belehen.
Nach Corona sollte sich doch alles ändern und der Kapitalismus untergehen?!
Schwer, für den Kapitalismus, unterzugehen. Er ist ja nicht wie – z.B.- Kommunismus oder Islam eine Ideologie, sondern eine Wirtschaftsform, und zwar eine, die sich ständig anpasst.
Auch wenn Lagerfeld gerne sagte „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, ihre schrillfarbenen Jogginganzüge mag ich doch sehr 😉
Ich bin so geschmeichelt – ich bestell mir gleich noch eine: blutorange!
Und wer sagt bitte, dass man mit 50 keine engen Klamotten mehr tragen darf? Schrille Jogginganzüge wären nach Herrn Tumminellis Meinung wohl ebenso verpönt. Also doch wieder mehr rentnerbeige?
… aber weitbeinig, bitte.
Oversized loose fit 😉
Die kurze Geschichte über die Hexenverbrennungen gibt den sonst doch recht hübschen Fachwerkhäuschen gleich einen gruseligen Beigeschmack. Da soll noch einmal jemand über die gute alte Zeit reden.
In der guten alten Zeit hätten wir uns auch nicht mal ein paar Monate zu Hause eingeschlossen, sondern Corona hätte die halbe Bevölkerung ausgerottet. Ich möchte nicht tauschen.
solange es nicht „du verfickter Hinterlader“ heisst, geht’s mich nichts an.
solange es nicht. „du verfickter Hinterlader“ heisst,
geht’s mich nix an.