Am Nachmittag fuhren Silke und Rafał in den nächsten Ort: Santa Margherita. Die Küstenstraße führt danach noch bis Portofino, dann ist Schluss. Das ist das Reizvolle an Portofino – kein Durchgangsverkehr. Zum ersten Mal war ich da 1966 gewesen: die Reise mit meiner Mutter, deren beste Freundin Erika und deren Sohn Hartmut. Hitler, selbst klein und dunkelhaarig, hätte seine Freude an Hartmut gehabt: groß, blond, germanisch; also das Gegenteil von dem, was mir Spaß macht. Nach der Reise war auch Erika nicht mehr Irenes beste Freundin. Wir werden im Laufe dieses – wie üblich sehr weit herholenden – Berichts noch ausführlicher auf 1966 zurückgreifen. Ein Geschäftspartner meines Vaters hatte Irene Portofino als Geheimtipp verraten. Inzwischen hat sich dieser Tipp allerdings rumgesprochen, wie wir vor zwei Jahren feststellen mussten (‚Fast am Ziel‘ – ‚#88 – Ö‘) Mit Roland hatte ich 1976 sogar in Portofino übernachtet. Bis heute gibt es im Ort selbst kein Grandhotel – nicht genügend Platz dafür. Prof. Dr. Quadbeck-Seeger wäre zufrieden gewesen. Da ist Rapallo schon eine andere Nummer.
Fotos (7): Privatarchiv H. R.
1911 kam raus, dass Rapallo bereits um 700 vor Jesus besiedelt war: Ein etruskisches Grab war gefunden worden. Das nächste interessante Datum ist der achte September 1494. Da wurde Rapallo gestürmt: Die Armee Karls VIII. ‚metzelte alle Männer, Frauen und Kinder nieder‘1. 1815 wurde Rapallo dem Königreich Sardinien zugeteilt: Beschluss auf dem Wiener Kongress. Da hatten die Vertreter aus zweihundert europäischen Staaten, Herrschaften, Körperschaften und Städten unsere Reiseroute schon mal vorweggenommen. Wichtig wurde es dann erst wieder 1920. Da einigten sich die Italiener in Rapallo mit dem (Noch-)Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen über Grenzfragen. Bekam Istrien nicht gut. Der Glanz war dahin. Der 16. April 1922 machte Weltgeschichte. Es wurde nicht der 10 000. Kurgast begrüßt, sondern die Außenminister des Deutschen Reiches und der Russischen Sowjetrepublik ‚vereinbarten einen Verzicht auf Reparationszahlungen und die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen‘2. Die Westmächte waren nicht begeistert. Großbritannien verlangte die Annullierung des Vertrages, Frankreich besetzte das Ruhrgebiet. Schlimme Sache. Da fuhren Silke und Rafał dann doch lieber nach Santa Margherita, um sich Modisches zu kaufen.
1–2 Quelle: Wikipedia
Fotos (7): Privatarchiv H. R.
Ich blieb in meinem Zimmer. Unterwegs finde ich mich immer lästig. Früher bin ich so schnell durch die Straßen gerannt, dass es mühsam war, mit mir Schritt zu halten. Jetzt halte ich mit meiner trödeligen Gehweise alle auf, die weiterwollen.
Fotos (5): Privatarchiv H. R.
Lässt sich nicht ändern. Also lese ich wieder ein bisschen und ich denke wieder ein bisschen. So lenke ich mich ab, statt meinen Zustand zu beklagen – bei schöner Aussicht, wenn man den Kran ausblendet.
Fotos (6): Privatarchiv H. R.
Zufrieden zu sein ist für jemanden, der glücklich sein will, schon ein Kompromiss. Zufriedenheit sorgt für Stillstand. Man muss sich also überlegen, ob man lieber zufrieden sein möchte oder weiterkommen will. Etwas spitzfindiger: lieber weiterkommen, um dann doch die Zufriedenheit zu erreichen, oder das anstreben, was ich mit zwanzig in einem Gedicht formuliert habe: ‚Ich bin zufrieden mit der Unzufriedenheit‘. Fünfzehn Jahre später schrieb ich eine Folge von Erzählungen, an deren Anfang – gewissermaßen als Motto – die Frage steht: Wann wäre ich glücklich? Die Antwort ist der Titel des Buches: ‚Niemals und auch dann nicht‘. Faust zu Mephisto:
„Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zu Grunde gehn!“3
Wer es sich in der Gemütlichkeit bequem macht, der kann sich zum Teufel scheren, meint Goethe. Weiter, immer weiter? Rastlos? Wie weit geht es – wohin führt das? Ist das ein Zwang? Zwang lehne ich ab. Ich möchte ausschließlich zu Dingen gezwungen werden, die ich sowieso tun würde.
