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2. Berlin-Reise / 2000

#2.29 (A) | Ausgelassen

Kaum verlässt man die Achse Tauentzien–Ku’damm, wird es in den Seitengassen gleich beschaulich. Die Marburger entspricht der Größe Marburgs und verliert sich – geografisch eigenwillig – in die Augsburger. Dort liegt ein Platz, der (es wird immer kurioser) Los-Angeles-Platz heißt, eine offenbar recht neue Grünanlage vor dem langen Klotz des ‚Sheraton‘-Hotels. Mein Weg zur Volksbühne führte mich an mehreren lustigen Kneipen mit Biergästen vor den Türen vorbei, alle sahen mindestens so einladend aus wie meine Meineker Schnapstheke. Noch war ich unentschlossen, ob ich heute Alkohol trinken würde, dass ich es wollen würde, war ja klar. Entsprechend würdevoll schritt ich vor mich hin, eigentlich eher schleppend; denn ich war früh dran, und lieber laufe ich gemächlich, als dass ich unabgeholt irgendwo rumstehe. Ein sommerlicher Abend mitten in der Großstadt, dort, wo nichts von ihr zu merken ist. Solche Enklaven gibt es in jeder Metropole, die natürlich gewachsen ist. Stilles Rom, stilles London, stilles Paris, ein paar Hundert Meter entfernt vom Strom der Zeit und des Verkehrs.
Die Meinekestraße mündet in einen Komplex, der die Hochschule der Künste beherbergt und in dem früher auch die ‚Freie Volksbühne‘ untergebracht war. Jetzt, wo die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Park wieder zur Verfügung steht, werden diese Räumlichkeiten nicht mehr gebraucht, sie sind wieder ‚frei‘. Eine begehbare Rampe führt aufs Dach. Dort befindet sich eine fast karibisch anmutende Open-Air-Bar und dahinter die ‚Bar jeder Vernunft‘, eine Cabaret-Bühne, von der ich schon oft gehört hatte. Zum ersten Mal betrat ich das Gebäude. Ich war zu früh, Craig und Thommy kamen zehn Minuten zu spät, so ist das, wenn man zu pünktlich ist. Um halb acht hatten Kartenverkauf und Einlass begonnen, und da die Plätze nicht nummeriert sind, ist das ein markanter Zeitpunkt. Thommy war so hübsch, wie ich ihn in Erinnerung hatte, Craig etwas gestandener, was ihm nicht gut stand. Thommy verkündete strahlend, er habe keinen Pfennig Geld bei sich, nachdem wir uns, wie sich das gehört, alle drei geküsst hatten, dann kaufte er mit Kreditkarte Tickets und drängte uns ins Innere. Da er auch nichts als ein Hemd trug, mussten Craig und ich mit unseren Jacken windgeschwind die gerade noch freien Plätze belegen. Ich fand auf der anderen Seite noch bessere, und wir belegten um, bevor wir wieder nach draußen gingen, um an der Bar von Craig bezahlten Weißwein zu trinken, somit war auch für mich die Entscheidung gefallen. Alkohol: ja.
Uwe sollte zwanzig nach acht am Bahnhof Zoo aus Hamburg eintreffen. Wir hinterließen seine Karte am Eingang, denn wir selbst wurden hineingedrängt, um uns an unsere Plätze zu setzen und zu bestellen. Der Zuschauerraum war ein ziemlich großes Wohnzimmer zweifelhaften Geschmacks, mit Tischen vor den Stühlen, damit ordentlich getafelt und gebechert werden konnte. Wir ließen uns also im Chippendale nieder. Thommy erklärte, er habe noch nichts gegessen, er bestellte Nudeln und Sancerre. Ich nahm einen italienischen Vorspeisenteller, was ein Fehler war, das Zeug war grässlich. Uwe wollte auch Nudeln, wie er Thommy per Handy wissen ließ. Dann kamen nacheinander er, die zweite Flasche Sancerre und die Dämmerung, in die hinein zunächst der Pianist und dann ins aufgleißende Scheinwerferlicht die füllige Alleinunterhalterin traten.
Die Show war ein gelungenes Kauderwelsch aus Amerikanisch und Deutsch. Die Texte hatten Pep, die Musik, vom Pianisten komponiert, war eingängig, aber nicht banal. Mir kam in den Sinn, dass die Amerikaner im heutigen Berlin wohl den von Natur aus nicht an der Spree beheimateten Witz beisteuern, den bis ’33 die Juden dem Großstadtleben eingeimpft hatten. Amerikanische Songs, Filme, Kleidung, Nahrung findet man überall, gewiss, aber in den Städten gebündelter als auf dem Lande – und: München ist bayerisch, Köln rheinisch, Hamburg hanseatisch – Berlin ist, was kommt und wer kommt, eine ständig in Auf- und Abbau befindliche Kulisse, vor der unermüdlich gespielt wird. Gedeih! Wachs! Und tropf herunter an der ewig brennenden Kerze!
