Ich hatte mir zwei Garnituren für Berlin ausgedacht: eine grünlich-beige, die wahlweise mit Pullover oder – für den leicht gehobenen Anlass des gestrigen Mittagessens – mit Hemd und Krawatte zu tragen war, und eine dunkelblaue, die den festlicheren Begebenheiten wie Marinas Geburtstag vorbehalten blieb. Niemand sollte mich zweimal im selben Outfit sehen müssen. Zur grünlichen Cordhose gab es braune Wildlederschuhe, die aus Bozen stammen und am Vortag einen blutigen Ruckediku-Effekt erzeugt hatten, zur blauen Cordhose passten dunkelblaue Schuhe mit Mustern wie aus Budapest. Ich glaubte, mich mit der blauen Version durch den Tag bewegen zu können und erschien auch so bei Dorothee; Hemd: hosenfarben, Krawatte: grün.
„Sieh mal“, sagte Dorothee, als wir den Ku’damm entlangliefen: „‚Horn‘ hat zugemacht. ‚Horn‘! Das war doch immer das Modegeschäft. ‚Horn‘ muss schließen. Ich will wieder zurück nach Hamburg. Ich kann Berlin nicht mehr aushalten.“
„In Hamburg gibt es ‚Horn‘ schon seit dreißig Jahren nicht mehr“, gab ich zu bedenken. Ich hätte auch sagen können: ‚Was? Mit bald fünfundachtzig willst du dir noch einmal einen Umzug in eine andere Stadt zumuten?‘, aber ich fand das mit ‚Horn‘ galanter.
„Ach, in Hamburg war ‚Horn‘ doch nie was. Hier in Berlin: Das ist ‚Horn‘!“ Mir war nicht ganz klar, ob das Gespräch jetzt eine Wendung in Richtung Sehenswürdigkeiten, Textilbranche oder Ortsveränderungen nehmen sollte und schwieg.
„Nein, ich muss weg hier! Ich ziehe nach Hamburg. Weißt du nicht eine Wohnung für mich? Aber nicht bei euch in der Gegend, das ist mir zu weit draußen.“
„Willst du dir wirklich noch einmal einen Umzug in eine andere Stadt zumuten?“, sie hatte mir keine Wahl gelassen.
„Ja, man braucht auch etwas Wagemut.“
Wagemut. Mit 85. Gegen Dorothee anzuargumentieren ist hoffnungslos. Vor vier Wochen wollte sie noch nach Brescia ziehen, weil dort in der Nähe Freunde von ihr wohnen. Auch Perugia und Arezzo waren schon im Gespräch, und wenn man dann keine Lust mehr hat und nur noch „Jaja“ sagt, bestellt sie tatsächlich den Möbelwagen: Ich hab’s erlebt!
Wir hatten das Eckhaus zur Uhlandstraße erreicht. Ich öffnete Dorothee das gewaltige Portal, und wir erklommen die marmornen Stufen des pompösen Vestibüls. Belle Époque. Über ähnliche Treppen waren in der Kaiserzeit die Herrschaftsbesucher hinaufgestiegen. Uns dagegen empfing – niemand. Ein zum Bersten vollgepackter Kleiderständer im Treppenhaus vor dem Eingang zur Galerie im ersten Stock deutete darauf hin, dass Ort und Zeit stimmten. Ein letzter Bügel war noch frei, ich zerrte ihn heraus, betraute ihn mit Dorothees Umhang, streifte meinen federleichten Mantel darüber und quetschte so lange, bis der Haken wieder an der Stange hing. Diverse Mäntel, die meinem wie ein Ei dem anderen glichen, pressten sich hermetisch gegeneinander, sodass es mir ratsam schien, meinen farblich einzigartigen Schal aus dem Ärmel lugen zu lassen. Doch obwohl mein Mantel beinahe schon zu dick war für die überlastete Stange, so war er doch gleichzeitig zu dünn für die loslassende Jahreszeit, ein heller Sommermantel, bestimmt dazu, ihn in der Zeit der fest hängenden Blätter zu tragen, und einst zusammen mit Pali gekauft, also sehr schön und teuer: Hugo Boss. Meinen gefütterten Regenmantel hatte mir Irene von einer ihrer Einkaufstouren Ende der Achtzigerjahre mitgebracht: C&A. Er war nie erneuert worden, wärmend und hässlich und deshalb in Hamburg geblieben.
Im Flur der Ausstellungsräume hingen sorgfältig drapiert und schonend luftig die Mäntel all derer, die schon vor uns gekommen waren: Wer zu spät kommt, den bestraft der Ständer. Dann betraten wir die Ausstellungsräume, in denen so viele Menschen umherirrten, wie die Fülle der Mäntel hatte erwarten lassen. Jemand, der ein Tablett umklammerte, drängte sich kunstvoll durch die Zimmer voller Feinsinniger. Ich griff nach einem Glas Weißwein, während Dorothee sich mit Wasser begnügte.
Wir standen vor dem ersten Exponat.
„Ja“, sagte Dorothee.
