Punta Ala: ‚Vom Tourismus unberührt‘ – das war mal! In ‚Fast am Ziel‘, ‚#86 – Eine Fata Morgana endet im Golfclub‘ habe ich beschrieben, was aus Punta Ala inzwischen geworden ist. Wir wussten also, dass Punta Ala als Zwischen-Ziel nicht mehr infrage kam. Pausenlos durchfahren mochten wir aber auch nicht. Deshalb verließen wir die Autostrada bei Venturina Terme. Von dort führt eine stille Straße nach Piombino. Zwei Vorzüge machten Piombino erstrebenswert: Es liegt auf einer Landzunge im Meer und ich kannte es nicht. Schon von Weitem sieht man, dass es wohl ein Fehler ist, hierherzukommen. Es grüßen aus der Ferne ein Eisenhüttenwerk mit Kokerei nebst zwei Hochöfen und ein Oxygenstahlwerk mit diversen Walzstraßen.
Foto: Blast furnace chip worker/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Wenn man tapfer ist und weiterfährt, erlebt man in der Innenstadt ein Gesamtensemble vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Es wäre ein Fehler gewesen, den Besuch für einen Fehler zu halten. In der Fußgängern vorbehaltenen Hauptstraße waren in dem Lokal, das ich ansteuern wollte, draußen alle Tische belegt und reinzugehen kam nicht infrage. Das war unser Glück. Genau gegenüber war ein weniger besuchtes Restaurant: zu schlecht? Zu teuer? Der Wirt zeigte uns am Tisch seinen Fisch und einen Hummer – den nahmen Rafał und ich. Der Hummer war genauso eindrucksvoll wie der Dom von 1377, aber sehr viel frischer.
Fotos oben (3): Privatarchiv H. R. | Foto unten: ndemello/Pixabay
Alles, was der Tag sonst noch zu bieten hatte, gestaltete sich dermaßen problemlos, dass es darüber nichts zu schreiben gibt. Spielend fanden wir den Anlegeplatz der Fähre, wir konnten ihr sofort in den Bauch fahren. Unsere drei Kabinen waren völlig in Ordnung, das Schiff legte pünktlich ab, und das Essen war besser, als man es auf solch einer Fahrt erwarten durfte.
Fotos (6): Privatarchiv H. R.
Morgens um acht würden wir in Cagliari sein. 1975 war ich mit Harald auf Sardinien gewesen, und so ist es sinnvoll, an dieser Stelle den Bericht von damals einzufügen. Vorher aber, um den Wandel überdeutlich zu machen, schicke ich einen letzten Ausschnitt des Briefes an Harald von 1968 voraus. Flapsige Bemerkungen hatte ich damals schon gut drauf. Für meine Sexualität bestand trotzdem immer noch die Möglichkeit, ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, selbst wenn Harald Teil dieses Grabes war. Wir taten einfach so, als sei nichts ernst, alles sei nur ein Spiel der formulierten Möglichkeiten. „Meinst du das jetzt ironisch oder doppelt ironisch?“, war unsere ständige Frage. Erst ein paar Wochen nach unserer Rückkehr aus Italien bekam meine Sexualität einen ersten Mitwisser. Da war ich 22.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Meine Eltern empfingen mich in Porto. Die Fahrt durchs Land zeigte mir, dass Ischia doch nicht so belanglos ist, wie ich es vom vergangenen Jahr in Erinnerung hatte. Zurzeit sitze ich am Schreibtisch mit Blick auf die Landzunge. Meer zu beiden Seiten, eine nüchterne weiße Kirche: weiß und karg wie Quark. Terrassenförmige Hügel, Wein, Akazien.
