Jeder weiß, wie süß ich mit Menschen bin, aber wenn Leute pomadig auf der Rolltreppe rumstehen, weil es ja sowieso abwärtsgeht, dann kann ich wirklich rabiat werden. Solchen passiven Individuen würde ich sofort die Sozialhilfe streichen; dass sie selber Geld verdienen, halte ich für ausgeschlossen. In meinem misslich langen Leben habe ich viele unterschiedliche Charaktere, auch schwierigste, zu begreifen und zu respektieren gelernt, aber für Menschen, die auf Rolltreppen tatenlos ausharren, fehlt mir jedes Verständnis (Gehbehinderte mit Attest ausgenommen). Im U-Bahn-Wagen zu sitzen, statt den Gang entlangzulaufen, halte ich dagegen für legitim, egal ob man einen gültigen Fahrausweis hat oder nicht. Nur darf auch diese Zeit keine vergeudete sein. Ich halte es für sinnvoll, mindestens zwei Dinge auf einmal zu tun. Wenn ich ins Waschbecken pinkle, sehe ich immer zu, mich gleichzeitig zu rasieren; und selbst wenn ich träume, versuche ich außerdem zu sitzen, besser noch zu liegen.
Meine vorrangige Tätigkeit bestand darin, die Strecke vom Wittenbergplatz bis Stadtmitte auszusitzen. Zu lesen und zu schreiben hatte ich nichts, singen tat schon jemand anderes, so wählte ich das Nachdenken über die deutsche (Wieder-?)Vereinigung als Nebenbeschäftigung. Jetzt, da sie fast zehn Jahre her ist, nehmen die Schuldzuweisungen ja kein Ende. Kohl brüstet sich und andere ihn auch. Und er auch Gorbatschow, Bush und Mitterrand. Dann wird sich gezankt, wer dagegen war, wobei da nur Maggie Thatcher über jeden Zweifel erhaben ist. Und wenn das Gezeter seinen Höhepunkt erreicht hat, dann vertragen sich alle unter dem Waffenstillstand: Es war das Volk der DDR. Das Volk wählte die Freiheit. Gorbatschow ließ es großmütig gehen, und Kohl errang durch staatsmännische Kühnheit den Sieg. – Vaterlandsliebe? Großherzigkeit? Diplomatie? Na gut, ein Zehntel vielleicht. Die restlichen neun Zehntel des Glücks, die nach Schopenhauer die Gesundheit ausmachen, waren in diesem Fall die Armut: Das Sowjetreich und alle seine Satelliten standen kurz vor dem Bankrott. Und die Leipziger wollten lieber reich sein als sozialistisch; oder kapitalistisch oder sonst was. Freiheitliche Grundordnung? Herrschaft der Arbeiterklasse? Nebbich! Mallorca und Mercedes. Die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, ja sogar das Baltikum – waren sie ohne Helmut Kohl noch kremlhörig? Wie hätte denn eine selbstständige DDR aussehen sollen, mit passierbaren Grenzen und schwacher Währung? Ich habe das wenig patriotische Transparent in guter Erinnerung: ‚Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr!‘ – Die Radikalkur des Sozialismus von der Wiege bis zur Bahre hat nicht einmal in der dritten Generation faschistische Befindlichkeit ausrotten können. Entweder die Kur war falsch oder ein Teil der Deutschen ist eben so. Man sagt, wenn es den Menschen zu gut geht, dann werden sie herzlos, darum war es ja auch so herrlich in der DDR. Man erklärt faschistische Tendenzen mit Arbeitslosigkeit; da entwickeln sich Hass und Neid: Die Menschen werden herzlos. Ob es den Menschen nun gut geht oder schlecht – herzlos werden sie offenbar so oder so.
Ich stieg aus dem Untergrund zur Mohrenstraße herauf. Unter meinen Füßen wogten die Stufen der Rolltreppe wie Wellen. Die Rolltreppen der Piccadilly Line in Londons Zentrum und die Rolltreppen der Metro in Moskau sind so hoffnungslos lang, man kann kaum ihr Ende sehen. Da gibt man einfach auf. Man lässt sich gehen und lässt sich fahren. Manchmal ist es herrlich, so ein Ameisenprinz zu sein, rumzuliegen und sich füttern zu lassen. Da mögen ruhig eines Tages die verhärmten Schwestern kommen, einen lustlos umbringen und anschließend ihr trostloses Arbeitsleben weiterführen.
