Kurze Prozesse
Das Flammenschwert
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Das Flammenschwert
#1 Urwald
Scham. Wut – auf alles. Und natürlich Ekel: Der Tümpel, faulig stinkend und überwimmelt von Blut witternden Mücken. Die Katze: halbverwest schon, grün glitzernde Fliegen statt Augen in den Höhlen. Diese fahle Fratze plötzlich über dem Zaun, ihr Gestammel: drohend, drängend, erbärmlich. Das Brombeergestrüpp: Einmal stolperte ich mitten hinein, meine Arme waren verkratzt, die Beine zerschunden.
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#2 Merkwürdige Umstände
In den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts soll es in Hamburg – und in den meisten deutschen Großstädten – ausgedehnte Laubenkolonien gegeben haben, besonders in Niendorf, am Rande des Flugplatzes, aber in dem Jahr, von dem ich rede, neunzehnhundertzweiundneunzig, waren Schrebergärten wahrscheinlich schon seltener als Millionärsvillen.
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#3 Und dann?
Tante Stine gehörte zu den Frauen, die sich eines Tages vor dem Spiegel zu der Einsicht durchquälen: ‚Schön werd’ ich doch nie. Jetzt kann es bloß noch darum gehen, nicht auch noch unscheinbar rumzulaufen‘: eine hasserfüllte Absage an die graue Maus, die in jedem von uns schlummert. Ihr Haar hätte nicht röter sein können, aber wesentlich kürzer.
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#4 In die Nesseln
Als die Sonne schon hochstand, trat Tante Stine wieder aus ihrem Haus. Beim Näherkommen verdeckte sie es fast, jedenfalls aus meiner Sicht. Ihre Lippen hatten als Blickfang eine bemerkenswerte Konkurrenz bekommen: türkisfarbene Lidschatten. Wenn Tante Stine der Meinung war, dass die Entsagungen einer Abmagerungskur nicht genügend durch die gesteigerte Zuneigung ihrer Mitmenschen entlohnt werden würde, so drängte sich zwangsläufig die Frage auf, wessen Gunst sie am späten Vormittag durch diesen Augenputz erringen wollte.
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#5 Glitzernde Bögen
Der altgediente Briefträger kam mit seinem Fahrrad angeschoben. Er nickte mürrisch, es war deutlich zu sehen, daß er Tante Stine nicht mochte. Dafür gab es sicher reichlich Gründe, einer davon war vermutlich ihr ungestümer Garten, ein anderer, daß er bloß ihretwegen den Umweg von der Straße her machen mußte.
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#6 Der Druck im Innern
An diesem schwülen Sommermittag waren wir beeindruckt. Heute weiß ich, dass Tante Stine nicht recht hatte: Die Zunge ist keine Strafe Gottes, sie ist auch nicht die gespaltene Waffe der Schlange – die Zunge ist ja bloß das Ausscheidungsorgan des Hirns, das seine Gedanken loswerden muss.
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#7 Nirgendwo her, nirgendwo hin
Tante Stine setzte sich. Wir blieben andächtig stehen.
Boris überwand seine Hemmungen als Erster: „Was hast du ihm gegeben?“
„Zwanzig Mark“, sagte Tante Stine.
„Zwanzig Mark!“, wiederholte ich ehrfürchtig. „Was kauft er sich dafür?“
„Vergessen“, antwortete Tante Stine.
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#8 Was sich nicht gehört
Unsere Wohngegend war nicht die beste, aber unsere Eltern hatten uns, vielleicht als Gegengewicht zu der Umgebung, zur Höflichkeit erzogen, besonders, wenn wir etwas nicht wollten. ‚Wie sagt man?‘ war die meist gestellte Frage, die wir von unseren Eltern zu hören bekamen – immer wenn wir ein ‚Danke‘ oder ein ‚Bitte‘ vergessen hatten oder wenn wir einen Ausdruck, den wir da draußen in der Welt aufgegabelt hatten, benutzten, der aber nicht in unsere Wohnstube passte.
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#9 Versteckenspielen
Ein Rabe flog krächzend auf, es war, als ob ein Zauber zerbräche. Für wie lange? Für immer? Eintauchen, untertauchen. Manchmal fängt es erst da wirklich an, wo man meint, es sei zu Ende. Was gab es, wofür wir Tante Stine brauchten, wenn wir es wirklich gewollt hätten? Und wofür brauchte sie uns?
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#10 Sonst ist es aus!
Tante Stine streichelte Steffi wieder über das Haar, dann setzte sie sich mit der gebotenen Vorsicht auf ihren Gartenstuhl zurück. „Es ist so schön mit euch“, sagte sie, „und wir haben Wochen vor uns – Wochen!“
––Wir setzten uns zu ihr.
––„Tante Stine!“, Boris sah ihr tief ins Gesicht, „was machst du eigentlich die ganze Zeit, wenn wir nicht da sind?“
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#11 Wut, Scham und Ekel
Vorige Woche bekam ich dann die Nachricht, dass sie sich umgebracht hat. Da hat es mich gepackt. Ich hab losgeheult und konnte gar nicht mehr aufhören. Dabei hatte ich mir vorher die ganze Zeit über eingeredet, sie sei sicher längst tot. Wieso eigentlich? Schuldgefühle? Derart lange noch leben zu müssen! Unter solchen Umständen!
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Der grausame Garten
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Der grausame Garten
#1 Der Mann
Es war heiß, sehr heiß, und er fürchtete, dass er anfangen würde zu schwitzen und dass sein Schweiß als Schwäche gedeutet werden könnte: Angst.
Er war ein Haus weiter gegangen, um seinen Trick dort zu wiederholen. Danach wollte er Schluss machen für heute.
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Der grausame Garten
#2 Der Garten
Er ging die Treppe wieder herunter und folgte dem Weg, der zur rückwärtigen Front des Hauses führte. Zwischen die zerbrochenen Steinplatten hatten sich Gras und Unkraut gedrängt. Er musste gebückt gehen, um den tief herabhängenden Ästen auszuweichen. Dennoch schlugen ihm stachelige Zweige ins Gesicht, Dornen ritzten seine Haut.
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#3 Die Frau
Die Frau, die im Haus auf ihrem Bett lag, war erleichtert, als die Schreie verstummten. Zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie gewartet. Immer hatte sie gehofft, er würde zurückkehren. Zunächst, um ihm zu verzeihen, später, um ihn zu vernichten.
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NIEMALS UND AUCH DANN NICHT
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#1 Die nächste Biegung
Schwups! Da war sie wieder. Eben noch war Margareta in der Welt gewesen, in der sie fliegen konnte und in der sie schön war, in der sie sich auskannte und in der sie sich zu Hause fühlte, und jetzt lag sie flach auf dem Bauch in ihrem Bett in der Welt, die ‚die richtige‘ hieß, ganz so, als ob ihre Traumwelt falsch wäre.
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#2 Eine Flamme zwischen den Fingern
Margareta wurde müde. Sie legte sich zurück ins Bett und schlief sofort ein.
„Margareta, wach auf! Der Nikolaus war da!“, sagte Hedwig, das Dienstmädchen. In Margaretas Stiefeln lagen Marzipanfrüchte und Schokoladennüsse in Goldpapier. Pech! Nun würde es ein ganzes Jahr dauern, bis Margareta wieder versuchen konnte, die Wahrheit über den Nikolaus herauszufinden.
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#3 Anders
„Wir sollten auch an die denken, denen es weniger gut geht als uns“, sagte die alte Frau Leseberg, „gerade jetzt!“
„Meinst du Janos?“, fragte Kai.
„Zum Beispiel“, sagte seine Großmutter, sie fühlte sich durch seinen konkreten Bezug etwas gestört in ihrer Andacht.
„Oder seine Familie“, sagte Margareta, „die mussten doch fliehen.“
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#4 Mmmh …!
Margareta war den Tränen nahe.
Sie starrte auf die drei brennenden Kerzen, keine davon hatte sie angezündet. Im letzten Augenblick hatte sie plötzlich wieder Angst bekommen, nicht so sehr vor der Flamme als davor, selber das Feuer zu entfachen. Sie hatte ihren Stuhl so weit wie möglich weggeschoben vom Tisch, weil sie den Gästen bestimmt nicht zu nahe treten wollte.
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#5 Rechtsempfinden
„Anna Seghers, diese alte Hexe, hat der neuen ungarischen Marionettenregierung zur Niederschlagung der Konterrevolution gratuliert. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte, Anna Seghers werde ich niemals durchnehmen.“
Margareta fragte sich, was Janos’ Schülern da wohl erspart bliebe, sie mochte auch keine Hexen, nicht mal im Märchen.
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#6 Bruchrechnung
„Möchte noch jemand Tee?“, fragte die junge Frau Leseberg.
Nacheinander hielten alle ihre Tassen hin wie zur Schulspeisung. Ihr Kakao hatte eine Haut bekommen, vor der sich Margareta ekelte, aber da niemand sie beachtete, war es kein Problem, diese Haut mit dem Zeigefinger abzuheben und in der Papierserviette mit Tannenzweigaufdruck verschwinden zu lassen.
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#7 Oben und unten
Siebenmal ‚werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!‘
Eva hatte die Haare straff zurückgekämmt und hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Nun sah sie wirklich ein bisschen wie eine Lehrerin aus: strenger, erwachsener, aber auch edler.
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#8 Rüdiger und Julia
Auf der Treppe sagte Eva leichthin: „Grüß deinen Bruder von mir! Er soll nicht so schüchtern sein.“
Margareta kamen diese zwei Sätze wichtiger vor als alle Bruchrechnung. „Ich werde es ihm gleich sagen.“
Eva merkte, wie viel besser Margareta diese Aufgabe gefiel als alle vorigen und sagte: „Ach nein, lass das lieber! Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken.“
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#9 Jenseits von Eden
Fünfmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Worauf es ankommt beim Bruchrechnen, das ist, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden“, sagte Eva, „verstehst du?“
Margareta überlegte, ob Nicken schon eine Lüge war.
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#10 Der kleinste gemeinsame Nenner
Margareta war etwas benommen. Das Wort ‚lieb‘ hatte ganz anders geklungen als vorgestern bei ihrer Mutter. Langsam ging Margareta die Treppe nach oben und klopfte an die Tür ihres Bruders.
„Komm rein!“, rief er.
Kaum war sie ins Zimmer getreten, da fuhr er sie an: „Bist du verrückt geworden?“
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#11 Der Ausbruch
Dreimal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Und jetzt zwei Siebtel und vier Neuntel“, sagte Eva.
„Wann braucht man denn das?“, fragte Margareta.
„Ich weiß auch nicht“, sagte Eva, „es ist ja nur ein Beispiel, zur Übung.“
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#12 Das Mädchen, das verbrannt ist
Einmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
Es war fünf vor fünf. Großmutter und Mutter waren in der Küche, Großvater und Vater waren in der Bibliothek, Kai war in seinem Zimmer.
Margareta nahm die Streichholzschachtel in die linke Hand, sie drückte die Schachtel mit dem Daumen auf, nahm ein Zündholz heraus und rieb den roten Zündkopf über die braune Seitenfläche.
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#13 Adventstee
Margareta begann zu weinen.
„Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!“, sagte die junge Frau Leseberg. „Komm, Margareta, komm her zu mir, es ist ja alles gut! Na, komm!“
Margareta trat an den Tisch und pustete mit einem heftigen Luftstoß alle vier Kerzen aus.
„Margareta!“
Dann war es still.
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#14 Sibirien
Margareta blieb misstrauisch. Es hatte sich etwas verändert im Raum, und nichts daran war gut. Ihr Vater und ihre Großeltern sagten kein einziges Wort, aber Margareta sah, wie ihre Mutter ihnen einen ernsten Blick zuwarf.
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#1 – Warteraum
Als ich drei Jahre alt war, bekam ich eine Gehirnhautentzündung. Seither bin ich taub. An Klänge erinnere ich mich überhaupt nicht. Geräusch – Stimme – Musik: Das sind nur Worte für mich. Ich habe mich daran gewöhnt. Was sonst?
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#2 – Weinbrand
Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock ...
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#3 – Salz
Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz.
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#4 – Marihuana
Sie aß das Brot in großen Bissen.
„Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
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#5 – Obst und Südfrüchte
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück vom Büfett mit dem Cognac-Schwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach, hoch oben, ließ milchig-trübes Licht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.
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#6 – Kaffee
Wohlverwahrt lag diese Geschichte in meinem Schreibtisch, als Bestandteil meiner Sammlung von Schicksalen. Das Mädchen war tot. Die Frau war belehrt.
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#7 – Tabasco
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemanden beneiden könnte. Niemals. Und jetzt beneide ich dieses Mädchen mir gegenüber um ihre Sorgen – und um ihre graue, hoffnungslose Jugend. Vielleicht könnte ich ein Gespräch mit ihr anfangen, damit ich nicht so armselig hier herumsitze. Der Zug fährt ja erst in einer Stunde ...
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#8 – Curry
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien der Frau gar nicht aufzufallen, ihr Vortrag ging weiter. „Es hat doch keinen Sinn, dass alle Frauen denken, sie könnten wie Claudia Schiffer oder wie Rosa Luxemburg sein, wenn sie sich ein bisschen anstrengten. Das macht sie doch bloß unglücklich. Alle Männer werden ja auch nicht Reinhold Messner ...
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#9 – Silberdose
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein ...
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#10 – Fruchtsaft
Die Frau trank ihr Glas leer.
„Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss ...“
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#11 – Bier
Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber.
„Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich.
„Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt ...
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#1
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf dass wir's essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, dass wir's bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus ...‘
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf daß wir’s essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, daß wir’s bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus, [...]‘
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#2
Maria Magdalena schob ihren Kopf durch den Spalt.
„Judas! Was willst du, mitten in der Nacht?“
„Lass mich ein. Bitte!“
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#3
„Hör zu! Ich erlaube dir nicht, so zu reden.“ Maria Magdalena war aufgebracht. „Du kommst zu mir mitten in der Nacht. Du bist verstört. Ich nehme dich auf. Wenn du müde bist, dann schlaf! Wenn du sprechen willst, sprich!“
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#4
„Und da kam Jesus. Er soll gesagt haben: ‚Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.‘ Seine Lehren sollten neu sein und tröstlich. Er brachte Menschen dazu, ihm zu folgen, ihr Leben zu ändern. Ich wollte ihn sehen.“
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#5
„Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich später geboren worden wäre. Dann hätte ich nur glauben müssen, was ich nicht zu sehen brauche. – Und doch habe ich an ihn geglaubt, auch so. Als Gott? Ich glaube, dass er glaubt, Gott zu sein. Doch ich hatte eine so ganz andere Vorstellung davon, wie Gott sein würde, wenn er leibhaftig zwischen uns tritt.“
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#6
Behutsam setzte sich Maria Magdalena auf den Rand des Bettes, dicht neben seinen Kopf.
Er öffnete die Augen. Sein Blick tat weh.
„Seit wann seid ihr wieder hier?“
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#7
„Wir saßen beisammen. Die Sonne war untergegangen, und die Hähne hatten aufgehört zu krähen. Petrus nickte beflissen zu allem mit dem Kopf, was Jesus sagte, ein richtiger Knecht, wie der HERR ihn braucht. Ich saß in der Ecke, etwas abseits und sah aus dem Fenster. Draußen war noch ein Leuchten, geheimnisvoll, unbestimmbar.“
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#8
„Am Montagmorgen gingen wir wieder nach Jerusalem. Am Abend vorher war die Lage schon bedrohlich geworden. Wir waren nur knapp davongekommen. Aber die Stadt zog Jesus an wie der Abgrund den Lebensmüden.“
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#9
„Jesus saß im Garten unter einem Myrthenstrauch. Die anderen waren bei ihm. Er sah auf, als ich durch das Tor trat, und in seinem Blick lag Misstrauen, zum ersten Mal. Niemals hatte mir ein Blick so weh getan.“ Judas schwieg.
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#01 | Ein Lebensmüder
Montag, fünfundzwanzigster März neunzehnhundertachtundsechzig.
Fastenzeit.
„Ich ... Ich glaube, ich kann das Leben nicht mehr aushalten.“
„Das klingt schlimm. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!“
„‚Bedrückt‘? Der Druck bedrückt mich. Ich halte ihn einfach nicht mehr aus.“
„Was halten Sie nicht mehr aus?“
„Ich halte es nicht mehr aus, daran zu denken, dass ich noch so lange leben muss.“
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#02 | Ein Fremdkörper
Dienstag, sechsundzwanzigster März:
Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.
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#03 | Eine Urlaubsbekanntschaft
Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln ...
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#04 | Der Sohn
‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“‘
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#05 | Der Entlassene
„Ist dort die Telefon-Seelsorge?“
„Ja.“
„Guten Abend!“
„Guten Abend!“
„Also, ich habe da ein Problem, mit dem ich nicht fertigwerde. Ich bin vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hab’ ein Jahr wegen Einbruch gesessen. Ich bin da in was reingeschlittert ... “
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#06 | Stattdessen
Donnerstag, den achtundzwanzigsten März.
Da fing es schon an, harmlos wie viele Katastrophen.
„Nicht doch, Othello! Lass mich noch ein bisschen schlafen! Es ist ja erst sechs.“
Othello war das egal.
Sie stand auf, schleppte den Kater mit zärtlicher Eile ins Wohnzimmer, ging zurück, machte die Tür fest hinter sich zu und legte sich wieder hin. Sie dachte an den Jungen vom vorigen Abend.
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#07 | Gefestigt
Freitag, den neunundzwanzigsten März.
Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld.
Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme.
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#08 | Wochenende
Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Milch, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett.
Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr.
Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten.
Es klingelte vier, fünf, sechs Mal.
Etwas mit Martin?
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#09 | Gymnastik
„Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und ich werde mit meiner Einsamkeit so schwer fertig.“
„Das ist ein großes Problem. Haben Sie Verwandte?“
„Mein Mann ist ums Leben gekommen, als ich vierundfünfzig war. Ich habe einen Sohn, der lebt in Amerika, und eine Tochter in Mainz. Aber außer zu den Feiertagen sehen wir uns nicht. Und die Anrufe alle paar Wochen, das ist schön, aber zu wenig.“
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#10 | Appetit
Mittwoch, den dritten April.
Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können.
Herr Friedemann lächelte zufrieden.
Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung.
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#11 | Banane
„Ja, schönen guten Abend! Ich ruf’ Sie an in einer Angelegenheit, also, ich war meinem Mann untreu.“
„Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“
„Nein. Noch nicht.“
„Ahnt Ihr Mann etwas davon?“
„Ich glaube, nein. Aber er sagt manchmal, ich sei so komisch.“
„Dauert das Verhältnis noch an?“
„Nein. Das war gar kein Verhältnis. Das war, als ich zur Kur war ...
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#12 | Dressing
Donnerstag, den vierten April.
„Wieviel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“
Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein.
„Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“
Nein, eigentlich nicht.
„Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“
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#13 | Stimmen
Das Telefon klingelte.
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren.
„Hallo!“
„Ja?“
„Martin, so etwas lässt sich nicht einfach mit einer Entschuldigung vom Tisch wischen!“
Die Scheiße liegt ja schon meterhoch auf dem Tisch, Frau Fischer!
„Du hast es nicht so gemeint? Du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast. Und du hast vielleicht sogar recht damit. Aber ich brauche Zeit, es zu verarbeiten.“
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#14 | Selbstachtung
„Guten Abend! ... Ich wollte mal Ihre Meinung hören. Ich komme vom Alkohol nicht weg. Also nicht, dass ich Trinker bin. Aber ich denk’, es könnte mal dahin kommen, wenn nicht was passiert.“
„Wie viel trinken Sie denn ungefähr am Tag?“
„Das kommt drauf an. Aber sechs bis acht Flaschen Bier können es schon werden.“
„Und einige Korn dazu?“
„Ja, ein paar Korn auch.“
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#15 | Geschmackszerstörer
Sie überlegte mit geschlossenen Augen. Vom Meer hatte sie geträumt, von Felsen, sie schwebte über getrockneten Salzlachen und Distelgewächsen, eine schaukelnde Bewegung, ein Tretboot, die Hängematte in ihrem Garten, als sie noch zusammen in Nienstedten gewohnt hatten. Herr Friedemann versuchte, ihr eine Flötenvase in den Mund zu schieben. Sie wollte sagen: ‚Hören Sie doch auf damit!‘, aber es war ein Knebel, sie brachte keinen Ton heraus, und ein Schatten beugte sich über sie, schweigend.
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#16 | Am Deich
Sie nahm das Telefon und wählte. „Adelheid, es tut mir leid. Ich fühl’ mich überhaupt nicht wohl. Ich kann’ heute Abend leider nicht mitkommen ins Theater.“
„Ach, nicht so schlimm. Etwas mit dem Magen. Wenn es ein kurzes Stück wäre, würde ich auch gehen. Aber bis elf im Parkett sitzen, das halt’ ich, glaub’ ich, in meinem Zustand nicht durch.“
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#17 | Mücken
„Einen Juden gleich nach dem Krieg zu heiraten, das war nach all dem Entsetzlichen ganz ungewöhnlich, na ja, schon deshalb, weil es kaum noch Juden gab.“ Sie lächelte schwach, Adelheid sah mit angespanntem Gesicht geradeaus, in den Wind und in den Sinn ihrer Worte. „Jetzt, rückblickend, frage ich mich, ob noch etwas anderes als Liebe mit im Spiel war.
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#18 | Tote Vögel
Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt?
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#19 | Mittlere Reife
„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“
„Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“
„Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“
„Wie alt ist Ihr Sohn?“
„Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“
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#20 | Biedermeier
So, da habe sie ihn wieder! Die Packer setzten ab.
Der finstere Apriltag verfinsterte sich noch mehr.
Der Frankfurter Schrank stand wieder vor dem Fenster. Ein gefräßiger Krake, der das Licht mit seinen Saugnäpfen verschlingt.
Herr Friedemann kam aus dem Hinterzimmer. Nun sei der Holzwurm hoffentlich beseitigt. Die Gaskammer habe er wohl kaum überleben können.
