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2. Berlin-Reise / 2000

#2.11 | So wild wie möglich

Die Linden sind nicht die Via Appia, dafür sind sie viel belebter und beliebter. Der brutal zugepflasterte Mittelstreifen ist wieder manierlich hergerichtet, mit Kies und Bänken. So wie es früher war, las ich. Heute weiß man ja nie: Was ist historisch, was ist postmodern, was ist Fake? Bis 1989 war diese kümmerliche, kaum befahrene und begangene Sackgasse wahrlich das Schaufenster der DDR. Jetzt gerade sei ‚Unter den Linden‘ aufgenommen worden in den ‚Kreis der schönsten Straßen der Welt‘, las ich.
An der Friedrichstraße beginnt der klassizistische Teil, wenn man das empörende Eckhaus ‚Hotel Unter den Linden‘ (*2006 Gott sei Dank endlich abgerissen!) vergisst. Humboldt-Universität, Staatsoper, Neue Wache, Kronprinzenpalais, Zeughaus im Plastikbeutel, um jenseits der Schlossbrücke – schauderhafte Dramaturgie! – nach Schinkels ehrwürdig strengen Gebäuden im ernst gemeinten Witz des Palastes der Republik (*Auch 2006 abgerissen, aber ganz erst 2008. Jetzt: drei Seiten Schloss, eine Seite nicht.) zu enden. Allein schon der Name! ‚Palast der Republik‘ – diese Wortzusammenstellung ergibt genauso viel Sinn wie ‚Bruchbude des Adels‘ oder ‚Kathedrale der Atheisten‘. Angewidert machten wir kehrt.
Zumindest akustisch kamen wir rasch zu Anspruchsreicherem: Das ‚Feldschlösschen‘ ließ ‚Beliebte Melodien‘ über Lautsprecher erschallen. Die Lärmbelästigung am Gendarmenmarkt war enorm. Nicht auszudenken, dass es Menschen gab, die Geld zahlten, um von der Tribüne aus auch noch in die aufgerissenen Münder zu starren. Verständnislos flohen wir heim.
Genauso wenig, wie man auf Vorrat Licht anlassen kann, um gewappnet zu sein, falls morgen der Strom ausfällt, kann man, ohne müde zu sein, vorschlafen. Wir versuchten es trotzdem, denn diese Samstagnacht sollte sämtliche Hunde wecken, die je in uns geschlummert hatten.
Nachdem Giuseppe den obersten Kragenknopf geöffnet hatte und ich mit Jeans und Kontaktlinsen wie üblich noch weitergegangen war, fletschten die wilden Bestien in mir noch immer nicht die Zähne. Aber darauf ließ sich nun länger nicht mehr warten; ich zog mit Giuseppe westwärts: Linie 2 bis Wittenbergplatz.
Zehn Uhr. Eingeweihte wissen, dass in etwa drei Stunden das Nachtleben toben wird. Giuseppe erlebt den Kurfürstendamm im Dämmern. Zum ersten Mal. So viel Neon mit Nutten hat er zu Hause in Mason Vicentino nie gesehen. Nutten sind neu hier. Noch mehr Fleisch gibt es in den argentinischen Steakhäusern. Die Afghanen packen ihren Schmuck zusammen, die Pflastermaler ihre Kreide.
Bo würde jetzt unweigerlich fragen: „Vielleicht könnte man eine Kleinigkeit essen?“
„Vielleicht könnten wir eine Kleinigkeit essen“, sage ich auf Italienisch, und ich sage nicht geziert ‚piccolezza‘, sondern ‚piccola cosa‘. Da sagt Giuseppe niemals ‚no‘. Für die noch verbleibende Zeit mit ihm habe ich mir vorgenommen, ihm alles zu zeigen, was mir wichtig ist. Meine eigenen Neu-Entdeckungen sollen kommen, wenn er weg ist.
Im weitesten Sinne gehört auch diese Gastwirtschaft in der Meinekestraße zu den wichtigen Dingen. Da habe ich schon in den Siebzigerjahren vor der Tür gesessen und mit Weggefährten Schultheiß getrunken. Eine stimmungsvolle Anknüpfung an diese Gepflogenheit verbietet der mit Macht einsetzende Regen. Drinnen ist alles genauso, wie sich Auswärtige eine typische Berliner Kneipe vorstellen: Altes Holz, schummerig, hohe Biergläser, die Anzahl der Mollen wird mit Kugelschreiber auf dem Deckel vermerkt. Wieso kommen Bierdeckel nicht auf das Glas, sondern drunter? Eine lange Schnapstheke mit so ausgefallenen Spezialitäten wie Greifswalder Kümmel und Breslauer Doppelkorn. Das will natürlich alles probiert werden, und auch Giuseppe ist kein Spielverderber. Saure Gurke ist obligatorisch. Wenn man nicht an der Bar mit Fassbierausschank lümmelt, sitzt man auf hohen Bänken in Nischen vor hohen Tischen. So habe ich über die Jahre hin schon manche Seite vollgekritzelt, seit es ‚Mampe‘ nicht mehr gibt. Bei ‚Mampe‘ waren die Kellner noch älter als die Hausbesitzerinnen, die dort mit Ku’damm-Blick ihre Mieteinnahmen versoffen und Ragout fin aßen. Dabei behielten sie den Hut auf. Dass es diese Institution nicht mehr gibt, hängt wohl damit zusammen, dass die Kellner, gefolgt von der Kundschaft, ab Mitte der Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts nach und nach den Löffel abgegeben haben. Die Kundschaft in unserer Meineke-Kneipe ist das Einzige, was der Auswärtige beargwöhnen würde: keine Bierkutscher und Eckensteher, sondern Publikum, das aussieht, als käme es gerade aus dem Theater und wolle statt ins ‚Kempinski‘-Eck ganz salopp mal in eine deftige Berliner Kneipe gehen.
Aber da, wo die Eckensteher verkehren, hätte ich mich auch kaum getraut, das zu bestellen, was sowieso nicht auf der Karte gestanden hätte: Tatar. Eine sonnabendliche Tradition im Hause Rinke und das Einzige, was ich glaube, runterkriegen zu können. Ob ich zum Rohköstler werde? Hackepeter, Tatar und Sushi, gebeizt in Alkohol. Giuseppe nimmt Brathering als Vorspeise und vier Fünftel meines Tatars als Hauptgericht. Ich bestelle zum Nachtisch einen Pommerschen Schlehengeist. Bald hab’ ich die ehemals deutschen Ostgebiete durch. Ich beende meine Wanderung durch das alte Preußen mit einem Danziger Goldwasser und verzichte auf den Tilsiter Käse als Abschluss. Dazu reden wir angeregt: Italienisch.