Der Geist von Respektlosigkeit, Sarkasmus, Scharfsichtigkeit, das Spielerische und das Grüblerische, alles das mag auch in ähnlich gestalteten Räumen der Geist der späten Zwanziger und frühen Dreißiger des vorigen Jahrhunderts gewesen sein.
Der Begleiter ein bisschen zu durchschnittlich, um hübsch zu sein, aber durchtrieben, gewinnender von Minute zu Minute; sie von solch ungehemmter Vitalität, dass man sie in vierzig Jahren ‚unverwüstlich‘ nennen wird. Eine von den Frauen, die um die zwanzig mutig vor den Spiegel treten und zu der Einsicht geraten: Hübsch werd’ ich nie. Jetzt muss ich originell werden! Und das macht sie mit Stimme, Charme und Geschmack. Geschmack ist der Mode unterworfen. Ihre Vorstellung hätte vor – ich weiß nicht recht, wie vielen – Jahren noch als Entgleisung gegolten: „This is my kongenialer Begleiter and he is gay. That’s why wir uns so gut verstehen.“
Die Pause verbrachten wir vergnügt im Freien. Thommys Augen glitzerten noch etwas schriller als vorher, seine Stimme schwoll immer weiter an. Hitziger? Erregter? Unbeherrschter? Liebe ich alles – so für einen Abend … – Er hatte immer noch keine Jacke und kein Geld, aber nun hatte er was im Magen. Als er, zierlich und doch sportlich, in Richtung Klo-Container verschwand, sah Craig ihm wohlgefällig nach und raunte mir bewundernd zu. „He’s such a Lady!“ Uwe wirkte dagegen geradezu gesetzt. Ich hatte ihn weniger gut aussehend in Erinnerung. Er war früher ein weiteres blond gelocktes Etwas gewesen, das mir Bernsteins Zeit stahl, wenn ich Repertoire besprechen oder Cover vorzeigen wollte. Ich brauchte die Zustimmung, wenn es weitergehen sollte. Ich würde nicht mit einem Kopfnicken antworten, sondern mit Aktivitäten, die etwas in Gang setzten, und dann, ein Jahr später vielleicht, würde das Produkt dieser Aktivitäten im Schaufenster liegen: in Tokio, in New York, in Bielefeld.
Das Altern stand Uwe gut. Das ist der Lohn derer, die mit zwanzig nicht hübsch, sondern unzufrieden waren. Plakativ ausgedrückt ist Uwe der Administrative und Thommy der Kreative, und beiden sieht man es an.
Mit Erleichterung nahm ich zur Kenntnis, dass Thommy, als es zur zweiten Halbzeit klingelte, eine weitere Flasche Sancerre bestellte, und am Ende, bevor wir nach heftigen Akklamationen aufbrechen wollten, musste er rasch noch einen Whisky haben. Craig fand, wir sollten Gayle Tufts begrüßen. Schließlich hatte sie ‚Somewhere‘ gesungen und über Bernstein gesprochen. Craig hat mehr Zeit seines Lebens hinter der Bühne verbracht als ich im Bett, er fragte den Mann, der vor der Vorstellung das Rauchen verboten hatte, also eine Autorität war, wie man hinter die Bühne käme, aber der bedeutete uns, dass Gayle gleich rauskommen würde. Craig, Thommy und Uwe qualmten so lange, als müssten sie alles während der letzten drei Stunden Versäumte nachholen, bis die Künstlerin erschien. Außerhalb der Bühne wirkte sie klein, vierschrötig und glamourlos. Aber sie genösse unsere Komplimente, sagte sie und beteuerte, wie sehr sie Bernstein verehre. ‚Hänge ich mich jetzt doch noch an seine Rockschöße und lasse mich für ihn bewundern?‘, dachte ich ungern. Den Partner beglückwünschte ich auch, der Stil seiner Musik hatte mir imponiert.
‚So war ich eben nie‘, dachte ich, ‚das habe ich nie gemacht.‘ Und mit Ende zwanzig war ich nicht wie Thommy. Oder doch? Ich habe keine Filme gemacht, damals, aber bis zu einem gewissen Grade Karriere und mehr und mehr Spesen. Was bleibt davon? Erinnerungen? Einsichten? Ein Humus, auf dem etwas wächst, das sonst nicht gewachsen wäre?