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#21 | Politur
Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören?
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#01 | Weil wir uns lieben
a) hochzeit halten – Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit.
Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen.
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#02 | Was ganz Besonderes
Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Chablis.
Der Bruder der Braut hielt sein Glas mit der flachen Hand zu. „Nein, danke!“
Der Kellner zog die Flasche zurück, ging einen Schritt weiter, schob die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, zwischen zwei Köpfen hindurch, die sich zunickten: ...
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#03 | Wer ich bin
b) zwei menschen – Meine lieben Zuhörer, heute möchte ich Ihnen die Geschichte des Narren Columbin erzählen, der an einem mittelalterlichen Hof lebte. Sie mögen nun sagen: ‚Du liebe Zeit, was sollen wir denn heutzutage mit einem Narren anfangen, der schon über fünfhundert Jahre tot ist?!‘ – Aber warten Sie ab, meine lieben Zuhörer!
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#04 | Wir werden’s versuchen
Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. ‚Fade out‘ der Dire Straits. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt.
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#05 | Positiv – Negativ
„Müssen wir bei dem Namen bleiben?“, fragte einer, „der Name ist das Schlimmste.“
„Der Name ist eingeführt“, sagte Robert, „darauf kommt es an. Der ganze Werbeetat, den wir haben, würde nicht ausreichen, einen neuen Namen so bekannt zu machen wie ‚Pick‘.“
„Aber im Deutschen passt ‚Pick‘ besser zu Vogelfutter als für einen Schokoladenriegel.
„Warum?“, fragte einer. „Kein Tag ohne einen guten ‚Pick‘ …“
„Ich lass mich täglich picken“, sagte jemand.
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#06 | Betroffen
„Robert, der Klaus sagt, er schafft das Storyboard für den neuen TV-Spot von ‚Rintra‘ nicht mehr.“
„Was?! Ich denk’, das ist längst fertig. Das brauch’ ich doch heute Abend in Berlin.“
„Ja, eben!“
Robert sprang von seinem Stuhl auf. „Und das sagst du mir jetzt erst?!“
„Weißt du, ich dachte …“
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#07 | Rohes Fleisch
Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben.
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#08 | Sensibler Kreativer
„Was? Das ist völlig neu für mich. Ich ruf Sie wieder an.“ Robert knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hoch. Er lief mit schnellen Schritten durch den Flur und riss die Tür zum Vorzimmer auf. „Ist er da?“
„Ja, aber er möchte im Augenblick nicht …“
Robert hatte die Klinke schon in der Hand.
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#09 | Berlin-Babel
Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott.
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#10 | Werbung mit sich selbst
Gleichzeitig mit dem Regen kam die Sonne. Durch ein Wolkenloch hindurch zeigte plötzlich dieser böse, besserwisserische Finger und strahlte einen Augenblick lang schulmeisterlich kaltes Licht auf zaghaft blühende Akazien und angeschmuddelte Mietshäuser.
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#11 | Auf der Kippe
Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen.
Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
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#12 | Zur Schau gestellt
Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung.
Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte.
Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen ...
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#13 | Es geht los
Martin saß in der U-Bahn. Der Zug holperte durch den Schacht. Da oben war Ostberlin. Da liefen einzelne Menschen zwischen Dunkelheit und Ruinen. Martin war nur einmal abends in Ostberlin gewesen, weil ihm damals jemand gesagt hatte, er müsse unbedingt den ‚Burgfrieden‘ mal kennenlernen ...
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#14 | Hengste
Ich mag Männer. Die etwas tuckigen, wenn sie den Kopf nach hinten werfen und lachen; die kerligen, wenn sie sich mit zusammengekniffenen Augen eine Zigarette anzünden; die Jungen, die neugierig kichern; und die älteren, die schon so was Abgewichstes im Gesicht haben – ich mag sie alle, alle ...
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#15 | Ziemlich christlich
Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht.
‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘
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#16 | Ein Fischzug
Eine Weile sprachen sie nicht. Sie hörten auf die hämmernde Musik und auf die Stimmen. Sie sahen Männer, auch Männer, die ihnen gefielen. Abspringen? Den leichten Weg gehen, der alles so schwer macht? Die laute, aber nicht lärmende Musik. Die Stimmen, die Köpfe. Dieser wütende Plan, sich vorübergehend in Hemmungslosigkeit zu verlieren: die pünktlich abrufbare Sucht zwischen zwei Tagen.
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#17 | Prometheus
Männer, Mähnen. Musik in monotonen Rhythmen. Asien oder Afrika. Qualm macht aus Silhouetten Schatten. Wird alles gut oder ist es gerade dabei, schiefzulaufen?
„Lebst du allein?“, fragte Martin.
„Ja. Jetzt ja. Ich hab’ mal ein paar Jahre lang mit jemandem zusammengelebt.“
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#18 | Im Flaschenhals
Mähnen, Männer, Macho. Manche kannte Robert. Die meisten nicht. Vertraute Verträumte. Verklärte Verklemmte. Und die Forschen und die Schwätzer. Die blinden Hühner, die nach Körnern picken, und die Gockel, die im Mist scharren.
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#19 | Im Rudel
d) in der dunkelkammer – Robert ging die Treppe runter und erst mal pissen. Er machte die Tür auf: Die Pinkelbecken waren leer. Die Tür dahinter war verriegelt. Während er seinen Strahl golden schimmern sah, hörte er verhaltenes Stöhnen. Vielleicht saß einer auf der Brille und saugte an der Eichel des anderen.
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#20 | Bestimmung
Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
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Wer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
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Panik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
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Berlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
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Bahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
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Taxe fahren | 05
Es goss in Strömen.
Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht.
„Also, was ist?“, fragte er.
„Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“
„Also los!“, sagte er.
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Ein Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch.
„Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“
„Achtzehn.“
„Na, wenigstens volljährig.“
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Sitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
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Ein zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze.
Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
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Ein Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume.
In der Küche lag ein Zettel:
Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
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Nach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen.
Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“
„Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
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Utensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn.
„Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“
Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig.
„Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“
Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
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Geschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an.
Wir saßen beim Essen.
Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“
„Ich weiß nicht.“
Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
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Mein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück.
Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“
Ich lächelte. „Danke!“
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In Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln.
„Gibst du mir das Salz rüber?“
„Danke. Hier ist der Pfeffer.“
Spielt sich so Leben ab?
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Das Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
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Verzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört.
Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle?
Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
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Berichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
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Nachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun.
Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
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01 – Judas
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#1
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf dass wir's essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, dass wir's bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus ...‘
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf daß wir’s essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, daß wir’s bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus, [...]‘
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#2
Maria Magdalena schob ihren Kopf durch den Spalt.
„Judas! Was willst du, mitten in der Nacht?“
„Lass mich ein. Bitte!“
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#3
„Hör zu! Ich erlaube dir nicht, so zu reden.“ Maria Magdalena war aufgebracht. „Du kommst zu mir mitten in der Nacht. Du bist verstört. Ich nehme dich auf. Wenn du müde bist, dann schlaf! Wenn du sprechen willst, sprich!“
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#4
„Und da kam Jesus. Er soll gesagt haben: ‚Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.‘ Seine Lehren sollten neu sein und tröstlich. Er brachte Menschen dazu, ihm zu folgen, ihr Leben zu ändern. Ich wollte ihn sehen.“
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#5
„Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich später geboren worden wäre. Dann hätte ich nur glauben müssen, was ich nicht zu sehen brauche. – Und doch habe ich an ihn geglaubt, auch so. Als Gott? Ich glaube, dass er glaubt, Gott zu sein. Doch ich hatte eine so ganz andere Vorstellung davon, wie Gott sein würde, wenn er leibhaftig zwischen uns tritt.“
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#6
Behutsam setzte sich Maria Magdalena auf den Rand des Bettes, dicht neben seinen Kopf.
Er öffnete die Augen. Sein Blick tat weh.
„Seit wann seid ihr wieder hier?“
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#7
„Wir saßen beisammen. Die Sonne war untergegangen, und die Hähne hatten aufgehört zu krähen. Petrus nickte beflissen zu allem mit dem Kopf, was Jesus sagte, ein richtiger Knecht, wie der HERR ihn braucht. Ich saß in der Ecke, etwas abseits und sah aus dem Fenster. Draußen war noch ein Leuchten, geheimnisvoll, unbestimmbar.“
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#8
„Am Montagmorgen gingen wir wieder nach Jerusalem. Am Abend vorher war die Lage schon bedrohlich geworden. Wir waren nur knapp davongekommen. Aber die Stadt zog Jesus an wie der Abgrund den Lebensmüden.“
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#9
„Jesus saß im Garten unter einem Myrthenstrauch. Die anderen waren bei ihm. Er sah auf, als ich durch das Tor trat, und in seinem Blick lag Misstrauen, zum ersten Mal. Niemals hatte mir ein Blick so weh getan.“ Judas schwieg.
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02 – Innocentia-Park
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#1 Die nächste Biegung
Schwups! Da war sie wieder. Eben noch war Margareta in der Welt gewesen, in der sie fliegen konnte und in der sie schön war, in der sie sich auskannte und in der sie sich zu Hause fühlte, und jetzt lag sie flach auf dem Bauch in ihrem Bett in der Welt, die ‚die richtige‘ hieß, ganz so, als ob ihre Traumwelt falsch wäre.
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#2 Eine Flamme zwischen den Fingern
Margareta wurde müde. Sie legte sich zurück ins Bett und schlief sofort ein.
„Margareta, wach auf! Der Nikolaus war da!“, sagte Hedwig, das Dienstmädchen. In Margaretas Stiefeln lagen Marzipanfrüchte und Schokoladennüsse in Goldpapier. Pech! Nun würde es ein ganzes Jahr dauern, bis Margareta wieder versuchen konnte, die Wahrheit über den Nikolaus herauszufinden.
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#3 Anders
„Wir sollten auch an die denken, denen es weniger gut geht als uns“, sagte die alte Frau Leseberg, „gerade jetzt!“
„Meinst du Janos?“, fragte Kai.
„Zum Beispiel“, sagte seine Großmutter, sie fühlte sich durch seinen konkreten Bezug etwas gestört in ihrer Andacht.
„Oder seine Familie“, sagte Margareta, „die mussten doch fliehen.“
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#4 Mmmh …!
Margareta war den Tränen nahe.
Sie starrte auf die drei brennenden Kerzen, keine davon hatte sie angezündet. Im letzten Augenblick hatte sie plötzlich wieder Angst bekommen, nicht so sehr vor der Flamme als davor, selber das Feuer zu entfachen. Sie hatte ihren Stuhl so weit wie möglich weggeschoben vom Tisch, weil sie den Gästen bestimmt nicht zu nahe treten wollte.
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#5 Rechtsempfinden
„Anna Seghers, diese alte Hexe, hat der neuen ungarischen Marionettenregierung zur Niederschlagung der Konterrevolution gratuliert. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte, Anna Seghers werde ich niemals durchnehmen.“
Margareta fragte sich, was Janos’ Schülern da wohl erspart bliebe, sie mochte auch keine Hexen, nicht mal im Märchen.
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#6 Bruchrechnung
„Möchte noch jemand Tee?“, fragte die junge Frau Leseberg.
Nacheinander hielten alle ihre Tassen hin wie zur Schulspeisung. Ihr Kakao hatte eine Haut bekommen, vor der sich Margareta ekelte, aber da niemand sie beachtete, war es kein Problem, diese Haut mit dem Zeigefinger abzuheben und in der Papierserviette mit Tannenzweigaufdruck verschwinden zu lassen.
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#7 Oben und unten
Siebenmal ‚werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!‘
Eva hatte die Haare straff zurückgekämmt und hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Nun sah sie wirklich ein bisschen wie eine Lehrerin aus: strenger, erwachsener, aber auch edler.
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#8 Rüdiger und Julia
Auf der Treppe sagte Eva leichthin: „Grüß deinen Bruder von mir! Er soll nicht so schüchtern sein.“
Margareta kamen diese zwei Sätze wichtiger vor als alle Bruchrechnung. „Ich werde es ihm gleich sagen.“
Eva merkte, wie viel besser Margareta diese Aufgabe gefiel als alle vorigen und sagte: „Ach nein, lass das lieber! Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken.“
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#9 Jenseits von Eden
Fünfmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Worauf es ankommt beim Bruchrechnen, das ist, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden“, sagte Eva, „verstehst du?“
Margareta überlegte, ob Nicken schon eine Lüge war.
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#10 Der kleinste gemeinsame Nenner
Margareta war etwas benommen. Das Wort ‚lieb‘ hatte ganz anders geklungen als vorgestern bei ihrer Mutter. Langsam ging Margareta die Treppe nach oben und klopfte an die Tür ihres Bruders.
„Komm rein!“, rief er.
Kaum war sie ins Zimmer getreten, da fuhr er sie an: „Bist du verrückt geworden?“
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#11 Der Ausbruch
Dreimal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Und jetzt zwei Siebtel und vier Neuntel“, sagte Eva.
„Wann braucht man denn das?“, fragte Margareta.
„Ich weiß auch nicht“, sagte Eva, „es ist ja nur ein Beispiel, zur Übung.“
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#12 Das Mädchen, das verbrannt ist
Einmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
Es war fünf vor fünf. Großmutter und Mutter waren in der Küche, Großvater und Vater waren in der Bibliothek, Kai war in seinem Zimmer.
Margareta nahm die Streichholzschachtel in die linke Hand, sie drückte die Schachtel mit dem Daumen auf, nahm ein Zündholz heraus und rieb den roten Zündkopf über die braune Seitenfläche.
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#13 Adventstee
Margareta begann zu weinen.
„Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!“, sagte die junge Frau Leseberg. „Komm, Margareta, komm her zu mir, es ist ja alles gut! Na, komm!“
Margareta trat an den Tisch und pustete mit einem heftigen Luftstoß alle vier Kerzen aus.
„Margareta!“
Dann war es still.
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#14 Sibirien
Margareta blieb misstrauisch. Es hatte sich etwas verändert im Raum, und nichts daran war gut. Ihr Vater und ihre Großeltern sagten kein einziges Wort, aber Margareta sah, wie ihre Mutter ihnen einen ernsten Blick zuwarf.
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03 – Regen in der Wüste
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#01 | Ein Lebensmüder
Montag, fünfundzwanzigster März neunzehnhundertachtundsechzig.
Fastenzeit.
„Ich ... Ich glaube, ich kann das Leben nicht mehr aushalten.“
„Das klingt schlimm. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!“
„‚Bedrückt‘? Der Druck bedrückt mich. Ich halte ihn einfach nicht mehr aus.“
„Was halten Sie nicht mehr aus?“
„Ich halte es nicht mehr aus, daran zu denken, dass ich noch so lange leben muss.“
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#02 | Ein Fremdkörper
Dienstag, sechsundzwanzigster März:
Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.
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#03 | Eine Urlaubsbekanntschaft
Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln ...
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#04 | Der Sohn
‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“‘
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#05 | Der Entlassene
„Ist dort die Telefon-Seelsorge?“
„Ja.“
„Guten Abend!“
„Guten Abend!“
„Also, ich habe da ein Problem, mit dem ich nicht fertigwerde. Ich bin vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hab’ ein Jahr wegen Einbruch gesessen. Ich bin da in was reingeschlittert ... “
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#06 | Stattdessen
Donnerstag, den achtundzwanzigsten März.
Da fing es schon an, harmlos wie viele Katastrophen.
„Nicht doch, Othello! Lass mich noch ein bisschen schlafen! Es ist ja erst sechs.“
Othello war das egal.
Sie stand auf, schleppte den Kater mit zärtlicher Eile ins Wohnzimmer, ging zurück, machte die Tür fest hinter sich zu und legte sich wieder hin. Sie dachte an den Jungen vom vorigen Abend.
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#07 | Gefestigt
Freitag, den neunundzwanzigsten März.
Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld.
Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme.
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#08 | Wochenende
Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Milch, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett.
Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr.
Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten.
Es klingelte vier, fünf, sechs Mal.
Etwas mit Martin?
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#09 | Gymnastik
„Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und ich werde mit meiner Einsamkeit so schwer fertig.“
„Das ist ein großes Problem. Haben Sie Verwandte?“
„Mein Mann ist ums Leben gekommen, als ich vierundfünfzig war. Ich habe einen Sohn, der lebt in Amerika, und eine Tochter in Mainz. Aber außer zu den Feiertagen sehen wir uns nicht. Und die Anrufe alle paar Wochen, das ist schön, aber zu wenig.“
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#10 | Appetit
Mittwoch, den dritten April.
Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können.
Herr Friedemann lächelte zufrieden.
Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung.
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#11 | Banane
„Ja, schönen guten Abend! Ich ruf’ Sie an in einer Angelegenheit, also, ich war meinem Mann untreu.“
„Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“
„Nein. Noch nicht.“
„Ahnt Ihr Mann etwas davon?“
„Ich glaube, nein. Aber er sagt manchmal, ich sei so komisch.“
„Dauert das Verhältnis noch an?“
„Nein. Das war gar kein Verhältnis. Das war, als ich zur Kur war ...
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#12 | Dressing
Donnerstag, den vierten April.
„Wieviel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“
Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein.
„Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“
Nein, eigentlich nicht.
„Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“
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#13 | Stimmen
Das Telefon klingelte.
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren.
„Hallo!“
„Ja?“
„Martin, so etwas lässt sich nicht einfach mit einer Entschuldigung vom Tisch wischen!“
Die Scheiße liegt ja schon meterhoch auf dem Tisch, Frau Fischer!
„Du hast es nicht so gemeint? Du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast. Und du hast vielleicht sogar recht damit. Aber ich brauche Zeit, es zu verarbeiten.“
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#14 | Selbstachtung
„Guten Abend! ... Ich wollte mal Ihre Meinung hören. Ich komme vom Alkohol nicht weg. Also nicht, dass ich Trinker bin. Aber ich denk’, es könnte mal dahin kommen, wenn nicht was passiert.“
„Wie viel trinken Sie denn ungefähr am Tag?“
„Das kommt drauf an. Aber sechs bis acht Flaschen Bier können es schon werden.“
„Und einige Korn dazu?“
„Ja, ein paar Korn auch.“
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#15 | Geschmackszerstörer
Sie überlegte mit geschlossenen Augen. Vom Meer hatte sie geträumt, von Felsen, sie schwebte über getrockneten Salzlachen und Distelgewächsen, eine schaukelnde Bewegung, ein Tretboot, die Hängematte in ihrem Garten, als sie noch zusammen in Nienstedten gewohnt hatten. Herr Friedemann versuchte, ihr eine Flötenvase in den Mund zu schieben. Sie wollte sagen: ‚Hören Sie doch auf damit!‘, aber es war ein Knebel, sie brachte keinen Ton heraus, und ein Schatten beugte sich über sie, schweigend.
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#16 | Am Deich
Sie nahm das Telefon und wählte. „Adelheid, es tut mir leid. Ich fühl’ mich überhaupt nicht wohl. Ich kann’ heute Abend leider nicht mitkommen ins Theater.“
„Ach, nicht so schlimm. Etwas mit dem Magen. Wenn es ein kurzes Stück wäre, würde ich auch gehen. Aber bis elf im Parkett sitzen, das halt’ ich, glaub’ ich, in meinem Zustand nicht durch.“
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#17 | Mücken
„Einen Juden gleich nach dem Krieg zu heiraten, das war nach all dem Entsetzlichen ganz ungewöhnlich, na ja, schon deshalb, weil es kaum noch Juden gab.“ Sie lächelte schwach, Adelheid sah mit angespanntem Gesicht geradeaus, in den Wind und in den Sinn ihrer Worte. „Jetzt, rückblickend, frage ich mich, ob noch etwas anderes als Liebe mit im Spiel war.
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#18 | Tote Vögel
Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt?
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#19 | Mittlere Reife
„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“
„Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“
„Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“
„Wie alt ist Ihr Sohn?“
„Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“
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#20 | Biedermeier
So, da habe sie ihn wieder! Die Packer setzten ab.
Der finstere Apriltag verfinsterte sich noch mehr.
Der Frankfurter Schrank stand wieder vor dem Fenster. Ein gefräßiger Krake, der das Licht mit seinen Saugnäpfen verschlingt.
Herr Friedemann kam aus dem Hinterzimmer. Nun sei der Holzwurm hoffentlich beseitigt. Die Gaskammer habe er wohl kaum überleben können.
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#21 | Politur
Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören?
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04 – Beelzebub und der Teufel
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#01 | Weil wir uns lieben
a) hochzeit halten – Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit.
Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen.
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#02 | Was ganz Besonderes
Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Chablis.
Der Bruder der Braut hielt sein Glas mit der flachen Hand zu. „Nein, danke!“
Der Kellner zog die Flasche zurück, ging einen Schritt weiter, schob die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, zwischen zwei Köpfen hindurch, die sich zunickten: ...
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#03 | Wer ich bin
b) zwei menschen – Meine lieben Zuhörer, heute möchte ich Ihnen die Geschichte des Narren Columbin erzählen, der an einem mittelalterlichen Hof lebte. Sie mögen nun sagen: ‚Du liebe Zeit, was sollen wir denn heutzutage mit einem Narren anfangen, der schon über fünfhundert Jahre tot ist?!‘ – Aber warten Sie ab, meine lieben Zuhörer!
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#04 | Wir werden’s versuchen
Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. ‚Fade out‘ der Dire Straits. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt.
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#05 | Positiv – Negativ
„Müssen wir bei dem Namen bleiben?“, fragte einer, „der Name ist das Schlimmste.“
„Der Name ist eingeführt“, sagte Robert, „darauf kommt es an. Der ganze Werbeetat, den wir haben, würde nicht ausreichen, einen neuen Namen so bekannt zu machen wie ‚Pick‘.“
„Aber im Deutschen passt ‚Pick‘ besser zu Vogelfutter als für einen Schokoladenriegel.
„Warum?“, fragte einer. „Kein Tag ohne einen guten ‚Pick‘ …“
„Ich lass mich täglich picken“, sagte jemand.
