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0506
2. Berlin-Reise / 2000

#2.27 | Gottesurteil

Montag, 10. Juli

Das Positivste an meinem Zustand war, dass ich nicht aufstehen musste. Aber sonst? Ich torkelte ins Wohnzimmer, sah den SAT.1-Ballon am grauen Himmel und torkelte gleich wieder zurück ins Bett. Da hatte ich nun Blumen und Obst, beides echt, die Stadt vor der Haustür, das Leben zu Füßen, das Alter im Nacken und wollte nichts als das Laken unter mir und die Decke über mir.
Nachdem ich mir lange genug eingeredet hatte, dass ich mir das nicht durchgehen lassen dürfe, hatte ich mir auch diesen Zustand vergällt, stand auf und berappelte mich.
Ich stand auf dem Bahnsteig ‚Stadtmitte‘ und wartete auf den Zug, genauer gesagt: das Gottesurteil; kam er von rechts, würde ich zum Alexanderplatz fahren, kam er von links, hieße mein Ziel Wittenbergplatz. Gott sei Dank kam er von links, und ich durfte ins KaDeWe. Zweifellos genügend Sakkos hatte ich aus Hamburg mitgebracht, aber bei Socken und Unterhosen herrschte bereits Notstand. Wieso lässt man sich durch den Ausdruck ‚ein Paar Hosen‘ blenden, wenn es doch nur eine Hose mit zwei Löchern für die Beine ist? Ich fand alle Waren empfindlich teuer, jede in ihrer Kategorie, wobei ich von vornherein hinnahm, dass Nachtcreme teurer ist als Bleistifte. Dennoch entwickelte ich einen gewissen Spaß am Konsum, obwohl ich, was ich kaufte, wirklich brauchte.
Es erhöht den Spaß nach zehn Minuten Wühlen auf dem Grabbeltisch, endlich die richtige Größe von Cerruti-Slips oder Boss-Socken um die Hälfte reduziert zu ergattern.
Wenn ein Hundertmarkschein schon um ein Fünfmarkstück angeknabbert ist, sinken die Hemmungen, und wenn etwas so teuer ist, dass man gleich die Kreditkarte zückt, erst recht. So kaufte ich in einer spontanen Zuckung ein ziegelrotes Hemd, das zu nichts, was ich habe, passt, schon gar nicht zu mir selbst. Aber es kam noch schlimmer: Als ich aus dem U-Bahn-Schacht ‚Stadtmitte‘ stieg, war die Sonne aufgeblüht. Ich fand mein Haar, im Schaufenster gespiegelt, etwas unentschlossen in seiner Länge und betrat einen Laden in der Jägerstraße. Die Jägerstraße liegt friedlich – man könnte auch sagen: wie ausgestorben – und versickert in die noch ruhigere Mauerstraße. Aber der pfiffige, hübsche Friseur hatte an der Ecke Friedrichstraße ein Schild aufgestellt, dass es ihn fünfzig Meter weiter gäbe und er toll sei. Er betrachtete meinen Kopf, musterte sein leeres Stundenbuch, sah wieder auf zu mir und fragte: „Wann wollen Sie denn kommen?“
Ich sah mich in dem leeren Laden um, starrte auf die eintragungslosen Seiten vor ihm und fragte vorsichtig: „Gleich?“
Er zögerte einen Augenblick, dann nickte er unentschlossen, schließlich rief er etwas, das offenbar ein Name war, denn es erschien eine über und über tätowierte Minderjährige mit zotteligem Haar. Er zeigte mit dem Kopf auf mich, sie nickte, und dann schnitt sie mir für fünfzig Mark die letzten Haare weg. Einerseits fand ich es anmaßend, dass sie mehr Geld nahm als mein Friseur in Hamburg, andererseits leuchtete mir ein, dass sie bei dem durch mich repräsentierten Kundenstrom so viel nehmen musste, um den Figaro durchfüttern zu können.
„Diese Tätowierungen“, hatte ich, während sie mich beschnitt, das Wort an sie gerichtet, „sollen die immer bleiben?“
„Nö, mal sehn“, hatte sie genölt, aber die Unentschlossenheit klang nicht hilflos, sondern mehr wie ein Programm.
„Und wenn die wegsollen?“, hatte ich, mich anbiedernd, gefragt. „Lässt sich das so einfach wegfräsen? Ich hab’ da grad neulich was drüber gelesen.“
„Nee“, sagte sie, „das ist immer noch ziemlich schwierig. Aber da mach’ ich mir keinen Kopf. Das sind so viele, die das haben. Also, wenn die alle das mal weghaben wollen, wenn die älter werden, da wird dann auch was erfunden. Bei so vielen – da gibt’s dann auch was.“
Leb! Das Gegenmittel finden die anderen. Weil die meine Knete wollen, kann ich mich auf die verlassen. Ach, Margot! Warum hattest du dem nichts entgegenzusetzen? Die Dummheit hat den Sozialismus kaputt gemacht, nicht der Kapitalismus. Wenn es der Erfolgreichste ist, der das Sagen hat, erfolgreich aufgrund seines Erfindungsreichtums, dann können Gottesgnadentum und Herrschaft des Proletariats einpacken.