Foto: maury3001/Wikimedia Commons, (nachträglich bearbeitet), CC BY 3.0
Das Essen im Hotel ist demotivierend wie maoistische Reden. Wir fliehen. Die nahrhaften Speisen können am Strand in zwei Restaurants eingenommen werden. Beide sind Pfahlbauten. Über eine hölzerne Treppe erreicht man vom Strand aus die Terrasse und die überdachten Esstische. Der zwei Räume umfassende Bau beider Lokale lehnt mit der Rückfront gegen die Klippen.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
In einem der zwei Restaurants trägt eine Köstlichkeit die Köstlichkeiten auf. Ein ganz leicht angehetzter, engelsblonder Ephebe von scheuer Zutraulichkeit. Er bedient entweder in orangefarbener Manchesterhose und weißem, engem Pullover oder bloß in einer tief kirschroten Dreieckbadehose, stets aber mit einer Zigarette im bebenden Mund, wodurch seine lässige Grazie genügend bewiesen ist. Meine Eltern, seiner gewahr werdend, wendeten auf ihn sogleich den Ausdruck ‚kleiner Schwuler‘ an, wogegen im Prinzip nichts zu sagen ist, doch ließen sie bei diesen Worten schmerzlich die unbedingt erforderliche, ehrfürchtige Bewunderung vermissen.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Als ich gerade wie von ungefähr einige Strandfotos knipste, gewahrte ich ihn, wie er genau oberhalb meines glücklicherweise vier Meter tieferen Gesichtes auf mich herabantlitzte. Nun hätte ich nur die Kamera zu heben und ihn zu knipsen brauchen, doch fürchtete ich die Wildheit seiner Küsse und verharrte reglos. Also ergriff er die Initiative, stieg herab und ließ sich einige Meter vor mir im heißen Sand nieder. Dann laszivte er sich mit wollüstigen Bewegungen ins Meer. Die Gelegenheit ergriff ich und mit ihr die Flucht.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Natürlich wirst du das für unverzeihlich halten, doch bedenke, dass es aus Rücksicht geschah: Wären meine Eltern unverhofft zu Zeugen meiner Veranlagung geworden, dann hätte sie vor Freude der Herztod ereilen können. So tue ich das, was meine Cousine Marina immer ironisch-arglos von mir fordert, wenn sie mich gegen Mitternacht an die Tür begleitet: Ich bleibe sauber. Mein Vater behauptet ja, Dreck reinige den Magen, aber was beschmutzt die Seele, und wie kann man da Unrat von Dünger unterscheiden? Ich lasse einiges zu, aber ich lasse mich auf nichts ein. Ich bewundere Kirchen und Kerle. Melodien und Mädchen summen mir durch den Kopf, arglose Unverfänglichkeiten.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Als Gisela mich voriges Jahr per Anhalter in Berlin besuchte, schliefen wir zusammen auf der Couch meiner Großmutter: Verfänglichkeiten. Aber als sie mich jetzt vor meiner Abreise anrief, aus ihrem Studienort Göttingen, fragte sie kühl: „Und, hast du inzwischen mit Männern“ – auch noch Mehrzahl! – „geschlafen?“
––„Nein“, antwortete ich entgeistert.
––„Schade“, sagte sie, „ich hatte gehofft, du hättest die Kurve inzwischen gekriegt.“
––Ich war beunruhigt. In was für Kreisen verkehrt Gisela bloß? LSD hat sie auch schon ausprobiert. Ihre Eltern sind streng katholisch, meine Eltern mögen bunte Kirchenfenster. Gisela musste ausbrechen. Das brauchte ich nicht: Bei uns stehen die Tore weit offen. Wer hat da noch Lust, vor die Tür zu gehen?
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Auf der Rückreise waren wir in Assisi, Perugia, Arezzo. Ich habe gelacht, geliebt, gelebt. Ich war frei, zu tun, was ich wollte, und ich habe nichts getan, jedenfalls nichts, was Folgen hätte. So bringe ich nur Erinnerungen mit, nicht wie Ansichtskarten, glatt und bunt, sondern abschattiert, doch mein Gesicht ist ohne Kratzer und Falten.
Fotos (5): Privatarchiv H. R.
Manche Eindrücke werden natürlich immer lebendig bleiben, und einer der stärksten davon war Boscolis Sebastiano. Ich habe diesmal viel länger vor dem Bild gestanden als die beiden vorigen Male, und doch fiel es mir noch weit schwerer, mich davon loszureißen als im vergangenen Jahr. Ich weiß, dass ich immer wieder nach Florenz kommen werde, nur um dieses Bild zu sehen. Die Leute rennen achtlos vorbei, es ist so gut wie unbekannt, und gerade das zeigt, wie unwichtig äußere Anerkennung im Gegensatz zu der geistigen Leistung ist.
Foto oben: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten: adam eastland / Alamy Stock Foto
Ein Werk mag plötzlich in Mode geraten oder abgetan oder gar nicht erst bemerkt werden, und doch gab es einen Menschen, der durch dieses sein Werk eine Erklärung abgegeben hat, die von einigen verstanden und sich zu eigen gemacht werden kann.
Fotos (2): Wikimedia Commons/gemeinfrei
Ich kenne es auswendig, dieses vom Schmerz durchleuchtete Gesicht, dieses beneidenswerte Bewusstsein, seinen Weg unbeirrt gegangen zu sein und dafür alles Leid willig durchforstet und sich schöpferisch untertan gemacht zu haben.
Foto: Thekla Clark / Corbis Historical via Getty Images, nachträglich bearbeitet
Die Qual, indem sie empfunden wird, ist fast schon vorbei, denn die Entscheidung ist getroffen, und alles Äußerliche hat aufgehört zu zählen. Der Triumph dessen, der sich verwirklicht hat, unangefochten vom Urteil anderer. Nur wenige besitzen die Kraft, das durchzusetzen, doch wir alle, die wir diese Größe erkennen, können sie bewundern und sie – wenigstens zum Teil – anzustreben versuchen.