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#06 | Betroffen
„Robert, der Klaus sagt, er schafft das Storyboard für den neuen TV-Spot von ‚Rintra‘ nicht mehr.“
„Was?! Ich denk’, das ist längst fertig. Das brauch’ ich doch heute Abend in Berlin.“
„Ja, eben!“
Robert sprang von seinem Stuhl auf. „Und das sagst du mir jetzt erst?!“
„Weißt du, ich dachte …“
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#07 | Rohes Fleisch
Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben.
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#08 | Sensibler Kreativer
„Was? Das ist völlig neu für mich. Ich ruf Sie wieder an.“ Robert knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hoch. Er lief mit schnellen Schritten durch den Flur und riss die Tür zum Vorzimmer auf. „Ist er da?“
„Ja, aber er möchte im Augenblick nicht …“
Robert hatte die Klinke schon in der Hand.
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#09 | Berlin-Babel
Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott.
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#10 | Werbung mit sich selbst
Gleichzeitig mit dem Regen kam die Sonne. Durch ein Wolkenloch hindurch zeigte plötzlich dieser böse, besserwisserische Finger und strahlte einen Augenblick lang schulmeisterlich kaltes Licht auf zaghaft blühende Akazien und angeschmuddelte Mietshäuser.
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#11 | Auf der Kippe
Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen.
Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
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#12 | Zur Schau gestellt
Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung.
Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte.
Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen ...
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#13 | Es geht los
Martin saß in der U-Bahn. Der Zug holperte durch den Schacht. Da oben war Ostberlin. Da liefen einzelne Menschen zwischen Dunkelheit und Ruinen. Martin war nur einmal abends in Ostberlin gewesen, weil ihm damals jemand gesagt hatte, er müsse unbedingt den ‚Burgfrieden‘ mal kennenlernen ...
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#14 | Hengste
Ich mag Männer. Die etwas tuckigen, wenn sie den Kopf nach hinten werfen und lachen; die kerligen, wenn sie sich mit zusammengekniffenen Augen eine Zigarette anzünden; die Jungen, die neugierig kichern; und die älteren, die schon so was Abgewichstes im Gesicht haben – ich mag sie alle, alle ...
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#15 | Ziemlich christlich
Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht.
‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘
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#16 | Ein Fischzug
Eine Weile sprachen sie nicht. Sie hörten auf die hämmernde Musik und auf die Stimmen. Sie sahen Männer, auch Männer, die ihnen gefielen. Abspringen? Den leichten Weg gehen, der alles so schwer macht? Die laute, aber nicht lärmende Musik. Die Stimmen, die Köpfe. Dieser wütende Plan, sich vorübergehend in Hemmungslosigkeit zu verlieren: die pünktlich abrufbare Sucht zwischen zwei Tagen.
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#17 | Prometheus
Männer, Mähnen. Musik in monotonen Rhythmen. Asien oder Afrika. Qualm macht aus Silhouetten Schatten. Wird alles gut oder ist es gerade dabei, schiefzulaufen?
„Lebst du allein?“, fragte Martin.
„Ja. Jetzt ja. Ich hab’ mal ein paar Jahre lang mit jemandem zusammengelebt.“
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#18 | Im Flaschenhals
Mähnen, Männer, Macho. Manche kannte Robert. Die meisten nicht. Vertraute Verträumte. Verklärte Verklemmte. Und die Forschen und die Schwätzer. Die blinden Hühner, die nach Körnern picken, und die Gockel, die im Mist scharren.
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#19 | Im Rudel
d) in der dunkelkammer – Robert ging die Treppe runter und erst mal pissen. Er machte die Tür auf: Die Pinkelbecken waren leer. Die Tür dahinter war verriegelt. Während er seinen Strahl golden schimmern sah, hörte er verhaltenes Stöhnen. Vielleicht saß einer auf der Brille und saugte an der Eichel des anderen.
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#20 | Bestimmung
Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
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05 – Die Hostie
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#1 – Warteraum
Als ich drei Jahre alt war, bekam ich eine Gehirnhautentzündung. Seither bin ich taub. An Klänge erinnere ich mich überhaupt nicht. Geräusch – Stimme – Musik: Das sind nur Worte für mich. Ich habe mich daran gewöhnt. Was sonst?
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#2 – Weinbrand
Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock ...
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#3 – Salz
Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz.
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#4 – Marihuana
Sie aß das Brot in großen Bissen.
„Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
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#5 – Obst und Südfrüchte
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück vom Büfett mit dem Cognac-Schwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach, hoch oben, ließ milchig-trübes Licht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.
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#6 – Kaffee
Wohlverwahrt lag diese Geschichte in meinem Schreibtisch, als Bestandteil meiner Sammlung von Schicksalen. Das Mädchen war tot. Die Frau war belehrt.
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#7 – Tabasco
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemanden beneiden könnte. Niemals. Und jetzt beneide ich dieses Mädchen mir gegenüber um ihre Sorgen – und um ihre graue, hoffnungslose Jugend. Vielleicht könnte ich ein Gespräch mit ihr anfangen, damit ich nicht so armselig hier herumsitze. Der Zug fährt ja erst in einer Stunde ...
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#8 – Curry
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien der Frau gar nicht aufzufallen, ihr Vortrag ging weiter. „Es hat doch keinen Sinn, dass alle Frauen denken, sie könnten wie Claudia Schiffer oder wie Rosa Luxemburg sein, wenn sie sich ein bisschen anstrengten. Das macht sie doch bloß unglücklich. Alle Männer werden ja auch nicht Reinhold Messner ...
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#9 – Silberdose
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein ...
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#10 – Fruchtsaft
Die Frau trank ihr Glas leer.
„Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss ...“
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#11 – Bier
Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber.
„Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich.
„Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt ...
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06 – Ein Eremit
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Wer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
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Panik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
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Berlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
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Bahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
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Taxe fahren | 05
Es goss in Strömen.
Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht.
„Also, was ist?“, fragte er.
„Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“
„Also los!“, sagte er.
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Ein Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch.
„Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“
„Achtzehn.“
„Na, wenigstens volljährig.“
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Sitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
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Ein zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze.
Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
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Ein Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume.
In der Küche lag ein Zettel:
Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
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Nach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen.
Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“
„Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
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Utensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn.
„Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“
Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig.
„Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“
Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
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Geschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an.
Wir saßen beim Essen.
Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“
„Ich weiß nicht.“
Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
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Mein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück.
Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“
Ich lächelte. „Danke!“
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In Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln.
„Gibst du mir das Salz rüber?“
„Danke. Hier ist der Pfeffer.“
Spielt sich so Leben ab?
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Das Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
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Verzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört.
Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle?
Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
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Berichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
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Nachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun.
Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
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#1 Urwald
Scham. Wut – auf alles. Und natürlich Ekel: Der Tümpel, faulig stinkend und überwimmelt von Blut witternden Mücken. Die Katze: halbverwest schon, grün glitzernde Fliegen statt Augen in den Höhlen. Diese fahle Fratze plötzlich über dem Zaun, ihr Gestammel: drohend, drängend, erbärmlich. Das Brombeergestrüpp: Einmal stolperte ich mitten hinein, meine Arme waren verkratzt, die Beine zerschunden.
weiterlesen#2 Merkwürdige Umstände
In den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts soll es in Hamburg – und in den meisten deutschen Großstädten – ausgedehnte Laubenkolonien gegeben haben, besonders in Niendorf, am Rande des Flugplatzes, aber in dem Jahr, von dem ich rede, neunzehnhundertzweiundneunzig, waren Schrebergärten wahrscheinlich schon seltener als Millionärsvillen.
weiterlesen#3 Und dann?
Tante Stine gehörte zu den Frauen, die sich eines Tages vor dem Spiegel zu der Einsicht durchquälen: ‚Schön werd’ ich doch nie. Jetzt kann es bloß noch darum gehen, nicht auch noch unscheinbar rumzulaufen‘: eine hasserfüllte Absage an die graue Maus, die in jedem von uns schlummert. Ihr Haar hätte nicht röter sein können, aber wesentlich kürzer.
weiterlesen#4 In die Nesseln
Als die Sonne schon hochstand, trat Tante Stine wieder aus ihrem Haus. Beim Näherkommen verdeckte sie es fast, jedenfalls aus meiner Sicht. Ihre Lippen hatten als Blickfang eine bemerkenswerte Konkurrenz bekommen: türkisfarbene Lidschatten. Wenn Tante Stine der Meinung war, dass die Entsagungen einer Abmagerungskur nicht genügend durch die gesteigerte Zuneigung ihrer Mitmenschen entlohnt werden würde, so drängte sich zwangsläufig die Frage auf, wessen Gunst sie am späten Vormittag durch diesen Augenputz erringen wollte.
weiterlesen#5 Glitzernde Bögen
Der altgediente Briefträger kam mit seinem Fahrrad angeschoben. Er nickte mürrisch, es war deutlich zu sehen, daß er Tante Stine nicht mochte. Dafür gab es sicher reichlich Gründe, einer davon war vermutlich ihr ungestümer Garten, ein anderer, daß er bloß ihretwegen den Umweg von der Straße her machen mußte.
weiterlesen#6 Der Druck im Innern
An diesem schwülen Sommermittag waren wir beeindruckt. Heute weiß ich, dass Tante Stine nicht recht hatte: Die Zunge ist keine Strafe Gottes, sie ist auch nicht die gespaltene Waffe der Schlange – die Zunge ist ja bloß das Ausscheidungsorgan des Hirns, das seine Gedanken loswerden muss.
weiterlesen#7 Nirgendwo her, nirgendwo hin
Tante Stine setzte sich. Wir blieben andächtig stehen. Boris überwand seine Hemmungen als Erster: „Was hast du ihm gegeben?“ „Zwanzig Mark“, sagte Tante Stine. „Zwanzig Mark!“, wiederholte ich ehrfürchtig. „Was kauft er sich dafür?“ „Vergessen“, antwortete Tante Stine.
weiterlesen#8 Was sich nicht gehört
Unsere Wohngegend war nicht die beste, aber unsere Eltern hatten uns, vielleicht als Gegengewicht zu der Umgebung, zur Höflichkeit erzogen, besonders, wenn wir etwas nicht wollten. ‚Wie sagt man?‘ war die meist gestellte Frage, die wir von unseren Eltern zu hören bekamen – immer wenn wir ein ‚Danke‘ oder ein ‚Bitte‘ vergessen hatten oder wenn wir einen Ausdruck, den wir da draußen in der Welt aufgegabelt hatten, benutzten, der aber nicht in unsere Wohnstube passte.
weiterlesen#9 Versteckenspielen
Ein Rabe flog krächzend auf, es war, als ob ein Zauber zerbräche. Für wie lange? Für immer? Eintauchen, untertauchen. Manchmal fängt es erst da wirklich an, wo man meint, es sei zu Ende. Was gab es, wofür wir Tante Stine brauchten, wenn wir es wirklich gewollt hätten? Und wofür brauchte sie uns?
weiterlesen#10 Sonst ist es aus!
Tante Stine streichelte Steffi wieder über das Haar, dann setzte sie sich mit der gebotenen Vorsicht auf ihren Gartenstuhl zurück. „Es ist so schön mit euch“, sagte sie, „und wir haben Wochen vor uns – Wochen!“ ––Wir setzten uns zu ihr. ––„Tante Stine!“, Boris sah ihr tief ins Gesicht, „was machst du eigentlich die ganze Zeit, wenn wir nicht da sind?“
weiterlesen#11 Wut, Scham und Ekel
Vorige Woche bekam ich dann die Nachricht, dass sie sich umgebracht hat. Da hat es mich gepackt. Ich hab losgeheult und konnte gar nicht mehr aufhören. Dabei hatte ich mir vorher die ganze Zeit über eingeredet, sie sei sicher längst tot. Wieso eigentlich? Schuldgefühle? Derart lange noch leben zu müssen! Unter solchen Umständen!
weiterlesen#1 Der Mann
Es war heiß, sehr heiß, und er fürchtete, dass er anfangen würde zu schwitzen und dass sein Schweiß als Schwäche gedeutet werden könnte: Angst. Er war ein Haus weiter gegangen, um seinen Trick dort zu wiederholen. Danach wollte er Schluss machen für heute.
weiterlesen#2 Der Garten
Er ging die Treppe wieder herunter und folgte dem Weg, der zur rückwärtigen Front des Hauses führte. Zwischen die zerbrochenen Steinplatten hatten sich Gras und Unkraut gedrängt. Er musste gebückt gehen, um den tief herabhängenden Ästen auszuweichen. Dennoch schlugen ihm stachelige Zweige ins Gesicht, Dornen ritzten seine Haut.
weiterlesen#3 Die Frau
Die Frau, die im Haus auf ihrem Bett lag, war erleichtert, als die Schreie verstummten. Zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie gewartet. Immer hatte sie gehofft, er würde zurückkehren. Zunächst, um ihm zu verzeihen, später, um ihn zu vernichten.
weiterlesenNIEMALS UND AUCH DANN NICHT
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#1 Die nächste Biegung
Schwups! Da war sie wieder. Eben noch war Margareta in der Welt gewesen, in der sie fliegen konnte und in der sie schön war, in der sie sich auskannte und in der sie sich zu Hause fühlte, und jetzt lag sie flach auf dem Bauch in ihrem Bett in der Welt, die ‚die richtige‘ hieß, ganz so, als ob ihre Traumwelt falsch wäre.
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#2 Eine Flamme zwischen den Fingern
Margareta wurde müde. Sie legte sich zurück ins Bett und schlief sofort ein.
„Margareta, wach auf! Der Nikolaus war da!“, sagte Hedwig, das Dienstmädchen. In Margaretas Stiefeln lagen Marzipanfrüchte und Schokoladennüsse in Goldpapier. Pech! Nun würde es ein ganzes Jahr dauern, bis Margareta wieder versuchen konnte, die Wahrheit über den Nikolaus herauszufinden.
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#3 Anders
„Wir sollten auch an die denken, denen es weniger gut geht als uns“, sagte die alte Frau Leseberg, „gerade jetzt!“
„Meinst du Janos?“, fragte Kai.
„Zum Beispiel“, sagte seine Großmutter, sie fühlte sich durch seinen konkreten Bezug etwas gestört in ihrer Andacht.
„Oder seine Familie“, sagte Margareta, „die mussten doch fliehen.“
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#4 Mmmh …!
Margareta war den Tränen nahe.
Sie starrte auf die drei brennenden Kerzen, keine davon hatte sie angezündet. Im letzten Augenblick hatte sie plötzlich wieder Angst bekommen, nicht so sehr vor der Flamme als davor, selber das Feuer zu entfachen. Sie hatte ihren Stuhl so weit wie möglich weggeschoben vom Tisch, weil sie den Gästen bestimmt nicht zu nahe treten wollte.
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#5 Rechtsempfinden
„Anna Seghers, diese alte Hexe, hat der neuen ungarischen Marionettenregierung zur Niederschlagung der Konterrevolution gratuliert. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte, Anna Seghers werde ich niemals durchnehmen.“
Margareta fragte sich, was Janos’ Schülern da wohl erspart bliebe, sie mochte auch keine Hexen, nicht mal im Märchen.
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#6 Bruchrechnung
„Möchte noch jemand Tee?“, fragte die junge Frau Leseberg.
Nacheinander hielten alle ihre Tassen hin wie zur Schulspeisung. Ihr Kakao hatte eine Haut bekommen, vor der sich Margareta ekelte, aber da niemand sie beachtete, war es kein Problem, diese Haut mit dem Zeigefinger abzuheben und in der Papierserviette mit Tannenzweigaufdruck verschwinden zu lassen.
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#7 Oben und unten
Siebenmal ‚werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!‘
Eva hatte die Haare straff zurückgekämmt und hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Nun sah sie wirklich ein bisschen wie eine Lehrerin aus: strenger, erwachsener, aber auch edler.
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#8 Rüdiger und Julia
Auf der Treppe sagte Eva leichthin: „Grüß deinen Bruder von mir! Er soll nicht so schüchtern sein.“
Margareta kamen diese zwei Sätze wichtiger vor als alle Bruchrechnung. „Ich werde es ihm gleich sagen.“
Eva merkte, wie viel besser Margareta diese Aufgabe gefiel als alle vorigen und sagte: „Ach nein, lass das lieber! Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken.“
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#9 Jenseits von Eden
Fünfmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Worauf es ankommt beim Bruchrechnen, das ist, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden“, sagte Eva, „verstehst du?“
Margareta überlegte, ob Nicken schon eine Lüge war.
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#10 Der kleinste gemeinsame Nenner
Margareta war etwas benommen. Das Wort ‚lieb‘ hatte ganz anders geklungen als vorgestern bei ihrer Mutter. Langsam ging Margareta die Treppe nach oben und klopfte an die Tür ihres Bruders.
„Komm rein!“, rief er.
Kaum war sie ins Zimmer getreten, da fuhr er sie an: „Bist du verrückt geworden?“
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#11 Der Ausbruch
Dreimal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Und jetzt zwei Siebtel und vier Neuntel“, sagte Eva.
„Wann braucht man denn das?“, fragte Margareta.
„Ich weiß auch nicht“, sagte Eva, „es ist ja nur ein Beispiel, zur Übung.“
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#12 Das Mädchen, das verbrannt ist
Einmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
Es war fünf vor fünf. Großmutter und Mutter waren in der Küche, Großvater und Vater waren in der Bibliothek, Kai war in seinem Zimmer.
Margareta nahm die Streichholzschachtel in die linke Hand, sie drückte die Schachtel mit dem Daumen auf, nahm ein Zündholz heraus und rieb den roten Zündkopf über die braune Seitenfläche.
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#13 Adventstee
Margareta begann zu weinen.
„Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!“, sagte die junge Frau Leseberg. „Komm, Margareta, komm her zu mir, es ist ja alles gut! Na, komm!“
Margareta trat an den Tisch und pustete mit einem heftigen Luftstoß alle vier Kerzen aus.
„Margareta!“
Dann war es still.
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#14 Sibirien
Margareta blieb misstrauisch. Es hatte sich etwas verändert im Raum, und nichts daran war gut. Ihr Vater und ihre Großeltern sagten kein einziges Wort, aber Margareta sah, wie ihre Mutter ihnen einen ernsten Blick zuwarf.
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#1 – Warteraum
Als ich drei Jahre alt war, bekam ich eine Gehirnhautentzündung. Seither bin ich taub. An Klänge erinnere ich mich überhaupt nicht. Geräusch – Stimme – Musik: Das sind nur Worte für mich. Ich habe mich daran gewöhnt. Was sonst?
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#2 – Weinbrand
Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock ...
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#3 – Salz
Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz.
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#4 – Marihuana
Sie aß das Brot in großen Bissen.
„Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
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#5 – Obst und Südfrüchte
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück vom Büfett mit dem Cognac-Schwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach, hoch oben, ließ milchig-trübes Licht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.
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#6 – Kaffee
Wohlverwahrt lag diese Geschichte in meinem Schreibtisch, als Bestandteil meiner Sammlung von Schicksalen. Das Mädchen war tot. Die Frau war belehrt.
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#7 – Tabasco
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemanden beneiden könnte. Niemals. Und jetzt beneide ich dieses Mädchen mir gegenüber um ihre Sorgen – und um ihre graue, hoffnungslose Jugend. Vielleicht könnte ich ein Gespräch mit ihr anfangen, damit ich nicht so armselig hier herumsitze. Der Zug fährt ja erst in einer Stunde ...
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#8 – Curry
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien der Frau gar nicht aufzufallen, ihr Vortrag ging weiter. „Es hat doch keinen Sinn, dass alle Frauen denken, sie könnten wie Claudia Schiffer oder wie Rosa Luxemburg sein, wenn sie sich ein bisschen anstrengten. Das macht sie doch bloß unglücklich. Alle Männer werden ja auch nicht Reinhold Messner ...
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#9 – Silberdose
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein ...
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#10 – Fruchtsaft
Die Frau trank ihr Glas leer.
„Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss ...“
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#11 – Bier
Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber.
„Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich.
„Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt ...
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#1
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf dass wir's essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, dass wir's bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus ...‘
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf daß wir’s essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, daß wir’s bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus, [...]‘
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#2
Maria Magdalena schob ihren Kopf durch den Spalt.
„Judas! Was willst du, mitten in der Nacht?“
„Lass mich ein. Bitte!“
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#3
„Hör zu! Ich erlaube dir nicht, so zu reden.“ Maria Magdalena war aufgebracht. „Du kommst zu mir mitten in der Nacht. Du bist verstört. Ich nehme dich auf. Wenn du müde bist, dann schlaf! Wenn du sprechen willst, sprich!“
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#4
„Und da kam Jesus. Er soll gesagt haben: ‚Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.‘ Seine Lehren sollten neu sein und tröstlich. Er brachte Menschen dazu, ihm zu folgen, ihr Leben zu ändern. Ich wollte ihn sehen.“
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#5
„Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich später geboren worden wäre. Dann hätte ich nur glauben müssen, was ich nicht zu sehen brauche. – Und doch habe ich an ihn geglaubt, auch so. Als Gott? Ich glaube, dass er glaubt, Gott zu sein. Doch ich hatte eine so ganz andere Vorstellung davon, wie Gott sein würde, wenn er leibhaftig zwischen uns tritt.“
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#6
Behutsam setzte sich Maria Magdalena auf den Rand des Bettes, dicht neben seinen Kopf.
Er öffnete die Augen. Sein Blick tat weh.
„Seit wann seid ihr wieder hier?“
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#7
„Wir saßen beisammen. Die Sonne war untergegangen, und die Hähne hatten aufgehört zu krähen. Petrus nickte beflissen zu allem mit dem Kopf, was Jesus sagte, ein richtiger Knecht, wie der HERR ihn braucht. Ich saß in der Ecke, etwas abseits und sah aus dem Fenster. Draußen war noch ein Leuchten, geheimnisvoll, unbestimmbar.“
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#8
„Am Montagmorgen gingen wir wieder nach Jerusalem. Am Abend vorher war die Lage schon bedrohlich geworden. Wir waren nur knapp davongekommen. Aber die Stadt zog Jesus an wie der Abgrund den Lebensmüden.“
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#9
„Jesus saß im Garten unter einem Myrthenstrauch. Die anderen waren bei ihm. Er sah auf, als ich durch das Tor trat, und in seinem Blick lag Misstrauen, zum ersten Mal. Niemals hatte mir ein Blick so weh getan.“ Judas schwieg.