Ich rief, wie verabredet, Professor Büchsel an. Er hatte die Auswertung meiner Entnahmen: kein maligner Befund. Weniger Alkohol wäre ratsam. Ich sagte, dass ich nicht ausgerechnet meine Wochen in Berlin zur Fastenzeit erheben wollte; er zeigte Verständnis, aber Einschränkung wäre gut. Das beherzigte ich und goss mir den ersten Whisky des Tages und der Woche ein. Seit Mittwoch voriger Woche hatte die Flasche vor sich hin gestaubt.
Dorothee rief, wie nicht anders zu erwarten, an. Wie es mir ginge.
Jaja, einigermaßen.
„Aber du hast gestern wieder getrunken“, tadelte Dorothee, „und Gänseleber ist in deinem Zustand auch nicht gut.“
Alison, diese Petze! – Ich goss mir gleich einen zweiten Whisky ein. Danach ging es mir besser. Wie die Friseurin auf den Fortschritt der Wissenschaft hoffte, so konnte auch ich hoffen: sie auf Haut-, ich auf Leber-Transplantation. Mit einer geklonten Speiseröhre schluckt es sich noch mal so nett.
Ich ging wieder hinunter. Endlich konnte ich die großstädtisch auf der Straße Essenden mit Wohlwollen betrachten und nicht mit Ekel. Sie saßen, ich lief. Alles gleitet vorbei, zum Greifen fern. Ich wandle auf dem Leben wie Jesus auf dem Wasser. Ich genieße die Sonnenstrahlen auf Gläsern und Fenstern, den Stau auf der Friedrichstraße, den ich durchkreuze wie einen Fluss; den Käse auf der Pizza, die ich nicht esse; den Schaum auf dem Cappuccino, den ich nicht trinke. Die Menschen, in deren Schicksal ich nicht eingreifen will. Oder doch? Den Zeigefinger in die Pizza bohren oder in ein Gesicht. Ein Lachen provozieren, eine Veränderung. Ein Spätnachmittag, der in einen Sommerabend fließt. Verabredungen, Erwartungen, Hoffnungen. Geruch: Stadt. Geräusch: Stadt. Anblick: Stadt. Jedes Kleid, jedes Auto, jedes Schaufenster austauschbar anders als alle Kleider, Autos, Schaufenster davor und danach. Nicht betrunken zu sein ist ein unangenehmer Zustand, niemandem zu empfehlen, der nicht aus gesundheitlichen oder religiösen Gründen dazu verpflichtet ist. Waren die eingeschränkten Freuden in Lübars, bei Marina und bei Dorothee umsonst? Eine Stimmung, in der ich nicht war und nie mehr sein werde?
Ich setze mich an einen freien Tisch bei ‚Möhring‘, nicht an der Gendarmenmarkt-Flanke, sondern um die Ecke, die zur Jägerstraße gehört und die hier so turbulent ist, wie es sich der Friseur jenseits der Friedrichstraße nur träumen kann. Ich spielte ‚Café de Flore‘ in Paris: Weißwein und Birnen-Tarte. Wie damals, sechs Wochen lang, vor siebzehn Jahren. Die Karaffe, das Glas, der Block. Trinken können, schreiben können, spüren können: milchige Juliwärme und die Rötung in der Luft, der erste Feier-Abend der Woche. Ich nahm mein Handy aus der Brusttasche und rief bei meinen Eltern an. Ein bisschen Atmosphäre herüberschicken. Am anderen Ende war es grau.