Das war immerhin ein Anfang. Der ausgestellte Künstler hieß Altenbourg und war tot, weshalb er im Gegensatz zu den vielen anderen nicht anwesend war. Dorothee sagte, er hätte gar nicht Altenbourg geheißen, sich aber so genannt. „Nach der Stadt“, erläuterte Dorothee. Ich kannte nur ein ‚Altenburg‘, das mehr für die Produktion von Spielkarten bekannt ist, und hielt den Mund.
„Siehst du!“, sagte Dorothee vor dem nächsten Exponat, „verkauft! Der rote Punkt da unten, das bedeutet, das Bild ist verkauft. Die hätt’ ich gern gehabt. Alles, was ich haben will, ist immer schon verkauft, ja.“
Ich ließ Dorothees mir bekanntes Leben im Schnelldurchlauf an mir vorbeisausen und fand, dass sie recht hatte. Ihr ‚die‘ war übrigens kein Grammatik-Fehler, das bezog sich auf die Zeichnung oder auf die dargestellte Person. In all den vielen Rahmen hingen Bleistiftzeichnungen von Personen, die entweder gar kein Geschlecht hatten oder aus fast nichts anderem bestanden. Als Köpfe trugen sie geometrische Figuren, deren räumliche Berechnung jeden Mathematiker in den Selbstmord treiben würde: Zylindrische Fünfecke, siebeneckige Kugeln und auskurvende Würfel waren noch das Landläufigste. Die Preise lagen zwischen zwei- und dreißigtausend Euro. „Denk mal an!“, sagte Dorothee und nahm nun doch ein Glas Weißwein. Die eher verhuschten Skizzen machten auf mich Ahnungslosen einen teils wirren, teils graziösen Eindruck. Ein Gesicht mit langer Nase fesselte mich. Zwei zittrige Kringel bildeten die Augen, und ich konnte das Rezept nicht ergründen, nach dem man vorgeht, um kreisähnliches Gekritzel so wissend und so unendlich traurig sehen und aussehen zu lassen.
Im Übrigen waren die Titel oft spannender als die Inhalte. Während mich kleine Schildchen mit dem Hinweis ‚Ohne Titel, Nummer 17‘ in Galerien immer tief enttäuschen und ich das dazugehörige Bild sofort zu hassen beginne, kam ich hier überreichlich auf meine Kosten. Die Zeichnungen hießen einfach zu interessant! Ich habe mir keinen Titel auswendig gemerkt, aber sie waren alle gestaltet nach dem Schema: ‚Komm, o holde Mutter – Firlefanz, plemplem‘.
Auch die Besucher waren nicht ohne. Am meisten beeindruckte mich eine sehr lange Dame, die strubbelige, welkrote Haare über ihrem Putzfrauengesicht trug, aber dann, vom Hals an abwärts, befand sie sich auf der Wohltätigkeitsgala zur Verleihung des Goldenen Hutes für den bemitleidenswertesten Bettler des Jahres: nichts als schwarz glitzernde Pailletten bis hin zu den modisch klobigen Schuhen. – Dass sich so ein Gewand vor zwanzig Uhr aus dem Schrank holen lässt!
Titelbild (Gebäude am Kurfürstendamm/Ecke Uhlandstraße/Kulturdenkmal) mit Material von Fridolin freudenfett (Peter Kuley)/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
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Wieder mal: Respekt für Dorothee’s Lebensfreude!
Umziehen würde ich in dem Alter nicht mehr wollen. Aber allein so ein Gedankenspiel kann ja Energie geben.
Sie war so unerträglich und so wichtig!
Interessant. Ich mag die Titel von solchen Zeichnungen oder Bildern oft nicht besonders. Weil sie mir zu oft vorschreiben, was ich auf dem Bild sehen soll. Ich vertrau lieber meinen eigenen Sinnen.
Titel verraten mir, was der Künstler denkt, dass er denkt. Sie auch.
Hahaha
Dreißigtausend für eine Zeichnung 😳
Das ist tatsächlich gar nicht so ungewöhnlich wenn man in der Kunstwelt einen Namen hat.
Bei Preisen von 30.000€ muss man aber schon einen ziemlich großen Namen haben. Das ist doch deutlich über dem Durchschnitt für eine Zeichnung.
Für Dürer gibt’s mehr.
Hahaha! Wer zu spät kommt, den bestraft der Ständer! Herrlich 🙂
Genau deshalb nehme ich meinem Mantel meistens doch mit an den Tisch. Ich traue da weder dem Ständer, noch den Leuten die später daran herumreißen.
Aber Mäntel am Tisch sehen immer aus wie Wartesaal-Lokal. In einer gehobenen Gaststätte stört mich das.
Eigentlich sollte es ja dort auch eine richtige Garderobe geben. Mit Bügeln, nicht nur ein paar gedrängte Haken.
Ich kenne noch superfeine Lokale mit Gardrobière. Früher half sie den abgefütterten Herrschaften sogar in die Mäntel. Heute begnügt sie sich mit Entgegennahme eines Trinkgeldes.
Wodurch zeichnet sich denn ein Putzfrauengesicht aus?
Es ist staubgewischt.
In Altenburg ist Altenbourg wohl aufgewachsen. Daher der Namenswechsel.
Das klingt ja auch ziemlich logisch. Das O macht das Ganze halt noch eine Runde weltmännischer.
Firlefanz, plemplem eben.