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#01 | Ein Lebensmüder
Montag, fünfundzwanzigster März neunzehnhundertachtundsechzig.
Fastenzeit.
„Ich ... Ich glaube, ich kann das Leben nicht mehr aushalten.“
„Das klingt schlimm. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!“
„‚Bedrückt‘? Der Druck bedrückt mich. Ich halte ihn einfach nicht mehr aus.“
„Was halten Sie nicht mehr aus?“
„Ich halte es nicht mehr aus, daran zu denken, dass ich noch so lange leben muss.“
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#02 | Ein Fremdkörper
Dienstag, sechsundzwanzigster März:
Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.
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#03 | Eine Urlaubsbekanntschaft
Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln ...
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#04 | Der Sohn
‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“‘
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#05 | Der Entlassene
„Ist dort die Telefon-Seelsorge?“
„Ja.“
„Guten Abend!“
„Guten Abend!“
„Also, ich habe da ein Problem, mit dem ich nicht fertigwerde. Ich bin vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hab’ ein Jahr wegen Einbruch gesessen. Ich bin da in was reingeschlittert ... “
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#06 | Stattdessen
Donnerstag, den achtundzwanzigsten März.
Da fing es schon an, harmlos wie viele Katastrophen.
„Nicht doch, Othello! Lass mich noch ein bisschen schlafen! Es ist ja erst sechs.“
Othello war das egal.
Sie stand auf, schleppte den Kater mit zärtlicher Eile ins Wohnzimmer, ging zurück, machte die Tür fest hinter sich zu und legte sich wieder hin. Sie dachte an den Jungen vom vorigen Abend.
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#07 | Gefestigt
Freitag, den neunundzwanzigsten März.
Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld.
Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme.
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#08 | Wochenende
Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Milch, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett.
Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr.
Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten.
Es klingelte vier, fünf, sechs Mal.
Etwas mit Martin?
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#09 | Gymnastik
„Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und ich werde mit meiner Einsamkeit so schwer fertig.“
„Das ist ein großes Problem. Haben Sie Verwandte?“
„Mein Mann ist ums Leben gekommen, als ich vierundfünfzig war. Ich habe einen Sohn, der lebt in Amerika, und eine Tochter in Mainz. Aber außer zu den Feiertagen sehen wir uns nicht. Und die Anrufe alle paar Wochen, das ist schön, aber zu wenig.“
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#10 | Appetit
Mittwoch, den dritten April.
Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können.
Herr Friedemann lächelte zufrieden.
Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung.
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#11 | Banane
„Ja, schönen guten Abend! Ich ruf’ Sie an in einer Angelegenheit, also, ich war meinem Mann untreu.“
„Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“
„Nein. Noch nicht.“
„Ahnt Ihr Mann etwas davon?“
„Ich glaube, nein. Aber er sagt manchmal, ich sei so komisch.“
„Dauert das Verhältnis noch an?“
„Nein. Das war gar kein Verhältnis. Das war, als ich zur Kur war ...
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#12 | Dressing
Donnerstag, den vierten April.
„Wieviel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“
Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein.
„Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“
Nein, eigentlich nicht.
„Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“
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#13 | Stimmen
Das Telefon klingelte.
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren.
„Hallo!“
„Ja?“
„Martin, so etwas lässt sich nicht einfach mit einer Entschuldigung vom Tisch wischen!“
Die Scheiße liegt ja schon meterhoch auf dem Tisch, Frau Fischer!
„Du hast es nicht so gemeint? Du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast. Und du hast vielleicht sogar recht damit. Aber ich brauche Zeit, es zu verarbeiten.“
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#14 | Selbstachtung
„Guten Abend! ... Ich wollte mal Ihre Meinung hören. Ich komme vom Alkohol nicht weg. Also nicht, dass ich Trinker bin. Aber ich denk’, es könnte mal dahin kommen, wenn nicht was passiert.“
„Wie viel trinken Sie denn ungefähr am Tag?“
„Das kommt drauf an. Aber sechs bis acht Flaschen Bier können es schon werden.“
„Und einige Korn dazu?“
„Ja, ein paar Korn auch.“
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#15 | Geschmackszerstörer
Sie überlegte mit geschlossenen Augen. Vom Meer hatte sie geträumt, von Felsen, sie schwebte über getrockneten Salzlachen und Distelgewächsen, eine schaukelnde Bewegung, ein Tretboot, die Hängematte in ihrem Garten, als sie noch zusammen in Nienstedten gewohnt hatten. Herr Friedemann versuchte, ihr eine Flötenvase in den Mund zu schieben. Sie wollte sagen: ‚Hören Sie doch auf damit!‘, aber es war ein Knebel, sie brachte keinen Ton heraus, und ein Schatten beugte sich über sie, schweigend.
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#16 | Am Deich
Sie nahm das Telefon und wählte. „Adelheid, es tut mir leid. Ich fühl’ mich überhaupt nicht wohl. Ich kann’ heute Abend leider nicht mitkommen ins Theater.“
„Ach, nicht so schlimm. Etwas mit dem Magen. Wenn es ein kurzes Stück wäre, würde ich auch gehen. Aber bis elf im Parkett sitzen, das halt’ ich, glaub’ ich, in meinem Zustand nicht durch.“
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#17 | Mücken
„Einen Juden gleich nach dem Krieg zu heiraten, das war nach all dem Entsetzlichen ganz ungewöhnlich, na ja, schon deshalb, weil es kaum noch Juden gab.“ Sie lächelte schwach, Adelheid sah mit angespanntem Gesicht geradeaus, in den Wind und in den Sinn ihrer Worte. „Jetzt, rückblickend, frage ich mich, ob noch etwas anderes als Liebe mit im Spiel war.
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#18 | Tote Vögel
Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt?
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#19 | Mittlere Reife
„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“
„Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“
„Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“
„Wie alt ist Ihr Sohn?“
„Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“
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#20 | Biedermeier
So, da habe sie ihn wieder! Die Packer setzten ab.
Der finstere Apriltag verfinsterte sich noch mehr.
Der Frankfurter Schrank stand wieder vor dem Fenster. Ein gefräßiger Krake, der das Licht mit seinen Saugnäpfen verschlingt.
Herr Friedemann kam aus dem Hinterzimmer. Nun sei der Holzwurm hoffentlich beseitigt. Die Gaskammer habe er wohl kaum überleben können.
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#21 | Politur
Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören?
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#01 | Weil wir uns lieben
a) hochzeit halten – Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit.
Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen.
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#02 | Was ganz Besonderes
Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Chablis.
Der Bruder der Braut hielt sein Glas mit der flachen Hand zu. „Nein, danke!“
Der Kellner zog die Flasche zurück, ging einen Schritt weiter, schob die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, zwischen zwei Köpfen hindurch, die sich zunickten: ...
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#03 | Wer ich bin
b) zwei menschen – Meine lieben Zuhörer, heute möchte ich Ihnen die Geschichte des Narren Columbin erzählen, der an einem mittelalterlichen Hof lebte. Sie mögen nun sagen: ‚Du liebe Zeit, was sollen wir denn heutzutage mit einem Narren anfangen, der schon über fünfhundert Jahre tot ist?!‘ – Aber warten Sie ab, meine lieben Zuhörer!
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#04 | Wir werden’s versuchen
Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. ‚Fade out‘ der Dire Straits. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt.
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#05 | Positiv – Negativ
„Müssen wir bei dem Namen bleiben?“, fragte einer, „der Name ist das Schlimmste.“
„Der Name ist eingeführt“, sagte Robert, „darauf kommt es an. Der ganze Werbeetat, den wir haben, würde nicht ausreichen, einen neuen Namen so bekannt zu machen wie ‚Pick‘.“
„Aber im Deutschen passt ‚Pick‘ besser zu Vogelfutter als für einen Schokoladenriegel.
„Warum?“, fragte einer. „Kein Tag ohne einen guten ‚Pick‘ …“
„Ich lass mich täglich picken“, sagte jemand.
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#06 | Betroffen
„Robert, der Klaus sagt, er schafft das Storyboard für den neuen TV-Spot von ‚Rintra‘ nicht mehr.“
„Was?! Ich denk’, das ist längst fertig. Das brauch’ ich doch heute Abend in Berlin.“
„Ja, eben!“
Robert sprang von seinem Stuhl auf. „Und das sagst du mir jetzt erst?!“
„Weißt du, ich dachte …“
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#07 | Rohes Fleisch
Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben.
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#08 | Sensibler Kreativer
„Was? Das ist völlig neu für mich. Ich ruf Sie wieder an.“ Robert knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hoch. Er lief mit schnellen Schritten durch den Flur und riss die Tür zum Vorzimmer auf. „Ist er da?“
„Ja, aber er möchte im Augenblick nicht …“
Robert hatte die Klinke schon in der Hand.
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#09 | Berlin-Babel
Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott.
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#10 | Werbung mit sich selbst
Gleichzeitig mit dem Regen kam die Sonne. Durch ein Wolkenloch hindurch zeigte plötzlich dieser böse, besserwisserische Finger und strahlte einen Augenblick lang schulmeisterlich kaltes Licht auf zaghaft blühende Akazien und angeschmuddelte Mietshäuser.
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#11 | Auf der Kippe
Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen.
Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
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#12 | Zur Schau gestellt
Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung.
Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte.
Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen ...
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#13 | Es geht los
Martin saß in der U-Bahn. Der Zug holperte durch den Schacht. Da oben war Ostberlin. Da liefen einzelne Menschen zwischen Dunkelheit und Ruinen. Martin war nur einmal abends in Ostberlin gewesen, weil ihm damals jemand gesagt hatte, er müsse unbedingt den ‚Burgfrieden‘ mal kennenlernen ...
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#14 | Hengste
Ich mag Männer. Die etwas tuckigen, wenn sie den Kopf nach hinten werfen und lachen; die kerligen, wenn sie sich mit zusammengekniffenen Augen eine Zigarette anzünden; die Jungen, die neugierig kichern; und die älteren, die schon so was Abgewichstes im Gesicht haben – ich mag sie alle, alle ...
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#15 | Ziemlich christlich
Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht.
‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘
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#16 | Ein Fischzug
Eine Weile sprachen sie nicht. Sie hörten auf die hämmernde Musik und auf die Stimmen. Sie sahen Männer, auch Männer, die ihnen gefielen. Abspringen? Den leichten Weg gehen, der alles so schwer macht? Die laute, aber nicht lärmende Musik. Die Stimmen, die Köpfe. Dieser wütende Plan, sich vorübergehend in Hemmungslosigkeit zu verlieren: die pünktlich abrufbare Sucht zwischen zwei Tagen.
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#17 | Prometheus
Männer, Mähnen. Musik in monotonen Rhythmen. Asien oder Afrika. Qualm macht aus Silhouetten Schatten. Wird alles gut oder ist es gerade dabei, schiefzulaufen?
„Lebst du allein?“, fragte Martin.
„Ja. Jetzt ja. Ich hab’ mal ein paar Jahre lang mit jemandem zusammengelebt.“
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#18 | Im Flaschenhals
Mähnen, Männer, Macho. Manche kannte Robert. Die meisten nicht. Vertraute Verträumte. Verklärte Verklemmte. Und die Forschen und die Schwätzer. Die blinden Hühner, die nach Körnern picken, und die Gockel, die im Mist scharren.
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#19 | Im Rudel
d) in der dunkelkammer – Robert ging die Treppe runter und erst mal pissen. Er machte die Tür auf: Die Pinkelbecken waren leer. Die Tür dahinter war verriegelt. Während er seinen Strahl golden schimmern sah, hörte er verhaltenes Stöhnen. Vielleicht saß einer auf der Brille und saugte an der Eichel des anderen.
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#20 | Bestimmung
Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
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Wer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
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Panik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
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Berlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
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Bahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
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Taxe fahren | 05
Es goss in Strömen.
Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht.
„Also, was ist?“, fragte er.
„Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“
„Also los!“, sagte er.
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Ein Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch.
„Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“
„Achtzehn.“
„Na, wenigstens volljährig.“
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Sitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
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Ein zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze.
Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
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Ein Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume.
In der Küche lag ein Zettel:
Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
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Nach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen.
Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“
„Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
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Utensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn.
„Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“
Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig.
„Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“
Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
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Geschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an.
Wir saßen beim Essen.
Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“
„Ich weiß nicht.“
Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
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Mein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück.
Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“
Ich lächelte. „Danke!“
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In Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln.
„Gibst du mir das Salz rüber?“
„Danke. Hier ist der Pfeffer.“
Spielt sich so Leben ab?
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Das Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
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Verzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört.
Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle?
Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
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Berichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
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Nachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun.
Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
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01 – Judas
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#1
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf dass wir's essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, dass wir's bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus ...‘
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf daß wir’s essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, daß wir’s bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus, [...]‘
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#2
Maria Magdalena schob ihren Kopf durch den Spalt.
„Judas! Was willst du, mitten in der Nacht?“
„Lass mich ein. Bitte!“
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#3
„Hör zu! Ich erlaube dir nicht, so zu reden.“ Maria Magdalena war aufgebracht. „Du kommst zu mir mitten in der Nacht. Du bist verstört. Ich nehme dich auf. Wenn du müde bist, dann schlaf! Wenn du sprechen willst, sprich!“
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#4
„Und da kam Jesus. Er soll gesagt haben: ‚Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.‘ Seine Lehren sollten neu sein und tröstlich. Er brachte Menschen dazu, ihm zu folgen, ihr Leben zu ändern. Ich wollte ihn sehen.“
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#5
„Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich später geboren worden wäre. Dann hätte ich nur glauben müssen, was ich nicht zu sehen brauche. – Und doch habe ich an ihn geglaubt, auch so. Als Gott? Ich glaube, dass er glaubt, Gott zu sein. Doch ich hatte eine so ganz andere Vorstellung davon, wie Gott sein würde, wenn er leibhaftig zwischen uns tritt.“
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#6
Behutsam setzte sich Maria Magdalena auf den Rand des Bettes, dicht neben seinen Kopf.
Er öffnete die Augen. Sein Blick tat weh.
„Seit wann seid ihr wieder hier?“
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#7
„Wir saßen beisammen. Die Sonne war untergegangen, und die Hähne hatten aufgehört zu krähen. Petrus nickte beflissen zu allem mit dem Kopf, was Jesus sagte, ein richtiger Knecht, wie der HERR ihn braucht. Ich saß in der Ecke, etwas abseits und sah aus dem Fenster. Draußen war noch ein Leuchten, geheimnisvoll, unbestimmbar.“
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#8
„Am Montagmorgen gingen wir wieder nach Jerusalem. Am Abend vorher war die Lage schon bedrohlich geworden. Wir waren nur knapp davongekommen. Aber die Stadt zog Jesus an wie der Abgrund den Lebensmüden.“
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#9
„Jesus saß im Garten unter einem Myrthenstrauch. Die anderen waren bei ihm. Er sah auf, als ich durch das Tor trat, und in seinem Blick lag Misstrauen, zum ersten Mal. Niemals hatte mir ein Blick so weh getan.“ Judas schwieg.
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02 – Innocentia-Park
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#1 Die nächste Biegung
Schwups! Da war sie wieder. Eben noch war Margareta in der Welt gewesen, in der sie fliegen konnte und in der sie schön war, in der sie sich auskannte und in der sie sich zu Hause fühlte, und jetzt lag sie flach auf dem Bauch in ihrem Bett in der Welt, die ‚die richtige‘ hieß, ganz so, als ob ihre Traumwelt falsch wäre.
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#2 Eine Flamme zwischen den Fingern
Margareta wurde müde. Sie legte sich zurück ins Bett und schlief sofort ein.
„Margareta, wach auf! Der Nikolaus war da!“, sagte Hedwig, das Dienstmädchen. In Margaretas Stiefeln lagen Marzipanfrüchte und Schokoladennüsse in Goldpapier. Pech! Nun würde es ein ganzes Jahr dauern, bis Margareta wieder versuchen konnte, die Wahrheit über den Nikolaus herauszufinden.
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#3 Anders
„Wir sollten auch an die denken, denen es weniger gut geht als uns“, sagte die alte Frau Leseberg, „gerade jetzt!“
„Meinst du Janos?“, fragte Kai.
„Zum Beispiel“, sagte seine Großmutter, sie fühlte sich durch seinen konkreten Bezug etwas gestört in ihrer Andacht.
„Oder seine Familie“, sagte Margareta, „die mussten doch fliehen.“
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#4 Mmmh …!
Margareta war den Tränen nahe.
Sie starrte auf die drei brennenden Kerzen, keine davon hatte sie angezündet. Im letzten Augenblick hatte sie plötzlich wieder Angst bekommen, nicht so sehr vor der Flamme als davor, selber das Feuer zu entfachen. Sie hatte ihren Stuhl so weit wie möglich weggeschoben vom Tisch, weil sie den Gästen bestimmt nicht zu nahe treten wollte.
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#5 Rechtsempfinden
„Anna Seghers, diese alte Hexe, hat der neuen ungarischen Marionettenregierung zur Niederschlagung der Konterrevolution gratuliert. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte, Anna Seghers werde ich niemals durchnehmen.“
Margareta fragte sich, was Janos’ Schülern da wohl erspart bliebe, sie mochte auch keine Hexen, nicht mal im Märchen.
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#6 Bruchrechnung
„Möchte noch jemand Tee?“, fragte die junge Frau Leseberg.
Nacheinander hielten alle ihre Tassen hin wie zur Schulspeisung. Ihr Kakao hatte eine Haut bekommen, vor der sich Margareta ekelte, aber da niemand sie beachtete, war es kein Problem, diese Haut mit dem Zeigefinger abzuheben und in der Papierserviette mit Tannenzweigaufdruck verschwinden zu lassen.
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#7 Oben und unten
Siebenmal ‚werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!‘
Eva hatte die Haare straff zurückgekämmt und hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Nun sah sie wirklich ein bisschen wie eine Lehrerin aus: strenger, erwachsener, aber auch edler.
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#8 Rüdiger und Julia
Auf der Treppe sagte Eva leichthin: „Grüß deinen Bruder von mir! Er soll nicht so schüchtern sein.“
Margareta kamen diese zwei Sätze wichtiger vor als alle Bruchrechnung. „Ich werde es ihm gleich sagen.“
Eva merkte, wie viel besser Margareta diese Aufgabe gefiel als alle vorigen und sagte: „Ach nein, lass das lieber! Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken.“
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#9 Jenseits von Eden
Fünfmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Worauf es ankommt beim Bruchrechnen, das ist, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden“, sagte Eva, „verstehst du?“
Margareta überlegte, ob Nicken schon eine Lüge war.
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#10 Der kleinste gemeinsame Nenner
Margareta war etwas benommen. Das Wort ‚lieb‘ hatte ganz anders geklungen als vorgestern bei ihrer Mutter. Langsam ging Margareta die Treppe nach oben und klopfte an die Tür ihres Bruders.
„Komm rein!“, rief er.
Kaum war sie ins Zimmer getreten, da fuhr er sie an: „Bist du verrückt geworden?“
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#11 Der Ausbruch
Dreimal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Und jetzt zwei Siebtel und vier Neuntel“, sagte Eva.
„Wann braucht man denn das?“, fragte Margareta.
„Ich weiß auch nicht“, sagte Eva, „es ist ja nur ein Beispiel, zur Übung.“
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#12 Das Mädchen, das verbrannt ist
Einmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
Es war fünf vor fünf. Großmutter und Mutter waren in der Küche, Großvater und Vater waren in der Bibliothek, Kai war in seinem Zimmer.
Margareta nahm die Streichholzschachtel in die linke Hand, sie drückte die Schachtel mit dem Daumen auf, nahm ein Zündholz heraus und rieb den roten Zündkopf über die braune Seitenfläche.
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#13 Adventstee
Margareta begann zu weinen.
„Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!“, sagte die junge Frau Leseberg. „Komm, Margareta, komm her zu mir, es ist ja alles gut! Na, komm!“
Margareta trat an den Tisch und pustete mit einem heftigen Luftstoß alle vier Kerzen aus.
„Margareta!“
Dann war es still.
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#14 Sibirien
Margareta blieb misstrauisch. Es hatte sich etwas verändert im Raum, und nichts daran war gut. Ihr Vater und ihre Großeltern sagten kein einziges Wort, aber Margareta sah, wie ihre Mutter ihnen einen ernsten Blick zuwarf.
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03 – Regen in der Wüste
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#01 | Ein Lebensmüder
Montag, fünfundzwanzigster März neunzehnhundertachtundsechzig.
Fastenzeit.
„Ich ... Ich glaube, ich kann das Leben nicht mehr aushalten.“
„Das klingt schlimm. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!“
„‚Bedrückt‘? Der Druck bedrückt mich. Ich halte ihn einfach nicht mehr aus.“
„Was halten Sie nicht mehr aus?“
„Ich halte es nicht mehr aus, daran zu denken, dass ich noch so lange leben muss.“
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#02 | Ein Fremdkörper
Dienstag, sechsundzwanzigster März:
Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.
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#03 | Eine Urlaubsbekanntschaft
Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln ...
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#04 | Der Sohn
‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“‘
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#05 | Der Entlassene
„Ist dort die Telefon-Seelsorge?“
„Ja.“
„Guten Abend!“
„Guten Abend!“
„Also, ich habe da ein Problem, mit dem ich nicht fertigwerde. Ich bin vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hab’ ein Jahr wegen Einbruch gesessen. Ich bin da in was reingeschlittert ... “
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#06 | Stattdessen
Donnerstag, den achtundzwanzigsten März.
Da fing es schon an, harmlos wie viele Katastrophen.
„Nicht doch, Othello! Lass mich noch ein bisschen schlafen! Es ist ja erst sechs.“
Othello war das egal.
Sie stand auf, schleppte den Kater mit zärtlicher Eile ins Wohnzimmer, ging zurück, machte die Tür fest hinter sich zu und legte sich wieder hin. Sie dachte an den Jungen vom vorigen Abend.