3Quelle: Johann Wolfgang von Goethe: ‚Faust – Der Tragödie erster Teil‘/Wikisource
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
‚Die Grenzen des Wachstums‘4 erschien 1972: Gerade eben noch sei es möglich, Wachstumsvoraussetzungen zu schaffen, um ein ökologisches und wirtschaftliches Gleichgewicht zu erreichen. Das hörte damals niemand gern. Der Kapitalismus funktioniert nur mit ständigem Wachstum. Jedes Jahr muss besser werden als das vorige. Stagnation bedeutet Abstieg – weniger Arbeit, weniger Geld, sinkender Lebensstandard. Wieso eigentlich? Gleich nach der Veröffentlichung des Textes gab es heftige Kritik. Henry Wallich, Professor an der Yale University, bezeichnete ‚Die Grenzen des Wachstums‘ in ‚Newsweek‘ als ‚unverantwortlichen Unfug‘.5 Das Katastrophenszenario solle nur die politischen Zukunftsvisionen seiner Verfasser propagieren. Ich erinnere mich, noch 2011 las ich, dass fast nichts, was der Club of Rome vorausgesagt hätte, eingetroffen sei. Aber inzwischen sind ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Treibhausgas-Emission‘ Schlagwörter, fast Totschlagwörter geworden. Greta Thunberg protestiert seit dem Sommer 2018. Seit März gibt es ‚Fridays for Future‘. Da sagt keiner der Teilnehmer: „Verweile doch, du bist so schön!“ Alles soll sich ändern. Wir sollen uns ändern. Ob ich mir das, wenn ich jung wäre oder Kinder hätte, mehr zu Herzen nähme? Selbst ein anderes Leben zu führen und das auch von allen anderen zu verlangen, statt dass ich hier im Grandhotel sitze, täglich frisch gewaschene Handtücher bekomme und Prosecco schlürfe?
4 Autoren der Studie: Dennis und Donella Meadows u. a., i. A. des Club of Rome
5Quelle: Wikipedia
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Silke und Rafał kamen zurück: neue Schuhe, neue Jacke, neues Hemd. Das Abendessen fand im Hotel statt: im ‚Ristorante Lord Byron‘. Wieder mal mehr Kellner als Gäste. Speisen und Ausblick waren hervorragend, und für die Einsamkeit im Speisesaal konnten die Ober ja nichts.
Foto oben: Privatarchiv H. R. | Foto unten: stu_spivack/Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0
Fotos oben (2): Privatarchiv H. R.
Am nächsten Tag wurde auch ich nach Santa Margherita verbracht zwecks Imbiss-Einnahme. Nichts geplant zu haben, sondern dem Augenschein zu vertrauen, ist spannend. Früher habe ich das oft gemacht und meistens war ich erfolgreich. Ich sah einem Lokal an, ob es gut war, glaubte ich. Nicht das Schickste, sondern das Beste wollte ich. Es konnte ganz unscheinbar sein, aber es hatte Flair. Witternd durch eine Stadt zu laufen – Appetit auf Essen, auf Menschen, auf Sex. Das war erregend. Aber selbst ohne Schlaganfall wäre ich jetzt dafür vielleicht zu alt. Tun, was man kann. Lassen, was nicht mehr geht.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Wir saßen an der Straße. Hinter dem Gesträuch auf der gegenüberliegenden Seite ahnte man das Meer. An den anderen Tischen vermutete ich Touristen. Reguläre Urlaubsstimmung, nicht unangenehm. Ganz freundlich. Ein bisschen Musik, ein bisschen Brot. Stimmen, die leise redeten. Dann wieder das Hotel. Nachmittag.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Am Abend das ‚Ristorante Focaccia in Riviera‘. Fast am Wasser und gut besucht von Einheimischen, immer eine Empfehlung. Vor dem Fenster fand eine Art Danksagung an Gott statt, weil die Menschen bei dem Unwetter so glimpflich davongekommen waren. Hätte Gott das mit dem Unwetter gleich sein gelassen, dann hätte er sich nachher nicht um die Leute bemühen müssen, aber vielleicht hatte er sich schon auf die vielstimmigen Gebete gefreut und hinter einer Wolke ungeduldig gewartet, wann es denn nun losgeht. Wie ein Fußballfan vor der Fernsehübertragung.
Fotos (6): Privatarchiv H. R.
Auf der Rückfahrt hatten wir endlich mal Glück. Die Uferstraße war wegen Aufräumarbeiten voll gesperrt …
Aber erst unmittelbar hinter unserer Hoteleinfahrt.
Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Flamingo Images/Shutterstock (Geschäftsmann auf Treppe), Olga Gavrilova/ Shutterstock (Portofino)
Der verpixelte Kellner 😂 War er so gut oder so schlecht?
Ich war stinksauer. Meine Agentur bestand darauf. Sie sehen mich immer schon wegen Verletzung von Urheber- und Persönlichkeitsrechten im Straflager schmoren. Das schmeichelt mir natürlich. Hat mein Blog schon den Bekanntheitsgrad der New York Times? Dann muss ich natürlich aufpassen.
Sich lästig fühlen ist schlimm. Aber will man denn auf so einer Reise überhaupt voran kommen? Gerade das Verweilen oder langsame erkunden ist doch schön.