Auf der Straße ist es nass, aber es regnet nicht mehr. Wir gehen nebeneinander durch fremdes Leben, zurück zum Wittenbergplatz. Ich gehe den Bruchteil eines Schrittes vor, denn ich kenne den Weg. Aber das Ziel kenne ich nicht mehr. In ‚Andreas’ Kneipe‘ ist nichts so, wie es sein soll. Keine kessen Sprüche und keine kessen Fotos mehr an den Wänden. Keine kessen Kerle mehr an den Türen. Kein Leder, kein Fummel. Die Bedienung ist schal, die Luft ist tot. Wie ist das möglich? Hier war doch immer Stimmung rund um die Uhr. Was für die einen das letzte Bier war, war für die anderen das erste. Wenn Roland und ich Ostberlin, Tränenpalast und Friedrichstraße hinter uns gelassen hatten, dann sprangen wir am Bahnhof Zoo aus der S-Bahn und rannten hierher, um hier einzutauchen und mit einem entschlossenen Schluck die ganze bedrohliche Trostlosigkeit runterzukippen: ‚Hau weg den Scheiß!‘ Jetzt ist es im Reise-Center des Bahnhofs Friedrichstraße lustiger als hier. Andreas – ein Verlierer der Wende? Hier wollte doch mal jeder was von jedem. Und jetzt? König Trübsal regiert sein aussterbendes Völkchen.

Das Beste am ‚Knast‘ war, dass ich ihn fand. Er war viel voller, aber nicht viel eindrucksvoller als ‚Andreas’ Kneipe‘. Qualm, Gitterstäbe, ausgelaugte Mienen. Alles kam mir so überholt vor. Niemand interessierte sich für die abgenudelten Pornovideos, die von hoch gehängten Bildschirmen flimmerten, oder für die muskulösen Bar-Tender, die die Gläser routiniert durch die Gitterstäbe schoben. Gespräche fanden statt, Stimmung nicht.

Das ‚Toms‘ war wie immer. Aber ich nicht. Das ‚New Dimension‘ ist neu und angesagt. Da gibt es wenigstens keine Vergleichsmöglichkeiten, nur junge Männer, die wissen, was sie wollen. Giuseppe ist auch wie immer, er will nicht wissen, was er will. Wenn er eine Stunde lang an einem Punkt gestanden hat, dann entschließt er sich, noch eine Stunde am selben Punkt stehen zu bleiben. Wenn ich von einem Achterbogen zurückkomme und etwas Komisches sage, lacht er. Wenn mein Glas leer ist, fragt er: „Möchtest du noch …?“ Ich trinke bei solchen Anlässen Wodka. Er schmeckt nach nichts, ist nicht so viel zu schlucken wie Bier, und ich bilde mir ein, er bekommt mir. Wenn mir jemand gefallen würde, wäre ich verloren, aber zum Glück gefällt mir keiner. Bin ich deshalb gefunden? Das, was aus den Lautsprechern kommt, betoniert die Ohren ein, vielleicht den ganzen Körper. Manche zucken wie elektrisiert. Ich habe Stromausfall. Als wir auf der Kleiststraße stehen, ist es vier. Ich bin stolz, so lange durchgehalten zu haben. Giuseppe hält alles aus und ein Taxi an.
Im Fahrstuhl lachen wir über irgendetwas, um nicht ernst sein zu müssen. Das Licht im Schlafzimmer ist auch ohne Lampe fahl. Die Gardinen drücken den Tag weg. „Buona notte!“ – „Buona notte!“ Die wilde Bestie in mir winselt noch mal kurz mit eingekniffenem Schwanz vergilbten Zeiten hinterher, dann schlafen sie und ich ein.