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#07 | Gefestigt
Freitag, den neunundzwanzigsten März.
Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld.
Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme.
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#08 | Wochenende
Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Milch, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett.
Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr.
Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten.
Es klingelte vier, fünf, sechs Mal.
Etwas mit Martin?
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#09 | Gymnastik
„Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und ich werde mit meiner Einsamkeit so schwer fertig.“
„Das ist ein großes Problem. Haben Sie Verwandte?“
„Mein Mann ist ums Leben gekommen, als ich vierundfünfzig war. Ich habe einen Sohn, der lebt in Amerika, und eine Tochter in Mainz. Aber außer zu den Feiertagen sehen wir uns nicht. Und die Anrufe alle paar Wochen, das ist schön, aber zu wenig.“
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#10 | Appetit
Mittwoch, den dritten April.
Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können.
Herr Friedemann lächelte zufrieden.
Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung.
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#11 | Banane
„Ja, schönen guten Abend! Ich ruf’ Sie an in einer Angelegenheit, also, ich war meinem Mann untreu.“
„Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“
„Nein. Noch nicht.“
„Ahnt Ihr Mann etwas davon?“
„Ich glaube, nein. Aber er sagt manchmal, ich sei so komisch.“
„Dauert das Verhältnis noch an?“
„Nein. Das war gar kein Verhältnis. Das war, als ich zur Kur war ...
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#12 | Dressing
Donnerstag, den vierten April.
„Wieviel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“
Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein.
„Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“
Nein, eigentlich nicht.
„Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“
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#13 | Stimmen
Das Telefon klingelte.
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren.
„Hallo!“
„Ja?“
„Martin, so etwas lässt sich nicht einfach mit einer Entschuldigung vom Tisch wischen!“
Die Scheiße liegt ja schon meterhoch auf dem Tisch, Frau Fischer!
„Du hast es nicht so gemeint? Du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast. Und du hast vielleicht sogar recht damit. Aber ich brauche Zeit, es zu verarbeiten.“
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#14 | Selbstachtung
„Guten Abend! ... Ich wollte mal Ihre Meinung hören. Ich komme vom Alkohol nicht weg. Also nicht, dass ich Trinker bin. Aber ich denk’, es könnte mal dahin kommen, wenn nicht was passiert.“
„Wie viel trinken Sie denn ungefähr am Tag?“
„Das kommt drauf an. Aber sechs bis acht Flaschen Bier können es schon werden.“
„Und einige Korn dazu?“
„Ja, ein paar Korn auch.“
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#15 | Geschmackszerstörer
Sie überlegte mit geschlossenen Augen. Vom Meer hatte sie geträumt, von Felsen, sie schwebte über getrockneten Salzlachen und Distelgewächsen, eine schaukelnde Bewegung, ein Tretboot, die Hängematte in ihrem Garten, als sie noch zusammen in Nienstedten gewohnt hatten. Herr Friedemann versuchte, ihr eine Flötenvase in den Mund zu schieben. Sie wollte sagen: ‚Hören Sie doch auf damit!‘, aber es war ein Knebel, sie brachte keinen Ton heraus, und ein Schatten beugte sich über sie, schweigend.
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#16 | Am Deich
Sie nahm das Telefon und wählte. „Adelheid, es tut mir leid. Ich fühl’ mich überhaupt nicht wohl. Ich kann’ heute Abend leider nicht mitkommen ins Theater.“
„Ach, nicht so schlimm. Etwas mit dem Magen. Wenn es ein kurzes Stück wäre, würde ich auch gehen. Aber bis elf im Parkett sitzen, das halt’ ich, glaub’ ich, in meinem Zustand nicht durch.“
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#17 | Mücken
„Einen Juden gleich nach dem Krieg zu heiraten, das war nach all dem Entsetzlichen ganz ungewöhnlich, na ja, schon deshalb, weil es kaum noch Juden gab.“ Sie lächelte schwach, Adelheid sah mit angespanntem Gesicht geradeaus, in den Wind und in den Sinn ihrer Worte. „Jetzt, rückblickend, frage ich mich, ob noch etwas anderes als Liebe mit im Spiel war.
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#18 | Tote Vögel
Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt?
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#19 | Mittlere Reife
„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“
„Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“
„Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“
„Wie alt ist Ihr Sohn?“
„Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“
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#20 | Biedermeier
So, da habe sie ihn wieder! Die Packer setzten ab.
Der finstere Apriltag verfinsterte sich noch mehr.
Der Frankfurter Schrank stand wieder vor dem Fenster. Ein gefräßiger Krake, der das Licht mit seinen Saugnäpfen verschlingt.
Herr Friedemann kam aus dem Hinterzimmer. Nun sei der Holzwurm hoffentlich beseitigt. Die Gaskammer habe er wohl kaum überleben können.
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#21 | Politur
Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören?
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04 – Beelzebub und der Teufel
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#01 | Weil wir uns lieben
a) hochzeit halten – Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit.
Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen.
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#02 | Was ganz Besonderes
Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Chablis.
Der Bruder der Braut hielt sein Glas mit der flachen Hand zu. „Nein, danke!“
Der Kellner zog die Flasche zurück, ging einen Schritt weiter, schob die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, zwischen zwei Köpfen hindurch, die sich zunickten: ...
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#03 | Wer ich bin
b) zwei menschen – Meine lieben Zuhörer, heute möchte ich Ihnen die Geschichte des Narren Columbin erzählen, der an einem mittelalterlichen Hof lebte. Sie mögen nun sagen: ‚Du liebe Zeit, was sollen wir denn heutzutage mit einem Narren anfangen, der schon über fünfhundert Jahre tot ist?!‘ – Aber warten Sie ab, meine lieben Zuhörer!
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#04 | Wir werden’s versuchen
Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. ‚Fade out‘ der Dire Straits. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt.
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#05 | Positiv – Negativ
„Müssen wir bei dem Namen bleiben?“, fragte einer, „der Name ist das Schlimmste.“
„Der Name ist eingeführt“, sagte Robert, „darauf kommt es an. Der ganze Werbeetat, den wir haben, würde nicht ausreichen, einen neuen Namen so bekannt zu machen wie ‚Pick‘.“
„Aber im Deutschen passt ‚Pick‘ besser zu Vogelfutter als für einen Schokoladenriegel.
„Warum?“, fragte einer. „Kein Tag ohne einen guten ‚Pick‘ …“
„Ich lass mich täglich picken“, sagte jemand.
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#06 | Betroffen
„Robert, der Klaus sagt, er schafft das Storyboard für den neuen TV-Spot von ‚Rintra‘ nicht mehr.“
„Was?! Ich denk’, das ist längst fertig. Das brauch’ ich doch heute Abend in Berlin.“
„Ja, eben!“
Robert sprang von seinem Stuhl auf. „Und das sagst du mir jetzt erst?!“
„Weißt du, ich dachte …“
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#07 | Rohes Fleisch
Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben.
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#08 | Sensibler Kreativer
„Was? Das ist völlig neu für mich. Ich ruf Sie wieder an.“ Robert knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hoch. Er lief mit schnellen Schritten durch den Flur und riss die Tür zum Vorzimmer auf. „Ist er da?“
„Ja, aber er möchte im Augenblick nicht …“
Robert hatte die Klinke schon in der Hand.
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#09 | Berlin-Babel
Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott.
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#10 | Werbung mit sich selbst
Gleichzeitig mit dem Regen kam die Sonne. Durch ein Wolkenloch hindurch zeigte plötzlich dieser böse, besserwisserische Finger und strahlte einen Augenblick lang schulmeisterlich kaltes Licht auf zaghaft blühende Akazien und angeschmuddelte Mietshäuser.
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#11 | Auf der Kippe
Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen.
Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
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#12 | Zur Schau gestellt
Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung.
Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte.
Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen ...
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#13 | Es geht los
Martin saß in der U-Bahn. Der Zug holperte durch den Schacht. Da oben war Ostberlin. Da liefen einzelne Menschen zwischen Dunkelheit und Ruinen. Martin war nur einmal abends in Ostberlin gewesen, weil ihm damals jemand gesagt hatte, er müsse unbedingt den ‚Burgfrieden‘ mal kennenlernen ...
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#14 | Hengste
Ich mag Männer. Die etwas tuckigen, wenn sie den Kopf nach hinten werfen und lachen; die kerligen, wenn sie sich mit zusammengekniffenen Augen eine Zigarette anzünden; die Jungen, die neugierig kichern; und die älteren, die schon so was Abgewichstes im Gesicht haben – ich mag sie alle, alle ...
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#15 | Ziemlich christlich
Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht.
‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘
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#16 | Ein Fischzug
Eine Weile sprachen sie nicht. Sie hörten auf die hämmernde Musik und auf die Stimmen. Sie sahen Männer, auch Männer, die ihnen gefielen. Abspringen? Den leichten Weg gehen, der alles so schwer macht? Die laute, aber nicht lärmende Musik. Die Stimmen, die Köpfe. Dieser wütende Plan, sich vorübergehend in Hemmungslosigkeit zu verlieren: die pünktlich abrufbare Sucht zwischen zwei Tagen.
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#17 | Prometheus
Männer, Mähnen. Musik in monotonen Rhythmen. Asien oder Afrika. Qualm macht aus Silhouetten Schatten. Wird alles gut oder ist es gerade dabei, schiefzulaufen?
„Lebst du allein?“, fragte Martin.
„Ja. Jetzt ja. Ich hab’ mal ein paar Jahre lang mit jemandem zusammengelebt.“
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#18 | Im Flaschenhals
Mähnen, Männer, Macho. Manche kannte Robert. Die meisten nicht. Vertraute Verträumte. Verklärte Verklemmte. Und die Forschen und die Schwätzer. Die blinden Hühner, die nach Körnern picken, und die Gockel, die im Mist scharren.
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#19 | Im Rudel
d) in der dunkelkammer – Robert ging die Treppe runter und erst mal pissen. Er machte die Tür auf: Die Pinkelbecken waren leer. Die Tür dahinter war verriegelt. Während er seinen Strahl golden schimmern sah, hörte er verhaltenes Stöhnen. Vielleicht saß einer auf der Brille und saugte an der Eichel des anderen.
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#20 | Bestimmung
Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
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05 – Die Hostie
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#1 – Warteraum
Als ich drei Jahre alt war, bekam ich eine Gehirnhautentzündung. Seither bin ich taub. An Klänge erinnere ich mich überhaupt nicht. Geräusch – Stimme – Musik: Das sind nur Worte für mich. Ich habe mich daran gewöhnt. Was sonst?
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#2 – Weinbrand
Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock ...
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#3 – Salz
Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz.
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#4 – Marihuana
Sie aß das Brot in großen Bissen.
„Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
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#5 – Obst und Südfrüchte
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück vom Büfett mit dem Cognac-Schwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach, hoch oben, ließ milchig-trübes Licht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.
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#6 – Kaffee
Wohlverwahrt lag diese Geschichte in meinem Schreibtisch, als Bestandteil meiner Sammlung von Schicksalen. Das Mädchen war tot. Die Frau war belehrt.
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#7 – Tabasco
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemanden beneiden könnte. Niemals. Und jetzt beneide ich dieses Mädchen mir gegenüber um ihre Sorgen – und um ihre graue, hoffnungslose Jugend. Vielleicht könnte ich ein Gespräch mit ihr anfangen, damit ich nicht so armselig hier herumsitze. Der Zug fährt ja erst in einer Stunde ...
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#8 – Curry
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien der Frau gar nicht aufzufallen, ihr Vortrag ging weiter. „Es hat doch keinen Sinn, dass alle Frauen denken, sie könnten wie Claudia Schiffer oder wie Rosa Luxemburg sein, wenn sie sich ein bisschen anstrengten. Das macht sie doch bloß unglücklich. Alle Männer werden ja auch nicht Reinhold Messner ...
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#9 – Silberdose
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein ...
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#10 – Fruchtsaft
Die Frau trank ihr Glas leer.
„Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss ...“
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#11 – Bier
Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber.
„Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich.
„Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt ...
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06 – Ein Eremit
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Wer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
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Panik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
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Berlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
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Bahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
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Taxe fahren | 05
Es goss in Strömen.
Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht.
„Also, was ist?“, fragte er.
„Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“
„Also los!“, sagte er.
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Ein Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch.
„Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“
„Achtzehn.“
„Na, wenigstens volljährig.“
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Sitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
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Ein zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze.
Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
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Ein Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume.
In der Küche lag ein Zettel:
Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
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Nach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen.
Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“
„Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
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Utensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn.
„Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“
Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig.
„Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“
Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
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Geschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an.
Wir saßen beim Essen.
Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“
„Ich weiß nicht.“
Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
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Mein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück.
Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“
Ich lächelte. „Danke!“
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In Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln.
„Gibst du mir das Salz rüber?“
„Danke. Hier ist der Pfeffer.“
Spielt sich so Leben ab?
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Das Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
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Verzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört.
Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle?
Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
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Berichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
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Nachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun.
Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
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#1 Die nächste Biegung
Schwups! Da war sie wieder. Eben noch war Margareta in der Welt gewesen, in der sie fliegen konnte und in der sie schön war, in der sie sich auskannte und in der sie sich zu Hause fühlte, und jetzt lag sie flach auf dem Bauch in ihrem Bett in der Welt, die ‚die richtige‘ hieß, ganz so, als ob ihre Traumwelt falsch wäre.
weiterlesen#2 Eine Flamme zwischen den Fingern
Margareta wurde müde. Sie legte sich zurück ins Bett und schlief sofort ein. „Margareta, wach auf! Der Nikolaus war da!“, sagte Hedwig, das Dienstmädchen. In Margaretas Stiefeln lagen Marzipanfrüchte und Schokoladennüsse in Goldpapier. Pech! Nun würde es ein ganzes Jahr dauern, bis Margareta wieder versuchen konnte, die Wahrheit über den Nikolaus herauszufinden.
weiterlesen#3 Anders
„Wir sollten auch an die denken, denen es weniger gut geht als uns“, sagte die alte Frau Leseberg, „gerade jetzt!“ „Meinst du Janos?“, fragte Kai. „Zum Beispiel“, sagte seine Großmutter, sie fühlte sich durch seinen konkreten Bezug etwas gestört in ihrer Andacht. „Oder seine Familie“, sagte Margareta, „die mussten doch fliehen.“
weiterlesen#4 Mmmh …!
Margareta war den Tränen nahe. Sie starrte auf die drei brennenden Kerzen, keine davon hatte sie angezündet. Im letzten Augenblick hatte sie plötzlich wieder Angst bekommen, nicht so sehr vor der Flamme als davor, selber das Feuer zu entfachen. Sie hatte ihren Stuhl so weit wie möglich weggeschoben vom Tisch, weil sie den Gästen bestimmt nicht zu nahe treten wollte.
weiterlesen#5 Rechtsempfinden
„Anna Seghers, diese alte Hexe, hat der neuen ungarischen Marionettenregierung zur Niederschlagung der Konterrevolution gratuliert. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte, Anna Seghers werde ich niemals durchnehmen.“ Margareta fragte sich, was Janos’ Schülern da wohl erspart bliebe, sie mochte auch keine Hexen, nicht mal im Märchen.
weiterlesen#6 Bruchrechnung
„Möchte noch jemand Tee?“, fragte die junge Frau Leseberg. Nacheinander hielten alle ihre Tassen hin wie zur Schulspeisung. Ihr Kakao hatte eine Haut bekommen, vor der sich Margareta ekelte, aber da niemand sie beachtete, war es kein Problem, diese Haut mit dem Zeigefinger abzuheben und in der Papierserviette mit Tannenzweigaufdruck verschwinden zu lassen.
weiterlesen#7 Oben und unten
Siebenmal ‚werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!‘ Eva hatte die Haare straff zurückgekämmt und hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Nun sah sie wirklich ein bisschen wie eine Lehrerin aus: strenger, erwachsener, aber auch edler.
weiterlesen#8 Rüdiger und Julia
Auf der Treppe sagte Eva leichthin: „Grüß deinen Bruder von mir! Er soll nicht so schüchtern sein.“ Margareta kamen diese zwei Sätze wichtiger vor als alle Bruchrechnung. „Ich werde es ihm gleich sagen.“ Eva merkte, wie viel besser Margareta diese Aufgabe gefiel als alle vorigen und sagte: „Ach nein, lass das lieber! Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken.“
weiterlesen#9 Jenseits von Eden
Fünfmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag! „Worauf es ankommt beim Bruchrechnen, das ist, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden“, sagte Eva, „verstehst du?“ Margareta überlegte, ob Nicken schon eine Lüge war.
weiterlesen#10 Der kleinste gemeinsame Nenner
Margareta war etwas benommen. Das Wort ‚lieb‘ hatte ganz anders geklungen als vorgestern bei ihrer Mutter. Langsam ging Margareta die Treppe nach oben und klopfte an die Tür ihres Bruders. „Komm rein!“, rief er. Kaum war sie ins Zimmer getreten, da fuhr er sie an: „Bist du verrückt geworden?“
weiterlesen#11 Der Ausbruch
Dreimal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag! „Und jetzt zwei Siebtel und vier Neuntel“, sagte Eva. „Wann braucht man denn das?“, fragte Margareta. „Ich weiß auch nicht“, sagte Eva, „es ist ja nur ein Beispiel, zur Übung.“
weiterlesen#12 Das Mädchen, das verbrannt ist
Einmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag! Es war fünf vor fünf. Großmutter und Mutter waren in der Küche, Großvater und Vater waren in der Bibliothek, Kai war in seinem Zimmer. Margareta nahm die Streichholzschachtel in die linke Hand, sie drückte die Schachtel mit dem Daumen auf, nahm ein Zündholz heraus und rieb den roten Zündkopf über die braune Seitenfläche.
weiterlesen#13 Adventstee
Margareta begann zu weinen. „Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!“, sagte die junge Frau Leseberg. „Komm, Margareta, komm her zu mir, es ist ja alles gut! Na, komm!“ Margareta trat an den Tisch und pustete mit einem heftigen Luftstoß alle vier Kerzen aus. „Margareta!“ Dann war es still.
weiterlesen#14 Sibirien
Margareta blieb misstrauisch. Es hatte sich etwas verändert im Raum, und nichts daran war gut. Ihr Vater und ihre Großeltern sagten kein einziges Wort, aber Margareta sah, wie ihre Mutter ihnen einen ernsten Blick zuwarf.
weiterlesen#1 – Warteraum
Als ich drei Jahre alt war, bekam ich eine Gehirnhautentzündung. Seither bin ich taub. An Klänge erinnere ich mich überhaupt nicht. Geräusch – Stimme – Musik: Das sind nur Worte für mich. Ich habe mich daran gewöhnt. Was sonst?
weiterlesen#2 – Weinbrand
Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock ...
weiterlesen#3 – Salz
Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz.
weiterlesen#4 – Marihuana
Sie aß das Brot in großen Bissen. „Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
weiterlesen#5 – Obst und Südfrüchte
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft. Die Frau kam zurück vom Büfett mit dem Cognac-Schwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach, hoch oben, ließ milchig-trübes Licht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.
weiterlesen#6 – Kaffee
Wohlverwahrt lag diese Geschichte in meinem Schreibtisch, als Bestandteil meiner Sammlung von Schicksalen. Das Mädchen war tot. Die Frau war belehrt.
weiterlesen#7 – Tabasco
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemanden beneiden könnte. Niemals. Und jetzt beneide ich dieses Mädchen mir gegenüber um ihre Sorgen – und um ihre graue, hoffnungslose Jugend. Vielleicht könnte ich ein Gespräch mit ihr anfangen, damit ich nicht so armselig hier herumsitze. Der Zug fährt ja erst in einer Stunde ...
weiterlesen#8 – Curry
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien der Frau gar nicht aufzufallen, ihr Vortrag ging weiter. „Es hat doch keinen Sinn, dass alle Frauen denken, sie könnten wie Claudia Schiffer oder wie Rosa Luxemburg sein, wenn sie sich ein bisschen anstrengten. Das macht sie doch bloß unglücklich. Alle Männer werden ja auch nicht Reinhold Messner ...
weiterlesen#9 – Silberdose
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft. Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein ...
weiterlesen#10 – Fruchtsaft
Die Frau trank ihr Glas leer. „Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss ...“
weiterlesen#11 – Bier
Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber. „Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich. „Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt ...
weiterlesen#1
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf dass wir's essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, dass wir's bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus ...‘ ‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf daß wir’s essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, daß wir’s bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus, [...]‘
weiterlesen#2
Maria Magdalena schob ihren Kopf durch den Spalt. „Judas! Was willst du, mitten in der Nacht?“ „Lass mich ein. Bitte!“
weiterlesen#3
„Hör zu! Ich erlaube dir nicht, so zu reden.“ Maria Magdalena war aufgebracht. „Du kommst zu mir mitten in der Nacht. Du bist verstört. Ich nehme dich auf. Wenn du müde bist, dann schlaf! Wenn du sprechen willst, sprich!“
weiterlesen#4
„Und da kam Jesus. Er soll gesagt haben: ‚Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.‘ Seine Lehren sollten neu sein und tröstlich. Er brachte Menschen dazu, ihm zu folgen, ihr Leben zu ändern. Ich wollte ihn sehen.“
weiterlesen#5
„Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich später geboren worden wäre. Dann hätte ich nur glauben müssen, was ich nicht zu sehen brauche. – Und doch habe ich an ihn geglaubt, auch so. Als Gott? Ich glaube, dass er glaubt, Gott zu sein. Doch ich hatte eine so ganz andere Vorstellung davon, wie Gott sein würde, wenn er leibhaftig zwischen uns tritt.“
weiterlesen#6
Behutsam setzte sich Maria Magdalena auf den Rand des Bettes, dicht neben seinen Kopf. Er öffnete die Augen. Sein Blick tat weh. „Seit wann seid ihr wieder hier?“
weiterlesen#7
„Wir saßen beisammen. Die Sonne war untergegangen, und die Hähne hatten aufgehört zu krähen. Petrus nickte beflissen zu allem mit dem Kopf, was Jesus sagte, ein richtiger Knecht, wie der HERR ihn braucht. Ich saß in der Ecke, etwas abseits und sah aus dem Fenster. Draußen war noch ein Leuchten, geheimnisvoll, unbestimmbar.“
weiterlesen#8
„Am Montagmorgen gingen wir wieder nach Jerusalem. Am Abend vorher war die Lage schon bedrohlich geworden. Wir waren nur knapp davongekommen. Aber die Stadt zog Jesus an wie der Abgrund den Lebensmüden.“
weiterlesen#9
„Jesus saß im Garten unter einem Myrthenstrauch. Die anderen waren bei ihm. Er sah auf, als ich durch das Tor trat, und in seinem Blick lag Misstrauen, zum ersten Mal. Niemals hatte mir ein Blick so weh getan.“ Judas schwieg.