Oktober 1968
Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration und Zwischengrafik Sardinien mit Bildmaterial von Shutterstock: This Is Me (Hand), MIGUEL G. SAAVEDRA (Hummer), Romas_Photo (Kathedrale Santa Maria Assunta), Vladimir Sazonov (Stadt in Sardinien)
Ach ja, zum letzten Beitrag habe ich mich noch gefragt was wohl aus dem beschaulichen (68) Punta Ala geworden ist und schon kommt die Antwort. Man muss nur geduldig sein 😉
Haha, Gisela gefällt mir. Direkt ist doch immer gut.
Sehr direkt oder doch ein bisschen bitter. Man weiss es nicht so richtig…
Das Bittere ist nicht von der Hand zu weisen. Ein paar Jahe später war sie tot.
Sah ich damals anders. Aber im nächsten Brief klingt das nochmal anders.
Das glaube ich. Meistens ist diese Direktheit ja auch angenehmer, wenn sie nicht gegen einen selbst gerichtet ist. Hilfreich kann es aber ja trotzdem oft sein.
Und da ist wieder dieses mittlerweile bekannte Phänomen: gestaltet sich ein Tag ausnahmsweise mal problemlos gibt es gleich nichts mehr zu erzählen.
Darum konnte ich diese Reise ja so „problemlos“ machen. Wenn nichts passierte, hatte ich immer noch etwas von früher zu erzählen.
Da zahlt es sich dann aus, wenn man ein erfülltes, reiches Leben hat 😉
Solch einen Kellner in Speedos (oder Dreiecksbadehose wie man 1968 sagte) möchte ich auch mal im Restaurant sehen. Schwarze Hose und weisses Hemd sind ja doch auf Dauer langweilig.
Aufregende Bedienung braucht man vor allem, wenn die Speisen langweilig sind. Aber überwürztes Personal gibt es eigentlich sowieso nicht.
Stimmt. Aber wenn die Bedienung dann wirklich so umwerfend ist, dass man eh nicht mehr ans Essen denkt, dann würde ich auch mal ein schlechtes Restaurant in Kauf nehmen 😉
Dazu bald mehr.
Oha, man darf also wieder gespannt sein.
Demotivierendes Essen … man weiss sofort was gemeint ist.
Gut, wenn man dann nicht zu Besuch, sondern im Lokal ist und die Pampe sehen lassen kann.
Oh ja, schlechtes Essen aus Anstand runterzuwürgen gehört ja mit zum Schlimmsten. Ich habe mir schon mehrfach den Magen verdorben, nicht weil das Essen verdorben war, sondern weil ich es so widerwillig gegessen habe.
Moment, wie genau geht doppelt-ironisch? 🤔
Sie sind ja ganz schön schlau.
Hahaha, verstanden!
Ich war ebenfalls Anfang 20 als ich mich endlich durchringen konnte mir meine Sexualität einzugestehen. Ich nehme es meinen Eltern bis heute ein wenig übel, dass sie es mir nicht einfacher gemacht haben.
Mich hat dieser Prozess des Coming outs immer fasziniert. Erst einmal ist es für viele ein recht schwieriger Akt sich klar als man selbst zu akzeptieren und positionieren, aber wenn man das alles halbwegs gut durchgestanden hat, ist man seinen Altersgenossen auch irgendwie einen großen Schritt an Reife voraus. Finden Sie nicht?
Und trotzdem, wäre es nicht wunderbar, wenn das alles gar keine große Sache wäre und man gar nicht erst durch diese schwierige Zeit müsste?
Mein Katholizismus war nicht hilfreich. Ich fand, ich hinkte mit der Sexualität eher hinterher. Womit ich den anderen definitiv überlegen war, das war die Verstellung. Sie hat mir in ihrer netteren Form, ‚Dinge für sich zu behalten‘, gute Dienste geleistet. Heute plaudere ich so viel aus, dass alle denken (sollen): Mehr ist da wohl nicht.
Ich war auch eher Spätzünder. Aber J. Odermann hat natürlich schon recht. In der Pubertät geht es ja immer darum herauszufinden wer man ist bzw. sein will. Wenn dann ein schwieriges Coming Out dazu kommt, dann ist man der Antwort mitunter deutlich näher gekommen, als jemand der einfach und locker durch diese Jugendzeit gleitet.
Bei Boscolis ‚San Sebastiano‘ merkt man wieder wie eindrucksvoll Leid und Schmerz in der Kunst sein können. Ähnlich geht es mir z.B Permosers Marsyas oder bei der berühmten Laokoon-Gruppe.
Was für eine Kraft Leid haben kann, davon kann die katholische Kirche sicherlich ein Lied singen.
… und tut es auch mit Inbrunst!
Auch in der Kunst gibt es natürlich Moden und Trends und Hypes. Rein objektiv bewerten kann man da bestimmt auch gar nicht.
Meinte Gombrech „Es gibt keine Kunst, es gibt nur Künstler“ dann genau in diesem Zusammenhang?
Es gibt immer wieder die Neuentdeckung Vergessener. Dass ungekehrt in 100 Jahren jemand £450,000 für ein Mapplethorpe Foto ausgeben möchte, scheint mir eher unwahrscheinlich.