Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Nun hatten wir mehr Zeit in Würzburg zugebracht als geplant. Es war nicht vergeudete, sondern bereichernde Zeit gewesen. Trotzdem hatte ich zur Kenntnis zu nehmen, dass das Display des Navis uns erst fünf nach halb zwei erlaubte, in Salzhausen zu sein. Rafał tröstete mich, er würde die paar Minuten durch schnelles Fahren aufholen und trat zur Bekräftigung forsch ins Gaspedal.
Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Rainer Lippert/Wikimedia Commons/gemeinfrei
Salzhausen ist auch so etwas Ausgedachtes. Natürlich könnten wir, ohne zu verhungern oder zu verdursten, bis Othmarschen durchnageln. Aber im ‚Josthof‘ liegen wieder all meine lieben Leichen, die Verblichenen, mit denen ich hier das war, was mir an Glücklichsein möglich ist. Außerdem ist der ‚Josthof‘ mehr als siebenhundert Jahre älter als die Würzburger Residenz, zum Vergleich. Romantik-Hotel ist er aber noch nicht ganz so lange.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Dass sich in Hessen der Himmel zuzog, betrübte mich nicht sehr. Vom Norden hatte ich nichts Besseres erwartet. Viel mehr erschreckte mich, dass Rafałs schöne Aufholjagd nicht nur innerhalb einer Minute wegschmolz, sondern als neue Ankunftszeit 14.30 Uhr angegeben wurde. Ich war fassungslos bei Tempo 210. Bald hinter Hannover kam die Erklärung, genauer: der Stau. Ich fand, das ging gar nicht. Am Brenner oder in Neapel, meinetwegen, aber hier, so kurz vor dem Ziel in der norddeutschen Tiefebene an einem angeblich lastwagenfreien Samstag ausgebremst zu werden, das ist, als ob das ganze Haus zusammenkracht, wenn man die Zeitung aus dem Briefkasten nimmt.
Silke musste ‚Frau Josthof‘ melden, dass wir erst um halb drei da sein könnten, und sie sagte: „Bis halb drei ist warme Küche.“ Eigentlich behauptete unser Display inzwischen, wir würden erst sechs nach halb drei ankommen, aber das konnte Rafał mit 180 auf der Landstraße sicher aufholen. Niemand ist Freund von Staus, das erträgt man eben, und dann fährt man weiter. Ich doch nicht! Erst habe ich nur Angst um mein Mittagessen, auf das ich keinen Appetit habe. Dann beuge ich mich vor, um zu sehen, wie viel Benzin noch im Tank ist. Dann denke ich: „Wenn wir die Reise nicht stimmungsvoll im ‚Josthof‘ beenden können, dann war die ganze Fahrt von Rheinsberg am 23. Mai bis heute vergeblich und sinnlos.“ Dann überlege ich, was ich mache, wenn ich jetzt wüsten Durchfall bekomme; und nun ist es auch nicht mehr weit bis zu der Frage, wie schnell der Rettungshubschrauber eintrifft, wenn ich einen Herzinfarkt mit Lungenstillstand erleide.
Unbeeindruckt von diesem Szenario löste sich der Stau auf, nach gefühlten anderthalb Stunden, während derer ich Balthasar Neumann gar nicht genug hatte verfluchen können. Im Kaisersaal hatte Silke auch unnötig lange rumgetrödelt, fand ich jetzt. Egal, Rafał fuhr schnittig durch die Heidedörfer, und zwei vor halb drei hielt er vor dem Eingang des ‚Josthofs‘. Der Koch gab gerade den Löffel ab … Nein, nein, alles gut. Wir bekamen einen hübschen Tisch, auf den wir als die einzigen Gäste auch Anspruch hatten. Ich erholte mich vom Beisitzen mit einem Hausschnaps (250 Brände im Angebot) und bezwang den Heidschnuckenbraten auf meinem Teller ohne große Mühe. Wie es weitergehen würde, war klar:
Fotos (5): Privatarchiv H. R.
Wir würden staulos durch den Elbtunnel gleiten, im Landhaus-Supermarkt ein Salzbrenner-Würstchen, zwei Scheiben Corned Beef, zwei Scheiben Zervelatwurst, ein Paket ‚Harry‘-Steinofenbrot, Butter, Schmalz, Radieschen und einen Harzer Käse kaufen, damit ich morgen an meinem einsamen Sonntag was zu beißen habe und merke, dass ich wieder in Hamburg bin, mir also alles genehmigen kann, was Silke nicht über die Lippen käme, nicht mal die Radieschen. Im Kühlschrank ruht noch eine Dose ‚Lysell‘-Anchovisfilets. Warum die mir trotz zaghaften Widerwillens so gut schmecken, ist klar: ‚Das traditionelle, aufwändige Herstellungsverfahren mit seinem rigorosen Qualitätsanspruch kennzeichnet die Qualität aller Produktvarianten. Qualität ist heute auch Verantwortung für die Umwelt sowie Schonung und Erhalt der Ressourcen‘, erklärt die Homepage. Das hat mich überzeugt. Aber wenn Rafał am Montagmorgen an meine Schlafzimmertür klopft und eintritt, nachdem ich irgendeine Art Laut von mir gegeben habe, wird er sagen: „Du hast ja gar nichts gegessen!“, und ich werde antworten: „Nein. Aber es war doch beruhigend, dass es da war.“ Vielleicht werde ich still dasitzen und wehmütig-demütig an andere Zeiten denken. Hoffentlich. Hoffentlich nicht.