Ich war immer der Schnellste: Liegen oder Laufen. Schleichen, nicht, weil man es will, sondern weil man es muss, ist ärgerlich.
Genau, sich Zeit lassen ist super wenn man gerade in der Stimmung dazu ist. Sich Zeit lassen weil man sich eben Zeit lassen muss, das ist weniger erfreulich. Da kann man nicht drumherum reden.
Silkes roten Anzug habe ich im letzten Teil der Blase schon bewundert. Toll!
Wie immer. Diese Abstecher um „Modisches zu kaufen“ lohnen sich offensichtlich.
… wenn man *Geschmack hat.
*guten
Bei schlechtem Geschmack macht man sich immerhin selbst eine Freude. Bei gutem hat es den Vorteil auch seinem Umfeld etwas Gutes zu tun.
Wenn das Umfeld auch einen schlechten Geschmack hat, passt es wieder.
Dabei ist das Faust-Zitat doch eigentlich eine Aufforderung im Jetzt zu sein…
Das sehe ich anders. Im Moment verweilen heisst ja, dass man nicht weiter vorangeht. Man ist also ziemlich schnell in der Vergangenheit und nicht mehr in der Gegenwart.
Im Jetzt verharren zu wollen, ohne den Drang weiterzukommen – das hält Faust seinem Selbstverständnis nach für so unwahrscheinlich, dass er dann auch gleich zum Teufel gehen kann.
Faust war mir aus der Reihe der Schul-Pflichtlektüren immer das liebste Buch. Das hat allein sprachlich richtig Spaß gemacht.
Den Drang nach Wissen hat der nicht-christliche Goethe wunderbar herausgearbeitet. Die Liaison mit dem 13-jährigen Gretchen finde ich voll daneben. Screw you, Göhte!
Nun ja, der echte Faust hat so um 1500 gelebt. Da hat man wohl eine Spur früher geheiratet als heute. Romeo und Julia waren ja ebenfalls in dem Alter.
Tja, der eine zwingt sich zur Rastlosigkeit, der andere zur Gemütlichkeit.
Solange man sich selber zwingt und nicht andere das tun, ist das nicht zu beanstanden, wenn auch nicht immer durchzuhalten.
Und in beiden Fällen ist es eine wunderbare Einsicht, wenn man merkt, dass man sich gar nicht immer in die Gegenrichtung zwingen muss.
Kleine Shopping-Touren, am Abend ein leckeres Essen, zwischendrin die Stadt erkunden … so gefällt mir Urlaub auch.
So gefällt mir sogar das Leben ohne Urlaub.
Das stimmt. So sehen meine Wochenenden zuhause auch öfters aus.
‚Wann wäre ich glücklich‘ ist immer wieder eine richtig interessante Frage. Meine eigene Antwort bzw. Reaktion ist erst einmal meine eigenen Erwartungen herunterzuschrauben.
Ich stelle mir die Frage gar nicht so richtig. Vielleicht ist das ein Geheimnis um zumindest nicht unglücklich zu sein 😉
Tja, glücklich wer sich keine Gedanken um das glücklich sein machen muss.
Der vollständige Titel des Buches lautet:
Wann wären wir wahrhaft glücklich?
NIEMALS UND AUCH DANN NICHT
Die drei blog-geeigneten Kapitel „Judas“ / „Innocentiapark“ und „Die Hostie“ sind hier schon vertreten.
Ach ja, die Titel kommen mir aus den letzten Monaten bekannt vor 😉
Reguläre Urlaubsstimmung, und dann auch noch ohne offensichtliche Touristen, ist wunderbar. Fehlt mir gerade.
Der Sommer ist bisher ja etwas verregnet. Das trübt die Urlaubsstimmung natürlich ein wenig. Auf der anderen Seite gefällt mir ganz gut, dass weniger Touristen unterwegs sind.
Weniger nervige Touristen auf der Straße und in den Öffentlichen, aber auch weniger Einnahmen für den Einzelhandel und die Tourismusbranche. Es hat alles sein Gutes und sein Schlechtes.
Bei mir in der Nachbarschaft haben einige kleine Geschäfte und Bars schließen müssen. Das hat mich doch sehr erschreckt.
Ab August sind wir wieder in Meran. Hoffentlich ohne schlimme Überraschungen von geschlossenen Läden und Lokalen. Tourist bin ich dort nicht. Ätsch, ich bin ja da Zuhause!
Wow, seit Sommer 2018 ist Great bereits aktiv und in den Nachrichten? Das hätte ich nicht gedacht. Mehr Bewusstsein für den Klimawandel gibt es definitiv, aber der letzte Anstoss um wirklich etwas zu ändern fehlt mir auch. Vielleicht braucht es dafür wirklich eigene Kinder.
Ohne eigene Not ist Wandel immer schwierig. Deshalb kommt der Kampf gegen den Klimawandel auch so schleppend in Gang. Die Gefahr kennt man ja seit locker 30-40 Jahren…