weiterlesen#01 | Ein Lebensmüder
Montag, fünfundzwanzigster März neunzehnhundertachtundsechzig. Fastenzeit. „Ich ... Ich glaube, ich kann das Leben nicht mehr aushalten.“ „Das klingt schlimm. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!“ „‚Bedrückt‘? Der Druck bedrückt mich. Ich halte ihn einfach nicht mehr aus.“ „Was halten Sie nicht mehr aus?“ „Ich halte es nicht mehr aus, daran zu denken, dass ich noch so lange leben muss.“
weiterlesen#02 | Ein Fremdkörper
Dienstag, sechsundzwanzigster März: Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.
weiterlesen#03 | Eine Urlaubsbekanntschaft
Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln ...
weiterlesen#04 | Der Sohn
‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“‘
weiterlesen#05 | Der Entlassene
„Ist dort die Telefon-Seelsorge?“ „Ja.“ „Guten Abend!“ „Guten Abend!“ „Also, ich habe da ein Problem, mit dem ich nicht fertigwerde. Ich bin vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hab’ ein Jahr wegen Einbruch gesessen. Ich bin da in was reingeschlittert ... “
weiterlesen#06 | Stattdessen
Donnerstag, den achtundzwanzigsten März. Da fing es schon an, harmlos wie viele Katastrophen. „Nicht doch, Othello! Lass mich noch ein bisschen schlafen! Es ist ja erst sechs.“ Othello war das egal. Sie stand auf, schleppte den Kater mit zärtlicher Eile ins Wohnzimmer, ging zurück, machte die Tür fest hinter sich zu und legte sich wieder hin. Sie dachte an den Jungen vom vorigen Abend.
weiterlesen#07 | Gefestigt
Freitag, den neunundzwanzigsten März. Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld. Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme.
weiterlesen#08 | Wochenende
Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Milch, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett. Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr. Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten. Es klingelte vier, fünf, sechs Mal. Etwas mit Martin?
weiterlesen#09 | Gymnastik
„Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und ich werde mit meiner Einsamkeit so schwer fertig.“ „Das ist ein großes Problem. Haben Sie Verwandte?“ „Mein Mann ist ums Leben gekommen, als ich vierundfünfzig war. Ich habe einen Sohn, der lebt in Amerika, und eine Tochter in Mainz. Aber außer zu den Feiertagen sehen wir uns nicht. Und die Anrufe alle paar Wochen, das ist schön, aber zu wenig.“
weiterlesen#10 | Appetit
Mittwoch, den dritten April. Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können. Herr Friedemann lächelte zufrieden. Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung.
weiterlesen#11 | Banane
„Ja, schönen guten Abend! Ich ruf’ Sie an in einer Angelegenheit, also, ich war meinem Mann untreu.“ „Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“ „Nein. Noch nicht.“ „Ahnt Ihr Mann etwas davon?“ „Ich glaube, nein. Aber er sagt manchmal, ich sei so komisch.“ „Dauert das Verhältnis noch an?“ „Nein. Das war gar kein Verhältnis. Das war, als ich zur Kur war ...
weiterlesen#12 | Dressing
Donnerstag, den vierten April. „Wieviel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“ Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein. „Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“ Nein, eigentlich nicht. „Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“
weiterlesen#13 | Stimmen
Das Telefon klingelte. Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren. „Hallo!“ „Ja?“ „Martin, so etwas lässt sich nicht einfach mit einer Entschuldigung vom Tisch wischen!“ Die Scheiße liegt ja schon meterhoch auf dem Tisch, Frau Fischer! „Du hast es nicht so gemeint? Du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast. Und du hast vielleicht sogar recht damit. Aber ich brauche Zeit, es zu verarbeiten.“
weiterlesen#14 | Selbstachtung
„Guten Abend! ... Ich wollte mal Ihre Meinung hören. Ich komme vom Alkohol nicht weg. Also nicht, dass ich Trinker bin. Aber ich denk’, es könnte mal dahin kommen, wenn nicht was passiert.“ „Wie viel trinken Sie denn ungefähr am Tag?“ „Das kommt drauf an. Aber sechs bis acht Flaschen Bier können es schon werden.“ „Und einige Korn dazu?“ „Ja, ein paar Korn auch.“
weiterlesen#15 | Geschmackszerstörer
Sie überlegte mit geschlossenen Augen. Vom Meer hatte sie geträumt, von Felsen, sie schwebte über getrockneten Salzlachen und Distelgewächsen, eine schaukelnde Bewegung, ein Tretboot, die Hängematte in ihrem Garten, als sie noch zusammen in Nienstedten gewohnt hatten. Herr Friedemann versuchte, ihr eine Flötenvase in den Mund zu schieben. Sie wollte sagen: ‚Hören Sie doch auf damit!‘, aber es war ein Knebel, sie brachte keinen Ton heraus, und ein Schatten beugte sich über sie, schweigend.
weiterlesen#16 | Am Deich
Sie nahm das Telefon und wählte. „Adelheid, es tut mir leid. Ich fühl’ mich überhaupt nicht wohl. Ich kann’ heute Abend leider nicht mitkommen ins Theater.“ „Ach, nicht so schlimm. Etwas mit dem Magen. Wenn es ein kurzes Stück wäre, würde ich auch gehen. Aber bis elf im Parkett sitzen, das halt’ ich, glaub’ ich, in meinem Zustand nicht durch.“
weiterlesen#17 | Mücken
„Einen Juden gleich nach dem Krieg zu heiraten, das war nach all dem Entsetzlichen ganz ungewöhnlich, na ja, schon deshalb, weil es kaum noch Juden gab.“ Sie lächelte schwach, Adelheid sah mit angespanntem Gesicht geradeaus, in den Wind und in den Sinn ihrer Worte. „Jetzt, rückblickend, frage ich mich, ob noch etwas anderes als Liebe mit im Spiel war.
weiterlesen#18 | Tote Vögel
Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt?
weiterlesen#19 | Mittlere Reife
„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“ „Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“ „Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“ „Wie alt ist Ihr Sohn?“ „Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“
weiterlesen#20 | Biedermeier
So, da habe sie ihn wieder! Die Packer setzten ab. Der finstere Apriltag verfinsterte sich noch mehr. Der Frankfurter Schrank stand wieder vor dem Fenster. Ein gefräßiger Krake, der das Licht mit seinen Saugnäpfen verschlingt. Herr Friedemann kam aus dem Hinterzimmer. Nun sei der Holzwurm hoffentlich beseitigt. Die Gaskammer habe er wohl kaum überleben können.
weiterlesen#21 | Politur
Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören?
weiterlesen#01 | Weil wir uns lieben
a) hochzeit halten – Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit. Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen.
weiterlesen#02 | Was ganz Besonderes
Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Chablis. Der Bruder der Braut hielt sein Glas mit der flachen Hand zu. „Nein, danke!“ Der Kellner zog die Flasche zurück, ging einen Schritt weiter, schob die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, zwischen zwei Köpfen hindurch, die sich zunickten: ...
weiterlesen#03 | Wer ich bin
b) zwei menschen – Meine lieben Zuhörer, heute möchte ich Ihnen die Geschichte des Narren Columbin erzählen, der an einem mittelalterlichen Hof lebte. Sie mögen nun sagen: ‚Du liebe Zeit, was sollen wir denn heutzutage mit einem Narren anfangen, der schon über fünfhundert Jahre tot ist?!‘ – Aber warten Sie ab, meine lieben Zuhörer!
weiterlesen#04 | Wir werden’s versuchen
Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. ‚Fade out‘ der Dire Straits. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt.
weiterlesen#05 | Positiv – Negativ
„Müssen wir bei dem Namen bleiben?“, fragte einer, „der Name ist das Schlimmste.“ „Der Name ist eingeführt“, sagte Robert, „darauf kommt es an. Der ganze Werbeetat, den wir haben, würde nicht ausreichen, einen neuen Namen so bekannt zu machen wie ‚Pick‘.“ „Aber im Deutschen passt ‚Pick‘ besser zu Vogelfutter als für einen Schokoladenriegel. „Warum?“, fragte einer. „Kein Tag ohne einen guten ‚Pick‘ …“ „Ich lass mich täglich picken“, sagte jemand.
weiterlesen#06 | Betroffen
„Robert, der Klaus sagt, er schafft das Storyboard für den neuen TV-Spot von ‚Rintra‘ nicht mehr.“ „Was?! Ich denk’, das ist längst fertig. Das brauch’ ich doch heute Abend in Berlin.“ „Ja, eben!“ Robert sprang von seinem Stuhl auf. „Und das sagst du mir jetzt erst?!“ „Weißt du, ich dachte …“
weiterlesen#07 | Rohes Fleisch
Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben.
weiterlesen#08 | Sensibler Kreativer
„Was? Das ist völlig neu für mich. Ich ruf Sie wieder an.“ Robert knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hoch. Er lief mit schnellen Schritten durch den Flur und riss die Tür zum Vorzimmer auf. „Ist er da?“ „Ja, aber er möchte im Augenblick nicht …“ Robert hatte die Klinke schon in der Hand.
weiterlesen#09 | Berlin-Babel
Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott.
weiterlesen#10 | Werbung mit sich selbst
Gleichzeitig mit dem Regen kam die Sonne. Durch ein Wolkenloch hindurch zeigte plötzlich dieser böse, besserwisserische Finger und strahlte einen Augenblick lang schulmeisterlich kaltes Licht auf zaghaft blühende Akazien und angeschmuddelte Mietshäuser.
weiterlesen#11 | Auf der Kippe
Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen. Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
weiterlesen#12 | Zur Schau gestellt
Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung. Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte. Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen ...
weiterlesen#13 | Es geht los
Martin saß in der U-Bahn. Der Zug holperte durch den Schacht. Da oben war Ostberlin. Da liefen einzelne Menschen zwischen Dunkelheit und Ruinen. Martin war nur einmal abends in Ostberlin gewesen, weil ihm damals jemand gesagt hatte, er müsse unbedingt den ‚Burgfrieden‘ mal kennenlernen ...
weiterlesen#14 | Hengste
Ich mag Männer. Die etwas tuckigen, wenn sie den Kopf nach hinten werfen und lachen; die kerligen, wenn sie sich mit zusammengekniffenen Augen eine Zigarette anzünden; die Jungen, die neugierig kichern; und die älteren, die schon so was Abgewichstes im Gesicht haben – ich mag sie alle, alle ...
weiterlesen#15 | Ziemlich christlich
Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht. ‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘
weiterlesen#16 | Ein Fischzug
Eine Weile sprachen sie nicht. Sie hörten auf die hämmernde Musik und auf die Stimmen. Sie sahen Männer, auch Männer, die ihnen gefielen. Abspringen? Den leichten Weg gehen, der alles so schwer macht? Die laute, aber nicht lärmende Musik. Die Stimmen, die Köpfe. Dieser wütende Plan, sich vorübergehend in Hemmungslosigkeit zu verlieren: die pünktlich abrufbare Sucht zwischen zwei Tagen.
weiterlesen#17 | Prometheus
Männer, Mähnen. Musik in monotonen Rhythmen. Asien oder Afrika. Qualm macht aus Silhouetten Schatten. Wird alles gut oder ist es gerade dabei, schiefzulaufen? „Lebst du allein?“, fragte Martin. „Ja. Jetzt ja. Ich hab’ mal ein paar Jahre lang mit jemandem zusammengelebt.“
weiterlesen#18 | Im Flaschenhals
Mähnen, Männer, Macho. Manche kannte Robert. Die meisten nicht. Vertraute Verträumte. Verklärte Verklemmte. Und die Forschen und die Schwätzer. Die blinden Hühner, die nach Körnern picken, und die Gockel, die im Mist scharren.
weiterlesen#19 | Im Rudel
d) in der dunkelkammer – Robert ging die Treppe runter und erst mal pissen. Er machte die Tür auf: Die Pinkelbecken waren leer. Die Tür dahinter war verriegelt. Während er seinen Strahl golden schimmern sah, hörte er verhaltenes Stöhnen. Vielleicht saß einer auf der Brille und saugte an der Eichel des anderen.
weiterlesen#20 | Bestimmung
Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
weiterlesenWer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
weiterlesenPanik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
weiterlesenBerlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
weiterlesenBahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
weiterlesenTaxe fahren | 05
Es goss in Strömen. Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht. „Also, was ist?“, fragte er. „Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“ „Also los!“, sagte er.
weiterlesenEin Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch. „Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“ „Achtzehn.“ „Na, wenigstens volljährig.“
weiterlesenSitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
weiterlesenEin zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze. Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
weiterlesenEin Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume. In der Küche lag ein Zettel: Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
weiterlesenNach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen. Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“ „Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
weiterlesenUtensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn. „Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“ Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig. „Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“ Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
weiterlesenGeschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an. Wir saßen beim Essen. Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“ „Ich weiß nicht.“ Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
weiterlesenMein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück. Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“ Ich lächelte. „Danke!“
weiterlesenIn Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln. „Gibst du mir das Salz rüber?“ „Danke. Hier ist der Pfeffer.“ Spielt sich so Leben ab?
weiterlesenDas Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
weiterlesenVerzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört. Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle? Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
weiterlesenBerichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
weiterlesenNachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun. Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
weiterlesen#1
‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf dass wir's essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, dass wir's bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus ...‘ ‚Es kam nun der Tag der süßen Brote, an welchem man mußte opfern das Osterlamm. Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Osterlamm, auf daß wir’s essen. Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, daß wir’s bereiten? Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folget ihm nach in das Haus, [...]‘
weiterlesen#2
Maria Magdalena schob ihren Kopf durch den Spalt. „Judas! Was willst du, mitten in der Nacht?“ „Lass mich ein. Bitte!“
weiterlesen#3
„Hör zu! Ich erlaube dir nicht, so zu reden.“ Maria Magdalena war aufgebracht. „Du kommst zu mir mitten in der Nacht. Du bist verstört. Ich nehme dich auf. Wenn du müde bist, dann schlaf! Wenn du sprechen willst, sprich!“
weiterlesen#4
„Und da kam Jesus. Er soll gesagt haben: ‚Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.‘ Seine Lehren sollten neu sein und tröstlich. Er brachte Menschen dazu, ihm zu folgen, ihr Leben zu ändern. Ich wollte ihn sehen.“
weiterlesen#5
„Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich später geboren worden wäre. Dann hätte ich nur glauben müssen, was ich nicht zu sehen brauche. – Und doch habe ich an ihn geglaubt, auch so. Als Gott? Ich glaube, dass er glaubt, Gott zu sein. Doch ich hatte eine so ganz andere Vorstellung davon, wie Gott sein würde, wenn er leibhaftig zwischen uns tritt.“
weiterlesen#6
Behutsam setzte sich Maria Magdalena auf den Rand des Bettes, dicht neben seinen Kopf. Er öffnete die Augen. Sein Blick tat weh. „Seit wann seid ihr wieder hier?“
weiterlesen#7
„Wir saßen beisammen. Die Sonne war untergegangen, und die Hähne hatten aufgehört zu krähen. Petrus nickte beflissen zu allem mit dem Kopf, was Jesus sagte, ein richtiger Knecht, wie der HERR ihn braucht. Ich saß in der Ecke, etwas abseits und sah aus dem Fenster. Draußen war noch ein Leuchten, geheimnisvoll, unbestimmbar.“
weiterlesen#8
„Am Montagmorgen gingen wir wieder nach Jerusalem. Am Abend vorher war die Lage schon bedrohlich geworden. Wir waren nur knapp davongekommen. Aber die Stadt zog Jesus an wie der Abgrund den Lebensmüden.“
weiterlesen#9
„Jesus saß im Garten unter einem Myrthenstrauch. Die anderen waren bei ihm. Er sah auf, als ich durch das Tor trat, und in seinem Blick lag Misstrauen, zum ersten Mal. Niemals hatte mir ein Blick so weh getan.“ Judas schwieg.
weiterlesen02 – Innocentia-Park
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#1 Die nächste Biegung
Schwups! Da war sie wieder. Eben noch war Margareta in der Welt gewesen, in der sie fliegen konnte und in der sie schön war, in der sie sich auskannte und in der sie sich zu Hause fühlte, und jetzt lag sie flach auf dem Bauch in ihrem Bett in der Welt, die ‚die richtige‘ hieß, ganz so, als ob ihre Traumwelt falsch wäre.
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#2 Eine Flamme zwischen den Fingern
Margareta wurde müde. Sie legte sich zurück ins Bett und schlief sofort ein.
„Margareta, wach auf! Der Nikolaus war da!“, sagte Hedwig, das Dienstmädchen. In Margaretas Stiefeln lagen Marzipanfrüchte und Schokoladennüsse in Goldpapier. Pech! Nun würde es ein ganzes Jahr dauern, bis Margareta wieder versuchen konnte, die Wahrheit über den Nikolaus herauszufinden.
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#3 Anders
„Wir sollten auch an die denken, denen es weniger gut geht als uns“, sagte die alte Frau Leseberg, „gerade jetzt!“
„Meinst du Janos?“, fragte Kai.
„Zum Beispiel“, sagte seine Großmutter, sie fühlte sich durch seinen konkreten Bezug etwas gestört in ihrer Andacht.
„Oder seine Familie“, sagte Margareta, „die mussten doch fliehen.“
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#4 Mmmh …!
Margareta war den Tränen nahe.
Sie starrte auf die drei brennenden Kerzen, keine davon hatte sie angezündet. Im letzten Augenblick hatte sie plötzlich wieder Angst bekommen, nicht so sehr vor der Flamme als davor, selber das Feuer zu entfachen. Sie hatte ihren Stuhl so weit wie möglich weggeschoben vom Tisch, weil sie den Gästen bestimmt nicht zu nahe treten wollte.
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#5 Rechtsempfinden
„Anna Seghers, diese alte Hexe, hat der neuen ungarischen Marionettenregierung zur Niederschlagung der Konterrevolution gratuliert. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte, Anna Seghers werde ich niemals durchnehmen.“
Margareta fragte sich, was Janos’ Schülern da wohl erspart bliebe, sie mochte auch keine Hexen, nicht mal im Märchen.
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#6 Bruchrechnung
„Möchte noch jemand Tee?“, fragte die junge Frau Leseberg.
Nacheinander hielten alle ihre Tassen hin wie zur Schulspeisung. Ihr Kakao hatte eine Haut bekommen, vor der sich Margareta ekelte, aber da niemand sie beachtete, war es kein Problem, diese Haut mit dem Zeigefinger abzuheben und in der Papierserviette mit Tannenzweigaufdruck verschwinden zu lassen.
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#7 Oben und unten
Siebenmal ‚werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!‘
Eva hatte die Haare straff zurückgekämmt und hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Nun sah sie wirklich ein bisschen wie eine Lehrerin aus: strenger, erwachsener, aber auch edler.
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#8 Rüdiger und Julia
Auf der Treppe sagte Eva leichthin: „Grüß deinen Bruder von mir! Er soll nicht so schüchtern sein.“
Margareta kamen diese zwei Sätze wichtiger vor als alle Bruchrechnung. „Ich werde es ihm gleich sagen.“
Eva merkte, wie viel besser Margareta diese Aufgabe gefiel als alle vorigen und sagte: „Ach nein, lass das lieber! Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken.“
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#9 Jenseits von Eden
Fünfmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Worauf es ankommt beim Bruchrechnen, das ist, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden“, sagte Eva, „verstehst du?“
Margareta überlegte, ob Nicken schon eine Lüge war.
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#10 Der kleinste gemeinsame Nenner
Margareta war etwas benommen. Das Wort ‚lieb‘ hatte ganz anders geklungen als vorgestern bei ihrer Mutter. Langsam ging Margareta die Treppe nach oben und klopfte an die Tür ihres Bruders.
„Komm rein!“, rief er.
Kaum war sie ins Zimmer getreten, da fuhr er sie an: „Bist du verrückt geworden?“
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#11 Der Ausbruch
Dreimal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
„Und jetzt zwei Siebtel und vier Neuntel“, sagte Eva.
„Wann braucht man denn das?“, fragte Margareta.
„Ich weiß auch nicht“, sagte Eva, „es ist ja nur ein Beispiel, zur Übung.“
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#12 Das Mädchen, das verbrannt ist
Einmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!
Es war fünf vor fünf. Großmutter und Mutter waren in der Küche, Großvater und Vater waren in der Bibliothek, Kai war in seinem Zimmer.
Margareta nahm die Streichholzschachtel in die linke Hand, sie drückte die Schachtel mit dem Daumen auf, nahm ein Zündholz heraus und rieb den roten Zündkopf über die braune Seitenfläche.
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#13 Adventstee
Margareta begann zu weinen.
„Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!“, sagte die junge Frau Leseberg. „Komm, Margareta, komm her zu mir, es ist ja alles gut! Na, komm!“
Margareta trat an den Tisch und pustete mit einem heftigen Luftstoß alle vier Kerzen aus.
„Margareta!“
Dann war es still.
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#14 Sibirien
Margareta blieb misstrauisch. Es hatte sich etwas verändert im Raum, und nichts daran war gut. Ihr Vater und ihre Großeltern sagten kein einziges Wort, aber Margareta sah, wie ihre Mutter ihnen einen ernsten Blick zuwarf.
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03 – Regen in der Wüste
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#01 | Ein Lebensmüder
Montag, fünfundzwanzigster März neunzehnhundertachtundsechzig.
Fastenzeit.