So ganz fertig war ich noch nicht, als Uwe und Thommy klingelten, aber fast – die Zeitschriften waren schon ungeordnet gefächert und das Kissen absichtslos im Sofa drapiert; sogar mein Haar war, selbst am Hinterkopf, beinahe trocken, fing allerdings – hetzebedingt – am Ansatz bereits an, schweißfeucht zu werden. Nur die Hose galt es noch zu schließen, was ich auf dem Weg zum Fahrstuhl tun konnte, im Fahrstuhl hätte ich dann genügend Zeit, mir ein passendes Loch für den Dorn der Gürtelschnalle zu suchen. Bis ich an der Haustür angelangt wäre, würde mein Kopfhaar ganz getrocknet und meine Stirn schweißnass sein. Lässt man sich in dieser Situation dazu hinreißen, die Hand als Trockentuch zu missbrauchen, dann wird die Innenfläche ägyptisch braun und das Hemd eines zur Begrüßung umarmten Besuchers so, dass eine kleinliche Wäscherei anmerkt: ‚An der Schulter stark verschmutzt.‘
Uwe und Thommy standen mit drei Videokassetten und ihrer Kontakterin direkt vor meiner Tür; ich rannte sie fast um, mit offener Hose. Ein Hausgast hatte ihnen unten bereits aufgetan. Umarmen konnte ich sie erst, nachdem ich meine Hose geschlossen hatte. Inzwischen hatte ich durch Fasten und Entwässern so weit abgenommen, dass ich ein bisher ungewohntes Loch für meine Gürtelschnalle suchen musste, wobei ich krampfhaft ungezwungen auf sie einplauderte.
Es gab beutellosen Tee mit ungespritzter Zitrone zu Lenôtre-Patisserie. Wir sahen Videos, nachdem mir die Frau am Empfang kompetenterweise telefonisch erklären konnte, dass die Zahl ‚12‘ der Fernbedienung den Videorekorder so programmiert, dass die Aufzeichnung auf dem Fernsehbildschirm erscheint. Ich mochte die Filme, besonders den brandneuen über das Jüdische Museum, und so schöpfte ich auch wieder Hoffnung für das Bernstein-Projekt, dessen verbale Darstellung mir die Haare in die Höhe getrieben hatte. Ich sprach darüber wie auf Eiern, aber kompromisslos. Verletzen wollte ich nicht, aber verändern musste ich Seite für Seite: inhaltlich um Bernsteins willen, programmatisch um der Zuschauer willen und stilistisch um der Geldgeber willen. Die drei waren meinen Vorschlägen gegenüber aufgeschlossen, und so hatte ich das Gefühl, den richtigen Ton zu treffen.
Um halb acht verabschiedete sich die Kontakterin zu einem nächsten Termin: Uwe, Thommy und ich gingen über den Gendarmenmarkt zum ‚Trentasei‘, wo ich einen der beiden Fenstertische bestellt hatte. Für draußen war es, wie ich gestern bei der Reservierung schon geahnt hatte, zu kühl: Mit genügend Einbildungskraft sah man es an der Art, wie auf dem gedeckten Bürgersteig die weniger abgebrühten Open-Air-Gäste ihr Besteck umklammerten. So möchte man Groggläser halten: Die klammen Hände begrüßen die Wärme, die Finger fürchten, sich zu verbrennen. Die Kehle wartet auf den nächsten Schluck. Sie lässt ihn passieren, ohne Kontrolle; er fährt die Straße hinab in den Magen wie ein Flüchtling. Die Hitze bleibt in der Brust, aber die Ware erreicht schrankenlos ihr Ziel. Das Blut dealt die Droge ans Hirn. Die Leber zahlt unauffällig, und der ganze Körper glaubt: befreit! Wenn man Freiheit fühlt, dann ist sie da. Egal, was daraus wird. Sah Bernstein das nicht genauso? – Genau so. Wir beendeten unsere Manuskript-Durchsicht nach der Vorspeise. Danach ließen wir den Themen freien Lauf.
In diesen Aufzeichnungen gebe ich selten den Fortgang von Gesprächen preis. Nicht aus Furcht, dass dadurch der Strom meiner Geschwätzigkeit ins Stocken geriete, sondern weil solche Dialoge eine andere Darstellungsform erfordern: das Protokoll oder die Bühne.