Foto: Privatarchiv H. R.
Damals begann jeder Morgen mit unserem gemeinsamen Frühstück. Roland und ich. Halb neun. Ein weichgekochtes Ei, eine Scheibe Schinken, zwei Scheiben Toast. Ein Löffel Konfitüre, eine Scheibe Gouda, eine Umarmung. Ein Abschied; bis zum Abend. Mit Rolands Tod habe ich aufgehört zu frühstücken. Der kulinarische Tag begann von nun an mittags mit dem ersten Glas Wein. Wasser nur für Tabletten. Wer den Tod herbeisehnt, der braucht sich keine großen Gedanken um seine Gesundheit zu machen. Wer überlebt, dann aber doch. Selbst wenn man eigentlich niemanden mehr sehen will, muss man nach dem Haarekämmen noch kurz in den Spiegel gucken, und falls man hypochondrisch ist, will man außerdem mal die rausgestreckte Zunge begutachten. Krankhafter Belag? Aber sonst nichts und niemanden.
Introvertierte aller Länder, vereinigt euch! Wenn ich mit diesem Text hier durch bin, werde ich nur noch niedliche Kätzchen bloggen. Wie sonst komme ich an Followers? Ich schreibe zu kompliziert, kopfgesteuert. Wie sonst? Der Geist kommt nicht ohne den Körper aus, der Körper ohne den Geist spielend. Das stört mich am meisten am Menschsein. Wie man da behaupten kann, Gott habe alles so prima eingerichtet, ist mir ein Rätsel. Man muss schon die Behauptung, dass unser Verstand zu klein sei, um Gottes Ratschlüsse zu kapieren, als Einsicht bemühen, damit man noch an der Stange der Gläubigkeit festhält: sich selbst und die anderen notfalls mit Gewalt. Da hat das Hirn eine ziemliche sportliche Leistung am Religionsreck zu bewältigen.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Vom Landhaus aus würden wir die Parkstraße entlang zur Bernadottestraße gefahren sein, und erst, wenn wir in den Weg einbögen, dann erst würden wir auf den letzten fünfzig Metern dieselbe Strecke zurücklegen wie auf hinzu: Nach Osten und Süden hatten wir unseren Privatweg verlassen, von Westen und Norden her würden wir ihn wieder ansteuern. Die rundeste aller Rundreisen, sowohl von den Wochentagen als auch von den Himmelsrichtungen her: perfekt! Ein Anlass, um stolz zu sein. Aber noch ist es nicht so weit. Noch ist der späte Herbst in meinem beschaulichen ‚Kutscherhäuschen‘ eine Erwartung ohne Garantie. Fast am Ziel. Fast.
Rafał rast mit Tempo 200 über die Autobahn den Abhang von den Harburger Bergen hinunter ins Elbtal. Ich sehe ihn an von der Seite. Ich könnte den Gurt lösen und rausspringen. Geht schnell. Ich könnte ihm aber auch ins Steuer greifen, gerade jetzt, mit beiden Händen, Kraft haben meine Hände noch, auch wenn die rechte wenig spürt, Kraft hat sie. Rafał schreckt auf, Silke schreit, der Wagen stößt gegen die Leitplanke, sie gibt nach, wir überqueren die Hürde und erreichen das andere Ufer. Ein Lastwagen im Überholvorgang, er will ausweichen, stößt mit dem anderen Lastwagen auf der rechten Spur zusammen. Sie bremsen scharf. Der Anhänger des rechten Wagens kippt, die Laster verkeilen sich und kommen quer zur Fahrbahn zum Stehen. Hinter ihnen rast ein Wagen in den vorigen, ein ohrenbetäubendes Krachen und Quietschen, das nächste Krachen. Plötzlich Stille. Das nächste Quietschen und Krachen. Alle Fahrbahnen sind blockiert. Die ersten Wagen sind zusammengequetschte Haufen. Dahinter eine Blechlawine, die in jeder Sekunde wächst. Nun beginnt das Wimmern, einzelne Schreie dazwischen. Blut tropft auf Asphalt. Körperteile, Füße, Arme, beim Aufprall aus dem Fahrzeug geschleudert. Ein abgerissener Kopf rollt auf den Mittelstreifen. Das Stöhnen schwillt an, ein Verletzter quält sich durch die Fahrertür, fällt und bleibt reglos liegen. Auto-Amok. Urlaubsende. Gemeinschaft der Sterbenden: im Aufbruch, im Ausbruch, im Abbruch. Das Ende von allem. Geiler Gedanke. Cooler Abgang. Wäre machbar gewesen. Aber.