„Ich ... Ich glaube, ich kann das Leben nicht mehr aushalten.“
„Das klingt schlimm. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!“
„‚Bedrückt‘? Der Druck bedrückt mich. Ich halte ihn einfach nicht mehr aus.“
„Was halten Sie nicht mehr aus?“
„Ich halte es nicht mehr aus, daran zu denken, dass ich noch so lange leben muss.“
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#02 | Ein Fremdkörper
Dienstag, sechsundzwanzigster März:
Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.
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#03 | Eine Urlaubsbekanntschaft
Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln ...
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#04 | Der Sohn
‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“‘
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#05 | Der Entlassene
„Ist dort die Telefon-Seelsorge?“
„Ja.“
„Guten Abend!“
„Guten Abend!“
„Also, ich habe da ein Problem, mit dem ich nicht fertigwerde. Ich bin vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hab’ ein Jahr wegen Einbruch gesessen. Ich bin da in was reingeschlittert ... “
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#06 | Stattdessen
Donnerstag, den achtundzwanzigsten März.
Da fing es schon an, harmlos wie viele Katastrophen.
„Nicht doch, Othello! Lass mich noch ein bisschen schlafen! Es ist ja erst sechs.“
Othello war das egal.
Sie stand auf, schleppte den Kater mit zärtlicher Eile ins Wohnzimmer, ging zurück, machte die Tür fest hinter sich zu und legte sich wieder hin. Sie dachte an den Jungen vom vorigen Abend.
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#07 | Gefestigt
Freitag, den neunundzwanzigsten März.
Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld.
Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme.
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#08 | Wochenende
Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Milch, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett.
Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr.
Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten.
Es klingelte vier, fünf, sechs Mal.
Etwas mit Martin?
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#09 | Gymnastik
„Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und ich werde mit meiner Einsamkeit so schwer fertig.“
„Das ist ein großes Problem. Haben Sie Verwandte?“
„Mein Mann ist ums Leben gekommen, als ich vierundfünfzig war. Ich habe einen Sohn, der lebt in Amerika, und eine Tochter in Mainz. Aber außer zu den Feiertagen sehen wir uns nicht. Und die Anrufe alle paar Wochen, das ist schön, aber zu wenig.“
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#10 | Appetit
Mittwoch, den dritten April.
Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können.
Herr Friedemann lächelte zufrieden.
Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung.
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#11 | Banane
„Ja, schönen guten Abend! Ich ruf’ Sie an in einer Angelegenheit, also, ich war meinem Mann untreu.“
„Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“
„Nein. Noch nicht.“
„Ahnt Ihr Mann etwas davon?“
„Ich glaube, nein. Aber er sagt manchmal, ich sei so komisch.“
„Dauert das Verhältnis noch an?“
„Nein. Das war gar kein Verhältnis. Das war, als ich zur Kur war ...
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#12 | Dressing
Donnerstag, den vierten April.
„Wieviel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“
Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein.
„Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“
Nein, eigentlich nicht.
„Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“
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#13 | Stimmen
Das Telefon klingelte.
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren.
„Hallo!“
„Ja?“
„Martin, so etwas lässt sich nicht einfach mit einer Entschuldigung vom Tisch wischen!“
Die Scheiße liegt ja schon meterhoch auf dem Tisch, Frau Fischer!
„Du hast es nicht so gemeint? Du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast. Und du hast vielleicht sogar recht damit. Aber ich brauche Zeit, es zu verarbeiten.“
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#14 | Selbstachtung
„Guten Abend! ... Ich wollte mal Ihre Meinung hören. Ich komme vom Alkohol nicht weg. Also nicht, dass ich Trinker bin. Aber ich denk’, es könnte mal dahin kommen, wenn nicht was passiert.“
„Wie viel trinken Sie denn ungefähr am Tag?“
„Das kommt drauf an. Aber sechs bis acht Flaschen Bier können es schon werden.“
„Und einige Korn dazu?“
„Ja, ein paar Korn auch.“
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#15 | Geschmackszerstörer
Sie überlegte mit geschlossenen Augen. Vom Meer hatte sie geträumt, von Felsen, sie schwebte über getrockneten Salzlachen und Distelgewächsen, eine schaukelnde Bewegung, ein Tretboot, die Hängematte in ihrem Garten, als sie noch zusammen in Nienstedten gewohnt hatten. Herr Friedemann versuchte, ihr eine Flötenvase in den Mund zu schieben. Sie wollte sagen: ‚Hören Sie doch auf damit!‘, aber es war ein Knebel, sie brachte keinen Ton heraus, und ein Schatten beugte sich über sie, schweigend.
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#16 | Am Deich
Sie nahm das Telefon und wählte. „Adelheid, es tut mir leid. Ich fühl’ mich überhaupt nicht wohl. Ich kann’ heute Abend leider nicht mitkommen ins Theater.“
„Ach, nicht so schlimm. Etwas mit dem Magen. Wenn es ein kurzes Stück wäre, würde ich auch gehen. Aber bis elf im Parkett sitzen, das halt’ ich, glaub’ ich, in meinem Zustand nicht durch.“
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#17 | Mücken
„Einen Juden gleich nach dem Krieg zu heiraten, das war nach all dem Entsetzlichen ganz ungewöhnlich, na ja, schon deshalb, weil es kaum noch Juden gab.“ Sie lächelte schwach, Adelheid sah mit angespanntem Gesicht geradeaus, in den Wind und in den Sinn ihrer Worte. „Jetzt, rückblickend, frage ich mich, ob noch etwas anderes als Liebe mit im Spiel war.
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#18 | Tote Vögel
Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt?
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#19 | Mittlere Reife
„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“
„Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“
„Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“
„Wie alt ist Ihr Sohn?“
„Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“
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#20 | Biedermeier
So, da habe sie ihn wieder! Die Packer setzten ab.
Der finstere Apriltag verfinsterte sich noch mehr.
Der Frankfurter Schrank stand wieder vor dem Fenster. Ein gefräßiger Krake, der das Licht mit seinen Saugnäpfen verschlingt.
Herr Friedemann kam aus dem Hinterzimmer. Nun sei der Holzwurm hoffentlich beseitigt. Die Gaskammer habe er wohl kaum überleben können.
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#21 | Politur
Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören?
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04 – Beelzebub und der Teufel
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#01 | Weil wir uns lieben
a) hochzeit halten – Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit.
Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen.
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#02 | Was ganz Besonderes
Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Chablis.
Der Bruder der Braut hielt sein Glas mit der flachen Hand zu. „Nein, danke!“
Der Kellner zog die Flasche zurück, ging einen Schritt weiter, schob die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, zwischen zwei Köpfen hindurch, die sich zunickten: ...
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#03 | Wer ich bin
b) zwei menschen – Meine lieben Zuhörer, heute möchte ich Ihnen die Geschichte des Narren Columbin erzählen, der an einem mittelalterlichen Hof lebte. Sie mögen nun sagen: ‚Du liebe Zeit, was sollen wir denn heutzutage mit einem Narren anfangen, der schon über fünfhundert Jahre tot ist?!‘ – Aber warten Sie ab, meine lieben Zuhörer!
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#04 | Wir werden’s versuchen
Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. ‚Fade out‘ der Dire Straits. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt.
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#05 | Positiv – Negativ
„Müssen wir bei dem Namen bleiben?“, fragte einer, „der Name ist das Schlimmste.“
„Der Name ist eingeführt“, sagte Robert, „darauf kommt es an. Der ganze Werbeetat, den wir haben, würde nicht ausreichen, einen neuen Namen so bekannt zu machen wie ‚Pick‘.“
„Aber im Deutschen passt ‚Pick‘ besser zu Vogelfutter als für einen Schokoladenriegel.
„Warum?“, fragte einer. „Kein Tag ohne einen guten ‚Pick‘ …“
„Ich lass mich täglich picken“, sagte jemand.
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#06 | Betroffen
„Robert, der Klaus sagt, er schafft das Storyboard für den neuen TV-Spot von ‚Rintra‘ nicht mehr.“
„Was?! Ich denk’, das ist längst fertig. Das brauch’ ich doch heute Abend in Berlin.“
„Ja, eben!“
Robert sprang von seinem Stuhl auf. „Und das sagst du mir jetzt erst?!“
„Weißt du, ich dachte …“
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#07 | Rohes Fleisch
Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben.
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#08 | Sensibler Kreativer
„Was? Das ist völlig neu für mich. Ich ruf Sie wieder an.“ Robert knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hoch. Er lief mit schnellen Schritten durch den Flur und riss die Tür zum Vorzimmer auf. „Ist er da?“
„Ja, aber er möchte im Augenblick nicht …“
Robert hatte die Klinke schon in der Hand.
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#09 | Berlin-Babel
Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott.
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#10 | Werbung mit sich selbst
Gleichzeitig mit dem Regen kam die Sonne. Durch ein Wolkenloch hindurch zeigte plötzlich dieser böse, besserwisserische Finger und strahlte einen Augenblick lang schulmeisterlich kaltes Licht auf zaghaft blühende Akazien und angeschmuddelte Mietshäuser.
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#11 | Auf der Kippe
Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen.
Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
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#12 | Zur Schau gestellt
Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung.
Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte.
Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen ...
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#13 | Es geht los
Martin saß in der U-Bahn. Der Zug holperte durch den Schacht. Da oben war Ostberlin. Da liefen einzelne Menschen zwischen Dunkelheit und Ruinen. Martin war nur einmal abends in Ostberlin gewesen, weil ihm damals jemand gesagt hatte, er müsse unbedingt den ‚Burgfrieden‘ mal kennenlernen ...
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#14 | Hengste
Ich mag Männer. Die etwas tuckigen, wenn sie den Kopf nach hinten werfen und lachen; die kerligen, wenn sie sich mit zusammengekniffenen Augen eine Zigarette anzünden; die Jungen, die neugierig kichern; und die älteren, die schon so was Abgewichstes im Gesicht haben – ich mag sie alle, alle ...
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#15 | Ziemlich christlich
Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht.
‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘
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#16 | Ein Fischzug
Eine Weile sprachen sie nicht. Sie hörten auf die hämmernde Musik und auf die Stimmen. Sie sahen Männer, auch Männer, die ihnen gefielen. Abspringen? Den leichten Weg gehen, der alles so schwer macht? Die laute, aber nicht lärmende Musik. Die Stimmen, die Köpfe. Dieser wütende Plan, sich vorübergehend in Hemmungslosigkeit zu verlieren: die pünktlich abrufbare Sucht zwischen zwei Tagen.
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#17 | Prometheus
Männer, Mähnen. Musik in monotonen Rhythmen. Asien oder Afrika. Qualm macht aus Silhouetten Schatten. Wird alles gut oder ist es gerade dabei, schiefzulaufen?
„Lebst du allein?“, fragte Martin.
„Ja. Jetzt ja. Ich hab’ mal ein paar Jahre lang mit jemandem zusammengelebt.“
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#18 | Im Flaschenhals
Mähnen, Männer, Macho. Manche kannte Robert. Die meisten nicht. Vertraute Verträumte. Verklärte Verklemmte. Und die Forschen und die Schwätzer. Die blinden Hühner, die nach Körnern picken, und die Gockel, die im Mist scharren.
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#19 | Im Rudel
d) in der dunkelkammer – Robert ging die Treppe runter und erst mal pissen. Er machte die Tür auf: Die Pinkelbecken waren leer. Die Tür dahinter war verriegelt. Während er seinen Strahl golden schimmern sah, hörte er verhaltenes Stöhnen. Vielleicht saß einer auf der Brille und saugte an der Eichel des anderen.
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#20 | Bestimmung
Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
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05 – Die Hostie
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#1 – Warteraum
Als ich drei Jahre alt war, bekam ich eine Gehirnhautentzündung. Seither bin ich taub. An Klänge erinnere ich mich überhaupt nicht. Geräusch – Stimme – Musik: Das sind nur Worte für mich. Ich habe mich daran gewöhnt. Was sonst?
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#2 – Weinbrand
Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock ...
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#3 – Salz
Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz.
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#4 – Marihuana
Sie aß das Brot in großen Bissen.
„Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
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#5 – Obst und Südfrüchte
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück vom Büfett mit dem Cognac-Schwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach, hoch oben, ließ milchig-trübes Licht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.
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#6 – Kaffee
Wohlverwahrt lag diese Geschichte in meinem Schreibtisch, als Bestandteil meiner Sammlung von Schicksalen. Das Mädchen war tot. Die Frau war belehrt.
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#7 – Tabasco
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemanden beneiden könnte. Niemals. Und jetzt beneide ich dieses Mädchen mir gegenüber um ihre Sorgen – und um ihre graue, hoffnungslose Jugend. Vielleicht könnte ich ein Gespräch mit ihr anfangen, damit ich nicht so armselig hier herumsitze. Der Zug fährt ja erst in einer Stunde ...
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#8 – Curry
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien der Frau gar nicht aufzufallen, ihr Vortrag ging weiter. „Es hat doch keinen Sinn, dass alle Frauen denken, sie könnten wie Claudia Schiffer oder wie Rosa Luxemburg sein, wenn sie sich ein bisschen anstrengten. Das macht sie doch bloß unglücklich. Alle Männer werden ja auch nicht Reinhold Messner ...
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#9 – Silberdose
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein ...
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#10 – Fruchtsaft
Die Frau trank ihr Glas leer.
„Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss ...“
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#11 – Bier
Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber.
„Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich.
„Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt ...
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06 – Ein Eremit
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Wer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
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Panik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
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Berlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
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Bahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
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Taxe fahren | 05
Es goss in Strömen.
Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht.
„Also, was ist?“, fragte er.
„Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“
„Also los!“, sagte er.
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Ein Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch.
„Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“
„Achtzehn.“
„Na, wenigstens volljährig.“
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Sitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
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Ein zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze.
Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
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Ein Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume.
In der Küche lag ein Zettel:
Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
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Nach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen.
Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“
„Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
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Utensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn.
„Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“
Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig.
„Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“
Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
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Geschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an.
Wir saßen beim Essen.
Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“
„Ich weiß nicht.“
Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
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Mein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück.
Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“
Ich lächelte. „Danke!“
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In Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln.
„Gibst du mir das Salz rüber?“
„Danke. Hier ist der Pfeffer.“
Spielt sich so Leben ab?
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Das Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
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Verzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört.
Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle?
Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
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Berichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
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Nachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun.
Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
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#1 Die nächste Biegung
Schwups! Da war sie wieder. Eben noch war Margareta in der Welt gewesen, in der sie fliegen konnte und in der sie schön war, in der sie sich auskannte und in der sie sich zu Hause fühlte, und jetzt lag sie flach auf dem Bauch in ihrem Bett in der Welt, die ‚die richtige‘ hieß, ganz so, als ob ihre Traumwelt falsch wäre.
weiterlesen#2 Eine Flamme zwischen den Fingern
Margareta wurde müde. Sie legte sich zurück ins Bett und schlief sofort ein. „Margareta, wach auf! Der Nikolaus war da!“, sagte Hedwig, das Dienstmädchen. In Margaretas Stiefeln lagen Marzipanfrüchte und Schokoladennüsse in Goldpapier. Pech! Nun würde es ein ganzes Jahr dauern, bis Margareta wieder versuchen konnte, die Wahrheit über den Nikolaus herauszufinden.
weiterlesen#3 Anders
„Wir sollten auch an die denken, denen es weniger gut geht als uns“, sagte die alte Frau Leseberg, „gerade jetzt!“ „Meinst du Janos?“, fragte Kai. „Zum Beispiel“, sagte seine Großmutter, sie fühlte sich durch seinen konkreten Bezug etwas gestört in ihrer Andacht. „Oder seine Familie“, sagte Margareta, „die mussten doch fliehen.“
weiterlesen#4 Mmmh …!
Margareta war den Tränen nahe. Sie starrte auf die drei brennenden Kerzen, keine davon hatte sie angezündet. Im letzten Augenblick hatte sie plötzlich wieder Angst bekommen, nicht so sehr vor der Flamme als davor, selber das Feuer zu entfachen. Sie hatte ihren Stuhl so weit wie möglich weggeschoben vom Tisch, weil sie den Gästen bestimmt nicht zu nahe treten wollte.
weiterlesen#5 Rechtsempfinden
„Anna Seghers, diese alte Hexe, hat der neuen ungarischen Marionettenregierung zur Niederschlagung der Konterrevolution gratuliert. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte, Anna Seghers werde ich niemals durchnehmen.“ Margareta fragte sich, was Janos’ Schülern da wohl erspart bliebe, sie mochte auch keine Hexen, nicht mal im Märchen.
weiterlesen#6 Bruchrechnung
„Möchte noch jemand Tee?“, fragte die junge Frau Leseberg. Nacheinander hielten alle ihre Tassen hin wie zur Schulspeisung. Ihr Kakao hatte eine Haut bekommen, vor der sich Margareta ekelte, aber da niemand sie beachtete, war es kein Problem, diese Haut mit dem Zeigefinger abzuheben und in der Papierserviette mit Tannenzweigaufdruck verschwinden zu lassen.
weiterlesen#7 Oben und unten
Siebenmal ‚werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!‘ Eva hatte die Haare straff zurückgekämmt und hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Nun sah sie wirklich ein bisschen wie eine Lehrerin aus: strenger, erwachsener, aber auch edler.
weiterlesen#8 Rüdiger und Julia
Auf der Treppe sagte Eva leichthin: „Grüß deinen Bruder von mir! Er soll nicht so schüchtern sein.“ Margareta kamen diese zwei Sätze wichtiger vor als alle Bruchrechnung. „Ich werde es ihm gleich sagen.“ Eva merkte, wie viel besser Margareta diese Aufgabe gefiel als alle vorigen und sagte: „Ach nein, lass das lieber! Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken.“
weiterlesen#9 Jenseits von Eden
Fünfmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag! „Worauf es ankommt beim Bruchrechnen, das ist, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden“, sagte Eva, „verstehst du?“ Margareta überlegte, ob Nicken schon eine Lüge war.
weiterlesen#10 Der kleinste gemeinsame Nenner
Margareta war etwas benommen. Das Wort ‚lieb‘ hatte ganz anders geklungen als vorgestern bei ihrer Mutter. Langsam ging Margareta die Treppe nach oben und klopfte an die Tür ihres Bruders. „Komm rein!“, rief er. Kaum war sie ins Zimmer getreten, da fuhr er sie an: „Bist du verrückt geworden?“
weiterlesen#11 Der Ausbruch
Dreimal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag! „Und jetzt zwei Siebtel und vier Neuntel“, sagte Eva. „Wann braucht man denn das?“, fragte Margareta. „Ich weiß auch nicht“, sagte Eva, „es ist ja nur ein Beispiel, zur Übung.“
weiterlesen#12 Das Mädchen, das verbrannt ist
Einmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag! Es war fünf vor fünf. Großmutter und Mutter waren in der Küche, Großvater und Vater waren in der Bibliothek, Kai war in seinem Zimmer. Margareta nahm die Streichholzschachtel in die linke Hand, sie drückte die Schachtel mit dem Daumen auf, nahm ein Zündholz heraus und rieb den roten Zündkopf über die braune Seitenfläche.
weiterlesen#13 Adventstee
Margareta begann zu weinen. „Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!“, sagte die junge Frau Leseberg. „Komm, Margareta, komm her zu mir, es ist ja alles gut! Na, komm!“ Margareta trat an den Tisch und pustete mit einem heftigen Luftstoß alle vier Kerzen aus. „Margareta!“ Dann war es still.
weiterlesen#14 Sibirien
Margareta blieb misstrauisch. Es hatte sich etwas verändert im Raum, und nichts daran war gut. Ihr Vater und ihre Großeltern sagten kein einziges Wort, aber Margareta sah, wie ihre Mutter ihnen einen ernsten Blick zuwarf.
weiterlesen#01 | Ein Lebensmüder
Montag, fünfundzwanzigster März neunzehnhundertachtundsechzig. Fastenzeit. „Ich ... Ich glaube, ich kann das Leben nicht mehr aushalten.“ „Das klingt schlimm. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!“ „‚Bedrückt‘? Der Druck bedrückt mich. Ich halte ihn einfach nicht mehr aus.“ „Was halten Sie nicht mehr aus?“ „Ich halte es nicht mehr aus, daran zu denken, dass ich noch so lange leben muss.“
weiterlesen#02 | Ein Fremdkörper
Dienstag, sechsundzwanzigster März: Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.
weiterlesen#03 | Eine Urlaubsbekanntschaft
Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln ...
weiterlesen#04 | Der Sohn
‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“‘
weiterlesen#05 | Der Entlassene
„Ist dort die Telefon-Seelsorge?“ „Ja.“ „Guten Abend!“ „Guten Abend!“ „Also, ich habe da ein Problem, mit dem ich nicht fertigwerde. Ich bin vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hab’ ein Jahr wegen Einbruch gesessen. Ich bin da in was reingeschlittert ... “
weiterlesen#06 | Stattdessen
Donnerstag, den achtundzwanzigsten März. Da fing es schon an, harmlos wie viele Katastrophen. „Nicht doch, Othello! Lass mich noch ein bisschen schlafen! Es ist ja erst sechs.“ Othello war das egal. Sie stand auf, schleppte den Kater mit zärtlicher Eile ins Wohnzimmer, ging zurück, machte die Tür fest hinter sich zu und legte sich wieder hin. Sie dachte an den Jungen vom vorigen Abend.
weiterlesen#07 | Gefestigt
Freitag, den neunundzwanzigsten März. Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld. Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme.
weiterlesen#08 | Wochenende
Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Milch, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett. Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr. Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten. Es klingelte vier, fünf, sechs Mal. Etwas mit Martin?
weiterlesen#09 | Gymnastik
„Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und ich werde mit meiner Einsamkeit so schwer fertig.“ „Das ist ein großes Problem. Haben Sie Verwandte?“ „Mein Mann ist ums Leben gekommen, als ich vierundfünfzig war. Ich habe einen Sohn, der lebt in Amerika, und eine Tochter in Mainz. Aber außer zu den Feiertagen sehen wir uns nicht. Und die Anrufe alle paar Wochen, das ist schön, aber zu wenig.“
weiterlesen#10 | Appetit
Mittwoch, den dritten April. Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können. Herr Friedemann lächelte zufrieden. Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung.