Ich meine, nach unserem Essen ins Bett gegangen zu sein. Aber wenn Uwe und Thommy behaupten würden, wir wären danach noch auf einen Schluck am Käthe-Kollwitz-Platz oder am Nabel der Welt gewesen, könnte ich nicht guten Gewissens widersprechen. Eintragungen in meinem Kalender gibt es nicht, nur die vage Erinnerung, dass ich mich aus junger Freundschaft womöglich am Weinkonsum beteiligt haben mag.
Es ist so sehr Bedürfnis wie Therapie für mich, Menschen zu treffen, die mehr wollen als ihre Bequemlichkeit, und die mehr von mir wollen als ihre Bequemlichkeit. Wenn ich mich nicht bald von dem Zwang befreie, in meiner Umgebung immer der geistig und körperlich Fitteste sein zu müssen, ohne dafür auch nur das Geringste tun zu wollen, dann wird mein Elternhaus bald der einzig mögliche Aufenthaltsort für mich sein. Besser wäre es natürlich, ich befreite mich von dem Zwang und entwickelte mich weiter: zum geistig und körperlich Abgeschlafftesten unter lauter brillanten Newcomern. Das würde ich mir ein paar Tage lang ansehen, auch ohne Spiegel, dann könnten Lammfromm & Vogel mit dem ganzen Plüsch aus meinem Kopf abflattern und Wolfswild & Adler würden die Neuausstattung liefern. Hoffentlich, hoffentlich! Nicht auszudenken, wenn ich gleich weise würde, ohne noch mal zugehackt zu haben.
Titelbild mit Material von Berthold Werner/Wikimedia Commons (Ausschnitt), CC BY-SA 3.0
Ob man in ein paar Jahren einen Artikel mit dem Titel „Warum Russland unterging“ lesen wird? Oder wird es genau anders herum kommen?
Zu meinen Lebzeiten wird es wohl Russland noch geben, und sei es als Nordwestchina.
Vor allem bei Menschen, die am Ende der Rolltreppe immer noch regungslos ausharren und den Weg weiterhin blockieren, bei denen könnte ich schon mal ausrasten.
Kommt besonders gut mit Koffern in den Händen.
Haha, ja manchmal denkt man wirklich, die Leute würden zum ersten Mal in ihrem Leben eine Rolltreppe benutzen 😂
Die Gedanken sind eben immer vorn, nicht hinten: Wo bin ich? Wer holt mich ab? Nach mir die Sintflut oder wenigstens der Stau.
Bequemlichkeit als Lebenskonzept erinnert mich immer an die Leute aus meiner Geburtsstadt. Dorf müsste man besser sagen. Bei manchen verstehe ich das voll und ganz, aber viele scheinen mir ein wenig zu versauern.
Besser versauen in der Großstadt.
Mehr wollen als Bequemlichkeit, ja bitte! Ansonsten ist’s doch auch so öde.
Also, es gibt Situationen, da will ich es bloß bequem haben, sonst nichts. Auf einem Langstreckenflug zum Beispiel brauche ich weder Gewitter noch Motorschaden. Vielleicht eine Frage des Alters.
Ich freue mich erstmal über alles was bequem ist. Die Entscheidung, dass man es sich selbst nicht immer zu bequem macht, bleibt ja dann weiter meine eigene. Komfort und Komfortzone müssen ja nicht immer synchron sein.
Lenôtre hat mich übrigens sehr enttäuscht. Ich dachte immer die haben wirklich die allerfeinsten französische Backwaren in Berlin. Aber ich fand die Croissants und Éclairs nicht besser als guten Durchschnitt.
In Paris schmeckt es natürlich noch einmal besser. Aber die Lebensetage im KaDeWe mag ich trotzdem sehr.
Das Auge und das Image essen mit.
Ich war vor ein paar Monaten wieder einmal in Berlin und war doch erstaunt wie sehr sich die Etage in den letzten Jahren verändert hat. Irgendwie ist sie auch jünger und hipper geworden.
Was bedeutet das für den Gaumen?
Der Kaffee war besser 😉 Durch die anderen Sachen habe ich mich nicht durchprobiert.
Die Babynahrung ist bestimmt Hipp.
Werden die Menschen wirklich herzlos? Ich glaube sie verlieren einfach Einfühlungsvermögen und Verständnis.
Das nenne ich Herzlosigkeit.
Ich würde vielleicht einfach sagen, sie verlieren die Perspektive.
Ohne Perspektive ist alles eindimensional. Da kommt Herzlichkeit vielleicht nicht vor.