Ich habe es nicht getan.
ENDE
Die schlimme Inge | #98Alesar Issa mit ‚Silberner Rinke‘ ausgezeichnet
Oh la la! Und was kommt nach den ganzen spannenden Reiseberichten? Den Hanno Rinke Blog gefüllt mit Katzen-Memes oder Badezimmer-Selfies kann ich mir nun wirklich schwer vorstellen. Einen stummen Hanno Rinke ebenso wenig. Irgendwo muss sich diese Mischung aus Verachtung, Gleichgültigkeit und Amusement gegenüber den Geschehnissen in dieser Welt ja weiterhin entladen…?!
Danke für die Reise bis hierhin Herr Rinke. Die Texte unterhalten mich in der Regel sogar ohne geilen Abgang. Ich bin gespannt was kommt. Denn dass was kommt, stelle ich wie schon Frau Buchmann nicht in Frage 😉
Haben Sie das Leben wirklich so satt, wie es in Ihren trübsinnigsten Momenten scheint, oder provozieren Sie die gedankliche Konfrontation nur, um sich zur Erkenntnis vorzuarbeiten, dass das Leben in jeder Phase des menschlichen Daseins noch ganz schöne Momente bereithält? Manchmal will der Mensch vom Gegenteil überzeugt werden, um an das zu glauben, was ihm suspekt erscheint. So ähnlich ist es wohl auch mit Ihrem Hang – oder Zwang – zur Planung. Es kommt mir vor, als müssten Sie sich daran festhalten, um alles unter Kontrolle zu haben. Bloß nichts dem Zufall überlassen?! Warum eigentlich? Ich fänd‘ es viel spannender, mal zu erfahren (für Sie durchaus wörtlich gemeint), was wohl wäre, wenn Sie plötzlich Ihren Plan über den Haufen würfen – anderer Ort, anderes Quartier, andere Menschen. Nach dem Motto: Hanno sagt NEIN! Richtungswechsel! Aufbruch! Entdecken statt Betrachten! Und wie wohl Ihre Reisegefährten mit so einer Situation umgingen? Das könnte amüsant und spannend zugleich werden …
Auweia, also doch: Hanno Rinke muss in’s Dschungelcamp. Statt häppchenweise Pasta mit Silke und Rafał im malerischen Italien mal Känguruhoden mit Verona Pooth und Jörg Kachelmann in der australischen Plastik-Wildnis. Meine Vorstellungskraft reicht zwar nicht ganz aus, ich würde aber durchaus einschalten. Und natürlich auch die daraus resultierenden Blogeinträge lesen 😉
Spontanität ist ja immer ein guter Reisebegleiter, allerdings bin ich in dem Falle ganz froh, dass Herr Rinke uns die Blechlawine inklusive abgerissenen Köpfen erspart hat. Richtungswechsel und Loslassen kann’s dann natürlich gerne mal während einer der nächsten Reisen geben.
Das Leben habe ich nie satt, das Essen schon. Die Anpassung an das jeweilige Alter ist nie leicht und gelingt nicht auf Anhieb. Seine (un)redlichen Bemühungen in dieser Hinsicht beobachtend zu begleiten, hilft nicht immer, aber es beschäftigt. Hanno sagt JA!
Früher bin ich, feigerweise meist in Begleitung, einfach drauflosgefahren. Wo’s schön war, blieben wir, manchmal auch nur dort, wo es Nacht wurde, in Griechenland, in Australien. Auch mein ruheloses Durchstreifen der Großstadt-Nächte zwischen Caracas, St. Francisco und Moskau, allein, gehört in diese Kathegorie. Jetzt, leider schwer beweglich, lasse ich Spontanität nur im einzelnen zu, nicht mehr als Konzept. Wo man nicht fliehen kann, soll man nicht kämpfen. Es sei denn, man ist jung oder liebt den Heldentod.
Auch wenn’s wahrscheinlich Mühe kostet auf Spontanität zu verzichten, irgendwann muss ja auch mal gut sein. So unbedacht und wild wie mit zwanzig ist man halt nicht mehr. Weiter geht’s trotzdem.
Ist Spontanität nicht sowieso überbewertet? Kommt’s nicht eh viel mehr darauf an wie man eine Situation angeht und was man daraus macht? Manchmal denke ich, das zwanghafte Nichtplanen endet genauso im Krampf wie die völlige Kontrolle.