* Nachtrag

Titelgrafik mit Material von: Jochen Teufel/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 (Wittenbergplatz), Theodor Hosemann/Wikimedia Commons, gemeinfrei/public domain (Eckensteher Nante), holwichaikawee/Shutterstock (Gitterstäbe), AlexRoz (Fässer), Valentyn Volkov (Bierglas)

Hanno Rinke Rundbrief

46 Kommentare zu “#2.11 | So wild wie möglich

      1. Der Lederconnaisseur macht dort immer noch die Nacht zum Tag. Alle anderen sind mittlerweile nach Neukölln ausgewandert.

      2. Das tolle an den Geschichten ist ja eh, dass sie einen Blick in das Berlin (oder bei anderer Gelegenheit in eine andere Stadt) zu einer bestimmten Zeit geben. Und vor allem, dass es um das Verhältnis der jeweiligen Protagonisten zu diesen Orten geht. Für alles andere gibt es ja Tripadvisor oder einen guten alten Reiseführer bei Thalia.

  1. Vorschlafen geht ja genauso wenig wie nachschlafen. Einmal verpasst ist verpasst. So liest man es jedenfalls immer wieder.

    1. Macht man das nicht seit Generationen so? Also z.B. am Freitag Abend ausgehen und dafür dann das Wochenende über ausschlafen?

      1. Übermüdung ist natürlich immer ein Angriff aufs Immunsystem und die eigene Leistungsfähigkeit. Aber man erholt sich eben auch recht schnell wieder wenn man dann doch ausschläft. Das kennen wir doch alle.

  2. Als man den Bierdeckel erfunden hat, war eine wichtige Funktion tatsächlich das Abdecken des Glases, damit kein Ungeziefer hineinfällt 😉 Man kann aber auch Bierfilz oder Bierteller sagen. Tut nur niemand mehr.

      1. Wenn sie aus Silber sind, nennt man sie Untersetzer. Oft befindet sich darunter dann kein gescheuerter Tisch, sondern ein Leinentuch. Bei den Wittelsbachern auch mal Damast.

    1. Das macht man ja heute im Biergarten unter Umständen auch noch so. Ich wusste nur nicht, dass der Name auch wirklich daher kommt.

  3. Hahaha, dass mit Rohkost auch Tatar und Sushi gemeint sind, ist mir nicht in den Sinn gekommen. Das macht vielleicht leichter.

      1. Das ist wohl nicht unbedingt die Regel, aber es kommt meiner Erfahrung nach schon oft vor. Andere Positionen werden mit Unverständnis bis Abneigung begegnet. Dialog war gestern.

      2. Schon im siebenköpfigen Elternhaus meines Vaters galt die Regel: Jeder darf reden. Keiner hat Anspruch darauf, dass ihm jemand zuhört.

      1. Apps sind super praktisch, aber doch nicht ganz dasselbe wie mit jemandem in einer Bar oder einem Club zu flirten. Zum Glück geht (wieder) beides.

      1. Finde ich auch. Ich mag zwar dort entlang spazieren wenn ich in Berlin bin, aber man bleibt ja doch nie lange dort. An diesem neuen Museum neben der Staatsoper gibt es mittlerweile ein Café, aber gemütlich ist es dort nicht.

    1. Mir ist die Karl-Marx-Allee ja ehrlich gesagt viel lieber. Schöner ist sie vielleicht nicht. Aber eindrucksvoller. Und weniger Touristen sind dort auch unterwegs.

  4. Der Palast der Republik war scheußlich und trotzdem mochte ich ihn. Manch hübscher Ort ist mir dagegen völlig gleichgültig. Logik spielt bei so etwas ja nicht immer eine Rolle.

      1. Vielleicht kann man ihn gegenüber vom Stadtschloss auch wieder aufbauen. Dann haben die Touristen den direkten Vergleich 😉

      2. Den (nicht besonders ehrwürdigen) Dom abzureißen, fände ich eine etwas übertriebene Maßnahme, um den Vergleich zwischen Schloss und Palast zu ermöglichen und danach per Volksentscheid das unterlegene Modell wieder zu entfernen (eventuell zur Verbringung nach Potsdam statt Garnisonskirche). Demokratisch wäre es natürlich.

      3. Hahaha! Ich warte auf einen entsprechenden Vorschlag der grünen Stadtplaner für die nächste Legislaturperiode 😂

    1. Nicht die Logik zählt, sondern die Erinnerung. Wenn ich in Wuppertal verliebt war und in Venedig beklaut wurde, fällt mein Urteil vielleicht auch anders aus als das im Reiseführer.

      1. Mir geht es mit Frankfurt so. Viele meiner Freunde finden die Stadt zu kühl und zu schroff, aber ich habe so viele gute Erinnerungen dort, dass ich immer wieder gerne hinfahre.

  5. Was für ein lebendiger Blog – sowohl was den eigentlichen Text, aber auch was die Diskussion angeht! Das findet man ja äußerst selten. Ich muss mich gleich einmal einlesen.

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