Thommys Augen traten noch ein wenig mehr hervor. Einen Millimeter mehr und man hätte ‚Basedow‘ gesagt. Er und Uwe hatten während Gayles Darbietung ein gegenseitiges körperliches Einverständnis miteinander gehabt, das man wohl ‚Schmusen‘ nennt, und ich war wehmütig geworden. Erinnerungen an Zärtlichkeiten als Verlustgefühl. Es wurde beschlossen, auf einen Drink im ‚Hafen‘ zu ankern. Dass ich den ‚Hafen‘ nicht kannte, wurde bestaunt, als wäre er die Siegessäule. Marina wird bestimmt eher an den Tegeler See kommen als in den Hafen. Sein Eingang liegt eine Tür weiter als das ‚Toms‘. Aus dem Inneren krabbelten Männer wie Ameisen. Die meisten hatten Biergläser in der Hand und schwarze Lederhosen an den Beinen. Ich war verblüfft, obwohl mir diese Art Kneipe vertraut ist. Es schien mir, ich hätte Giuseppe besser hierherführen sollen als nach nebenan. Nächstes Mal.

Die ‚Bar jeder Vernunft‘-Rechnung über fünfhundert und etwas Mark war mit Thommys Plastik beglichen worden. Craig, der dazu seine eigene Kreditkarte wie einen kleinen Fächer gewedelt hatte – wie einen Wink mit dem Zaunpfahl: ‚Ich könnte das auch übernehmen‘ –, orderte hier die Drinks. Uwe nahm als Fahrer Bier, wir andern schlossen uns mit Whisky an. Déjà-vu. Der Raum, die Poster, die Theke, die Gesichter, Frisuren, Blicke. Das Gemurmel, die Gesten, das Lachen aus einem in den Nacken geworfenen Kopf. Die Umarmungen, die Einsamen, die lichtlose Beleuchtung und der Geruch der Jacken.
„In den nächsten zwei Wochen müssen wir durcharbeiten“, sagte Uwe. „Wir machen einen Film für das Jüdische Museum. Es wird jetzt ein Jahr lang geschlossen. In der Zeit soll vorne im Eingang unser Film laufen.“

Ich hatte gehofft, sie schneller wiederzusehen. Neben mir stand jemand wie ein kahl geschorener Zigeuner, Lederweste auf braunem Fleisch, ein Feuerstoß im Leib. Und in meinem Körper? Asche? Ich sah, was ich schon tausendmal gesehen hatte, ohne Begierde. Schmerzliche Anteilnahme, betrübt, weil ich nicht eingreifen, nicht hineingreifen mochte. Ich bekam einen zweiten Whisky. Mit den Fingern stieß ich das Eis aus dem Glas auf den Asphalt. Es zersplitterte.
Craig würde morgen nach Hamburg fahren. Ich beneidete ihn nicht. Er hatte sich bei unserem ersten Glas Wein mit Thommy über Telefonsex und Masseure in Berlin unterhalten. Thommy outete sich als Experte. Obwohl ich dank Giuseppes Vorliebe für den verreisten Gatten auch ein Wörtchen hätte mitreden können, hielt ich meinen Mund.
Thommy begann, fiebrig auf mich einzulallen. Wäre ich gerne wie er gewesen? … Besoffene machen einen kläglichen Eindruck, besonders, wenn sie überschäumen von dem, was sie ab morgen alles tun wollen. War ich so wie er … gewesen? Nicht so dichtes, dunkles Haar, nicht so große, blaue Augen. Dünnhaarig, dünnhäutig, schlitzäugig. Aber hungrig und durstig. Nichts habe ich ausgelassen. Noch einmal? – Nie wieder.
Uwe versprach, mir das Konzept ihres geplanten Bernstein-Films zu schicken und hielt Thommy davon ab, sich ans Steuer zu setzen. Uwe musste Gewalt anwenden. Craig musste ins ‚Kempinski‘. Thommy musste lachen und niesen. Der Übermut, die Ausgelassenheit, die Gefährdung. Zehn Minuten später war ich für fünfzehn Mark per Taxi in Ostberlin.

Hanno Rinke Rundbrief

20 Kommentare zu “#2.29 (A) | Ausgelassen

      1. Also wer schon mal in Berlin war, der weiss doch eigentlich auch, dass Berlin nun wirklich nicht unter Identitätsproblemen leidet. Man erkennt doch auf jeden Blick, dass man in der Stadt ist.

    1. Ob das immer der Fall ist, darüber kann man auch wieder streiten. Aber diejenigen, die gar keinen Übermut kennen, sind sicher arm dran.

  1. Die Show klingt sehr nach Gayle Tufts. Sie tritt ja anscheinend auch öfters mal in der Bar jeder Vernunft auf. Freunde haben immer geschwärmt davon.

      1. Ich glaube das ist einfach ihr Markenzeichen geworden. Das wieder abzutrainieren oder mit der Zeit einfach zu verlieren wäre bestimmt nicht sonderlich z für die Karriere.

  2. Dieser Satz „Das ist der Lohn derer, die mit zwanzig nicht hübsch, sondern unzufrieden waren“ scheint mir interessant. Ist das wohl auch der Grund, warum so viele der „Coolen“ aus der Schulzeit einfach im Dorf bleiben, während die Außenseiter oft Karriere machen und spannende Leben leben?

  3. Besoffene machen in der Tat einen ziemlich kläglichen Eindruck. Besoffen sein, macht (mir) zudem hinaus wirklich keinen großen Spaß.

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