An den Tisch neben meinem setzte sich ein Paar, etwas älter als ich, solide gekleidet, mit einer unmäßig fetten Mittzwanzigerin. Die Frau und der Mann tranken einen Espresso, die Junge leerte mit viel Andacht einen Pokal. Sahne, Eis, Früchte – alles schob der Löffel unermüdlich in ihr Mundloch. Nach fünfzehn Minuten war es vorbei. Sie zahlten und gingen. Der Kellner – vielleicht auch mehr, denn er wies die Serviererinnen an – sah aus wie André Heller, bevor er bekannt war, und ging seiner Beschäftigung mit einer Ernsthaftigkeit nach, die ich für ein Straßencafé unangemessen fand. Kinder, die Hochzeit spielen; ein Piccolo, der den Oberkellner nachäfft. Gernegroß. Hanswurst. Ich versuchte, ein Schmetterlingslächeln bei ihm hervorzukitzeln, aber ich bekam bloß mein Wechselgeld.
Die Buchhandlung Friedrichstraße/Ecke Mohrenstraße, gegenüber dem Bäcker in meinem Wohnblock, sieht aus, als gäbe es sie dort schon seit hundert Jahren. Nicht diese lichten Selbstbedienungsläden wie Hugendubel oder Thalia, die statt ‚Mon Cheri‘ und ‚Flora soft‘ halt ‚Harry Potter‘ und Reich-Ranicki in den Regalen haben, sondern dunkles Holz, tiefe Gedanken und düstere Bedienung. Aber das ist Illusion. Das Haus ist, wie alles hier, knappe zehn Jahre in Betrieb. So ist es auch nicht, wie es zunächst den Anschein hat, bei Kafka stehengeblieben, sondern verkauft Isabel Allende und Ulk-Postkarten. ‚Großes Solo für Anton‘ hatten sie, obwohl kartoniert, in einer preiswerten Sonderausgabe. Die nahm ich mir, kaufte beim Bäcker Kamps ein Stück Käsekuchen und ein Mandelhörnchen und lief unter dem einsetzenden Beifall der ersten Regentropfen in meine Wohnung, zumindest in mein Appartement. Ich wusste noch von vor zwei Jahren, dass der Kuchen aus dieser Bäckerei schlecht ist, aber der rege Publikumsverkehr hatte mich veranlasst, ihm eine zweite Chance zu geben. Er hat sie vertan. Teigmüll.
Mein erster Abend allein. – Kitzlige Sache. Aber nichts trieb mich auf die durchnässte Straße. Die Anonymität der Räume war nicht abschreckend, eher ermutigend. Kein Gegenstand hier ist vorbelastet. Das Wasser ist heiß, das Obst ist echt, und den Rest richte ich mir so ein, wie ich will. Von den Büchern, die darauf warten, von mir gelesen zu werden, griff ich mir ‚Ein Barbar in Berlin‘, ein alternativer ‚Stadtführer‘, geschrieben von einem Schweden zu Besuch hier. Mit Giuseppe hatte ich alles durchrast, was ich schon kannte. Jetzt will ich hinsehen: auf das, was ich noch nicht kenne – ins Buch, ins Bett.

Titelbild mit Material von Shutterstock: Mo Photography Berlin

Hanno Rinke Rundbrief

17 Kommentare zu “#2.27 | Gottesurteil

  1. Gegen Reich-Ranicki habe ich nichts, im Gegenteil, seine Autobiographie fand ich sehr spannend. Aber Thalia ist wirklich scheußlich. Da macht das Bücherkaufen keinen Spaß.

    1. Besser als über Amazon zu bestellen. Die kleine Kiez-Buchhandlung um die Ecke würde sich natürlich ohne Frage noch mehr über einen Besuch freuen.

      1. Es gibt aber ja genügend Menschen, die es nicht sind … aber die zu faul sind in den Laden zu gehen.

    2. Wenn ich es schaffe gehe ich immer in die kleinen Lädchen in meinem Viertel. Da gibt es einige, die ich sehr gerne mag. Zugegebenermaßen hat sich die Zahl seit Corona aber deutlich reduziert. Sehr traurig.

  2. Am Alex habe ich noch nie etwas zum Anziehen gekauft. Im KaDeWe schon. Obwohl die Sachen teilweise wirklich unverschämt teuer sein können.

    1. Mich würde tatsächlich auch interessieren, welche Beträge manche Leute bei Primark lassen. Und wie lange die Sachen halten bevor sie im Mülleimer landen.

      1. Für 500€ kann man da schon viel kaufen. Aber 30 Jahre wird wohl nichts aus dem Sortiment überleben. 30 Monate mit viel Glück, aber selbst das glaube ich fast nicht.

  3. Warum sollte man Tättowierungen im Alter weghaben wollen? Als ob bilderfreie faltige Haut sexier aussehen würde…

    1. Ich glaube entweder bereut man das sehr bald oder gar nicht. Das Alter spielt dabei glaube ich nicht die entscheidende Rolle.

      1. Ich stelle mir vor, dass man sich ein Tatoo über sieht oder dass es seine Bedeutung verliert. Wie bei einem Kleidungsstück. Vielleicht ein Irrtum.

      2. Bei mir persönlich ist das so, dass es zu meinem Körper gehört, genau wie Nase, Bauchnabel oder Zehen. Aber wahrscheinlich geht das jedem anders. Ich hab auch schon von Leuten gehört, die die Entscheidung später bereut haben.

    1. Warum Kamps und Co. so erfolgreich sind, bleibt mir ein Rätsel. Ein gutes Brötchen oder ein leckeres Croissant kostet doch auch in einer guten Bäckerei nicht viel mehr.

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