weiterlesen#11 | Banane
„Ja, schönen guten Abend! Ich ruf’ Sie an in einer Angelegenheit, also, ich war meinem Mann untreu.“ „Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“ „Nein. Noch nicht.“ „Ahnt Ihr Mann etwas davon?“ „Ich glaube, nein. Aber er sagt manchmal, ich sei so komisch.“ „Dauert das Verhältnis noch an?“ „Nein. Das war gar kein Verhältnis. Das war, als ich zur Kur war ...
weiterlesen#12 | Dressing
Donnerstag, den vierten April. „Wieviel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“ Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein. „Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“ Nein, eigentlich nicht. „Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“
weiterlesen#13 | Stimmen
Das Telefon klingelte. Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren. „Hallo!“ „Ja?“ „Martin, so etwas lässt sich nicht einfach mit einer Entschuldigung vom Tisch wischen!“ Die Scheiße liegt ja schon meterhoch auf dem Tisch, Frau Fischer! „Du hast es nicht so gemeint? Du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast. Und du hast vielleicht sogar recht damit. Aber ich brauche Zeit, es zu verarbeiten.“
weiterlesen#14 | Selbstachtung
„Guten Abend! ... Ich wollte mal Ihre Meinung hören. Ich komme vom Alkohol nicht weg. Also nicht, dass ich Trinker bin. Aber ich denk’, es könnte mal dahin kommen, wenn nicht was passiert.“ „Wie viel trinken Sie denn ungefähr am Tag?“ „Das kommt drauf an. Aber sechs bis acht Flaschen Bier können es schon werden.“ „Und einige Korn dazu?“ „Ja, ein paar Korn auch.“
weiterlesen#15 | Geschmackszerstörer
Sie überlegte mit geschlossenen Augen. Vom Meer hatte sie geträumt, von Felsen, sie schwebte über getrockneten Salzlachen und Distelgewächsen, eine schaukelnde Bewegung, ein Tretboot, die Hängematte in ihrem Garten, als sie noch zusammen in Nienstedten gewohnt hatten. Herr Friedemann versuchte, ihr eine Flötenvase in den Mund zu schieben. Sie wollte sagen: ‚Hören Sie doch auf damit!‘, aber es war ein Knebel, sie brachte keinen Ton heraus, und ein Schatten beugte sich über sie, schweigend.
weiterlesen#16 | Am Deich
Sie nahm das Telefon und wählte. „Adelheid, es tut mir leid. Ich fühl’ mich überhaupt nicht wohl. Ich kann’ heute Abend leider nicht mitkommen ins Theater.“ „Ach, nicht so schlimm. Etwas mit dem Magen. Wenn es ein kurzes Stück wäre, würde ich auch gehen. Aber bis elf im Parkett sitzen, das halt’ ich, glaub’ ich, in meinem Zustand nicht durch.“
weiterlesen#17 | Mücken
„Einen Juden gleich nach dem Krieg zu heiraten, das war nach all dem Entsetzlichen ganz ungewöhnlich, na ja, schon deshalb, weil es kaum noch Juden gab.“ Sie lächelte schwach, Adelheid sah mit angespanntem Gesicht geradeaus, in den Wind und in den Sinn ihrer Worte. „Jetzt, rückblickend, frage ich mich, ob noch etwas anderes als Liebe mit im Spiel war.
weiterlesen#18 | Tote Vögel
Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt?
weiterlesen#19 | Mittlere Reife
„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“ „Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“ „Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“ „Wie alt ist Ihr Sohn?“ „Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“
weiterlesen#20 | Biedermeier
So, da habe sie ihn wieder! Die Packer setzten ab. Der finstere Apriltag verfinsterte sich noch mehr. Der Frankfurter Schrank stand wieder vor dem Fenster. Ein gefräßiger Krake, der das Licht mit seinen Saugnäpfen verschlingt. Herr Friedemann kam aus dem Hinterzimmer. Nun sei der Holzwurm hoffentlich beseitigt. Die Gaskammer habe er wohl kaum überleben können.
weiterlesen#21 | Politur
Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören?
weiterlesen04 – Beelzebub und der Teufel
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#01 | Weil wir uns lieben
a) hochzeit halten – Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit.
Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen.
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#02 | Was ganz Besonderes
Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Chablis.
Der Bruder der Braut hielt sein Glas mit der flachen Hand zu. „Nein, danke!“
Der Kellner zog die Flasche zurück, ging einen Schritt weiter, schob die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, zwischen zwei Köpfen hindurch, die sich zunickten: ...
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#03 | Wer ich bin
b) zwei menschen – Meine lieben Zuhörer, heute möchte ich Ihnen die Geschichte des Narren Columbin erzählen, der an einem mittelalterlichen Hof lebte. Sie mögen nun sagen: ‚Du liebe Zeit, was sollen wir denn heutzutage mit einem Narren anfangen, der schon über fünfhundert Jahre tot ist?!‘ – Aber warten Sie ab, meine lieben Zuhörer!
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#04 | Wir werden’s versuchen
Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. ‚Fade out‘ der Dire Straits. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt.
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#05 | Positiv – Negativ
„Müssen wir bei dem Namen bleiben?“, fragte einer, „der Name ist das Schlimmste.“
„Der Name ist eingeführt“, sagte Robert, „darauf kommt es an. Der ganze Werbeetat, den wir haben, würde nicht ausreichen, einen neuen Namen so bekannt zu machen wie ‚Pick‘.“
„Aber im Deutschen passt ‚Pick‘ besser zu Vogelfutter als für einen Schokoladenriegel.
„Warum?“, fragte einer. „Kein Tag ohne einen guten ‚Pick‘ …“
„Ich lass mich täglich picken“, sagte jemand.
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#06 | Betroffen
„Robert, der Klaus sagt, er schafft das Storyboard für den neuen TV-Spot von ‚Rintra‘ nicht mehr.“
„Was?! Ich denk’, das ist längst fertig. Das brauch’ ich doch heute Abend in Berlin.“
„Ja, eben!“
Robert sprang von seinem Stuhl auf. „Und das sagst du mir jetzt erst?!“
„Weißt du, ich dachte …“
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#07 | Rohes Fleisch
Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben.
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#08 | Sensibler Kreativer
„Was? Das ist völlig neu für mich. Ich ruf Sie wieder an.“ Robert knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hoch. Er lief mit schnellen Schritten durch den Flur und riss die Tür zum Vorzimmer auf. „Ist er da?“
„Ja, aber er möchte im Augenblick nicht …“
Robert hatte die Klinke schon in der Hand.
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#09 | Berlin-Babel
Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott.
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#10 | Werbung mit sich selbst
Gleichzeitig mit dem Regen kam die Sonne. Durch ein Wolkenloch hindurch zeigte plötzlich dieser böse, besserwisserische Finger und strahlte einen Augenblick lang schulmeisterlich kaltes Licht auf zaghaft blühende Akazien und angeschmuddelte Mietshäuser.
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#11 | Auf der Kippe
Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen.
Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
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#12 | Zur Schau gestellt
Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung.
Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte.
Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen ...
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#13 | Es geht los
Martin saß in der U-Bahn. Der Zug holperte durch den Schacht. Da oben war Ostberlin. Da liefen einzelne Menschen zwischen Dunkelheit und Ruinen. Martin war nur einmal abends in Ostberlin gewesen, weil ihm damals jemand gesagt hatte, er müsse unbedingt den ‚Burgfrieden‘ mal kennenlernen ...
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#14 | Hengste
Ich mag Männer. Die etwas tuckigen, wenn sie den Kopf nach hinten werfen und lachen; die kerligen, wenn sie sich mit zusammengekniffenen Augen eine Zigarette anzünden; die Jungen, die neugierig kichern; und die älteren, die schon so was Abgewichstes im Gesicht haben – ich mag sie alle, alle ...
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#15 | Ziemlich christlich
Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht.
‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘
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#16 | Ein Fischzug
Eine Weile sprachen sie nicht. Sie hörten auf die hämmernde Musik und auf die Stimmen. Sie sahen Männer, auch Männer, die ihnen gefielen. Abspringen? Den leichten Weg gehen, der alles so schwer macht? Die laute, aber nicht lärmende Musik. Die Stimmen, die Köpfe. Dieser wütende Plan, sich vorübergehend in Hemmungslosigkeit zu verlieren: die pünktlich abrufbare Sucht zwischen zwei Tagen.
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#17 | Prometheus
Männer, Mähnen. Musik in monotonen Rhythmen. Asien oder Afrika. Qualm macht aus Silhouetten Schatten. Wird alles gut oder ist es gerade dabei, schiefzulaufen?
„Lebst du allein?“, fragte Martin.
„Ja. Jetzt ja. Ich hab’ mal ein paar Jahre lang mit jemandem zusammengelebt.“
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#18 | Im Flaschenhals
Mähnen, Männer, Macho. Manche kannte Robert. Die meisten nicht. Vertraute Verträumte. Verklärte Verklemmte. Und die Forschen und die Schwätzer. Die blinden Hühner, die nach Körnern picken, und die Gockel, die im Mist scharren.
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#19 | Im Rudel
d) in der dunkelkammer – Robert ging die Treppe runter und erst mal pissen. Er machte die Tür auf: Die Pinkelbecken waren leer. Die Tür dahinter war verriegelt. Während er seinen Strahl golden schimmern sah, hörte er verhaltenes Stöhnen. Vielleicht saß einer auf der Brille und saugte an der Eichel des anderen.
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#20 | Bestimmung
Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
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05 – Die Hostie
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#1 – Warteraum
Als ich drei Jahre alt war, bekam ich eine Gehirnhautentzündung. Seither bin ich taub. An Klänge erinnere ich mich überhaupt nicht. Geräusch – Stimme – Musik: Das sind nur Worte für mich. Ich habe mich daran gewöhnt. Was sonst?
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#2 – Weinbrand
Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock ...
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#3 – Salz
Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz.
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#4 – Marihuana
Sie aß das Brot in großen Bissen.
„Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
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#5 – Obst und Südfrüchte
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück vom Büfett mit dem Cognac-Schwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach, hoch oben, ließ milchig-trübes Licht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.
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#6 – Kaffee
Wohlverwahrt lag diese Geschichte in meinem Schreibtisch, als Bestandteil meiner Sammlung von Schicksalen. Das Mädchen war tot. Die Frau war belehrt.
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#7 – Tabasco
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemanden beneiden könnte. Niemals. Und jetzt beneide ich dieses Mädchen mir gegenüber um ihre Sorgen – und um ihre graue, hoffnungslose Jugend. Vielleicht könnte ich ein Gespräch mit ihr anfangen, damit ich nicht so armselig hier herumsitze. Der Zug fährt ja erst in einer Stunde ...
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#8 – Curry
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien der Frau gar nicht aufzufallen, ihr Vortrag ging weiter. „Es hat doch keinen Sinn, dass alle Frauen denken, sie könnten wie Claudia Schiffer oder wie Rosa Luxemburg sein, wenn sie sich ein bisschen anstrengten. Das macht sie doch bloß unglücklich. Alle Männer werden ja auch nicht Reinhold Messner ...
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#9 – Silberdose
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein ...
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#10 – Fruchtsaft
Die Frau trank ihr Glas leer.
„Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss ...“
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#11 – Bier
Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber.
„Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich.
„Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt ...
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06 – Ein Eremit
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Wer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
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Panik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
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Berlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
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Bahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
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Taxe fahren | 05
Es goss in Strömen.
Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht.
„Also, was ist?“, fragte er.
„Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“
„Also los!“, sagte er.
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Ein Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch.
„Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“
„Achtzehn.“
„Na, wenigstens volljährig.“
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Sitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
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Ein zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze.
Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
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Ein Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume.
In der Küche lag ein Zettel:
Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
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Nach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen.
Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“
„Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
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Utensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn.
„Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“
Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig.
„Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“
Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
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Geschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an.
Wir saßen beim Essen.
Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“
„Ich weiß nicht.“
Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
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Mein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück.
Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“
Ich lächelte. „Danke!“
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In Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln.
„Gibst du mir das Salz rüber?“
„Danke. Hier ist der Pfeffer.“
Spielt sich so Leben ab?
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Das Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
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Verzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört.
Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle?
Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
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Berichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
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Nachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun.
Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
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#01 | Weil wir uns lieben
a) hochzeit halten – Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit. Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen.
weiterlesen#02 | Was ganz Besonderes
Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Chablis. Der Bruder der Braut hielt sein Glas mit der flachen Hand zu. „Nein, danke!“ Der Kellner zog die Flasche zurück, ging einen Schritt weiter, schob die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, zwischen zwei Köpfen hindurch, die sich zunickten: ...
weiterlesen#03 | Wer ich bin
b) zwei menschen – Meine lieben Zuhörer, heute möchte ich Ihnen die Geschichte des Narren Columbin erzählen, der an einem mittelalterlichen Hof lebte. Sie mögen nun sagen: ‚Du liebe Zeit, was sollen wir denn heutzutage mit einem Narren anfangen, der schon über fünfhundert Jahre tot ist?!‘ – Aber warten Sie ab, meine lieben Zuhörer!
weiterlesen#04 | Wir werden’s versuchen
Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. ‚Fade out‘ der Dire Straits. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt.
weiterlesen#05 | Positiv – Negativ
„Müssen wir bei dem Namen bleiben?“, fragte einer, „der Name ist das Schlimmste.“ „Der Name ist eingeführt“, sagte Robert, „darauf kommt es an. Der ganze Werbeetat, den wir haben, würde nicht ausreichen, einen neuen Namen so bekannt zu machen wie ‚Pick‘.“ „Aber im Deutschen passt ‚Pick‘ besser zu Vogelfutter als für einen Schokoladenriegel. „Warum?“, fragte einer. „Kein Tag ohne einen guten ‚Pick‘ …“ „Ich lass mich täglich picken“, sagte jemand.
weiterlesen#06 | Betroffen
„Robert, der Klaus sagt, er schafft das Storyboard für den neuen TV-Spot von ‚Rintra‘ nicht mehr.“ „Was?! Ich denk’, das ist längst fertig. Das brauch’ ich doch heute Abend in Berlin.“ „Ja, eben!“ Robert sprang von seinem Stuhl auf. „Und das sagst du mir jetzt erst?!“ „Weißt du, ich dachte …“
weiterlesen#07 | Rohes Fleisch
Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben.
weiterlesen#08 | Sensibler Kreativer
„Was? Das ist völlig neu für mich. Ich ruf Sie wieder an.“ Robert knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hoch. Er lief mit schnellen Schritten durch den Flur und riss die Tür zum Vorzimmer auf. „Ist er da?“ „Ja, aber er möchte im Augenblick nicht …“ Robert hatte die Klinke schon in der Hand.
weiterlesen#09 | Berlin-Babel
Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott.
weiterlesen#10 | Werbung mit sich selbst
Gleichzeitig mit dem Regen kam die Sonne. Durch ein Wolkenloch hindurch zeigte plötzlich dieser böse, besserwisserische Finger und strahlte einen Augenblick lang schulmeisterlich kaltes Licht auf zaghaft blühende Akazien und angeschmuddelte Mietshäuser.
weiterlesen#11 | Auf der Kippe
Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen. Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
weiterlesen#12 | Zur Schau gestellt
Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung. Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte. Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen ...
weiterlesen#13 | Es geht los
Martin saß in der U-Bahn. Der Zug holperte durch den Schacht. Da oben war Ostberlin. Da liefen einzelne Menschen zwischen Dunkelheit und Ruinen. Martin war nur einmal abends in Ostberlin gewesen, weil ihm damals jemand gesagt hatte, er müsse unbedingt den ‚Burgfrieden‘ mal kennenlernen ...
weiterlesen#14 | Hengste
Ich mag Männer. Die etwas tuckigen, wenn sie den Kopf nach hinten werfen und lachen; die kerligen, wenn sie sich mit zusammengekniffenen Augen eine Zigarette anzünden; die Jungen, die neugierig kichern; und die älteren, die schon so was Abgewichstes im Gesicht haben – ich mag sie alle, alle ...
weiterlesen#15 | Ziemlich christlich
Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht. ‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘
weiterlesen#16 | Ein Fischzug
Eine Weile sprachen sie nicht. Sie hörten auf die hämmernde Musik und auf die Stimmen. Sie sahen Männer, auch Männer, die ihnen gefielen. Abspringen? Den leichten Weg gehen, der alles so schwer macht? Die laute, aber nicht lärmende Musik. Die Stimmen, die Köpfe. Dieser wütende Plan, sich vorübergehend in Hemmungslosigkeit zu verlieren: die pünktlich abrufbare Sucht zwischen zwei Tagen.
weiterlesen#17 | Prometheus
Männer, Mähnen. Musik in monotonen Rhythmen. Asien oder Afrika. Qualm macht aus Silhouetten Schatten. Wird alles gut oder ist es gerade dabei, schiefzulaufen? „Lebst du allein?“, fragte Martin. „Ja. Jetzt ja. Ich hab’ mal ein paar Jahre lang mit jemandem zusammengelebt.“
weiterlesen#18 | Im Flaschenhals
Mähnen, Männer, Macho. Manche kannte Robert. Die meisten nicht. Vertraute Verträumte. Verklärte Verklemmte. Und die Forschen und die Schwätzer. Die blinden Hühner, die nach Körnern picken, und die Gockel, die im Mist scharren.
weiterlesen#19 | Im Rudel
d) in der dunkelkammer – Robert ging die Treppe runter und erst mal pissen. Er machte die Tür auf: Die Pinkelbecken waren leer. Die Tür dahinter war verriegelt. Während er seinen Strahl golden schimmern sah, hörte er verhaltenes Stöhnen. Vielleicht saß einer auf der Brille und saugte an der Eichel des anderen.
weiterlesen#20 | Bestimmung
Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
weiterlesen#1 – Warteraum
Als ich drei Jahre alt war, bekam ich eine Gehirnhautentzündung. Seither bin ich taub. An Klänge erinnere ich mich überhaupt nicht. Geräusch – Stimme – Musik: Das sind nur Worte für mich. Ich habe mich daran gewöhnt. Was sonst?
weiterlesen#2 – Weinbrand
Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock ...
weiterlesen#3 – Salz
Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz.
weiterlesen#4 – Marihuana
Sie aß das Brot in großen Bissen. „Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
weiterlesen#5 – Obst und Südfrüchte
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft. Die Frau kam zurück vom Büfett mit dem Cognac-Schwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach, hoch oben, ließ milchig-trübes Licht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.
weiterlesen#6 – Kaffee
Wohlverwahrt lag diese Geschichte in meinem Schreibtisch, als Bestandteil meiner Sammlung von Schicksalen. Das Mädchen war tot. Die Frau war belehrt.
weiterlesen#7 – Tabasco
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemanden beneiden könnte. Niemals. Und jetzt beneide ich dieses Mädchen mir gegenüber um ihre Sorgen – und um ihre graue, hoffnungslose Jugend. Vielleicht könnte ich ein Gespräch mit ihr anfangen, damit ich nicht so armselig hier herumsitze. Der Zug fährt ja erst in einer Stunde ...
weiterlesen#8 – Curry
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien der Frau gar nicht aufzufallen, ihr Vortrag ging weiter. „Es hat doch keinen Sinn, dass alle Frauen denken, sie könnten wie Claudia Schiffer oder wie Rosa Luxemburg sein, wenn sie sich ein bisschen anstrengten. Das macht sie doch bloß unglücklich. Alle Männer werden ja auch nicht Reinhold Messner ...
weiterlesen#9 – Silberdose
Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft. Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein ...
weiterlesen#10 – Fruchtsaft
Die Frau trank ihr Glas leer. „Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss ...“
weiterlesen#11 – Bier
Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber. „Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich. „Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt ...
weiterlesen06 – Ein Eremit
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Wer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
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Panik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
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Berlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
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Bahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
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Taxe fahren | 05
Es goss in Strömen.
Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht.
„Also, was ist?“, fragte er.
„Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“
„Also los!“, sagte er.
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Ein Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch.
„Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“
„Achtzehn.“
„Na, wenigstens volljährig.“
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Sitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
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Ein zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze.
Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
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Ein Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume.
In der Küche lag ein Zettel:
Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
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Nach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen.
Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“
„Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
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Utensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn.
„Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“
Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig.
„Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“
Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
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Geschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an.
Wir saßen beim Essen.
Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“
„Ich weiß nicht.“
Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
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Mein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück.
Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“
Ich lächelte. „Danke!“
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In Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln.
„Gibst du mir das Salz rüber?“
„Danke. Hier ist der Pfeffer.“
Spielt sich so Leben ab?
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Das Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
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Verzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört.
Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle?
Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
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Berichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
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Nachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun.
Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
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Wer ich bin, wer ich sein will | 01
Nachtluft. Frösteln zwischen den Sträuchern, zwischen den Beinen. Etwas, das eingefroren ist, etwas, das sich nicht mehr rührt und erstarren wird.
weiterlesenPanik | 02
Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer ...
weiterlesenBerlin ist Party | 03
Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig.
weiterlesenBahnhof Zoo | 04
Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe.
weiterlesenTaxe fahren | 05
Es goss in Strömen. Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht. „Also, was ist?“, fragte er. „Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“ „Also los!“, sagte er.
weiterlesenEin Mordmotiv | 06
Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch. „Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“ „Achtzehn.“ „Na, wenigstens volljährig.“
weiterlesenSitzenbleiben | 07
Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das hat einen riesigen Eindruck auf mich gemacht ...“
weiterlesenEin zarter Vogel | 08
Ich lag schon im Bett, genauer gesagt, in meinem Schlafsack auf der Matratze. Er kam nochmal an die offene Tür. Die kleine Lampe, die auf dem Boden stand und ihn von unten beleuchtete, malte geheimnisvolle Schatten in sein Gesicht. Er hatte eine kurze Hose an, wohl einen Slip, und den Oberkörper frei.
weiterlesenEin Entschluss | 09
Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume. In der Küche lag ein Zettel: Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst ...
weiterlesenNach dem Essen | 10
Wir hatten gegessen. Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“ „Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich.
weiterlesenUtensilien | 11
Ich wachte auf und presste mich an ihn. „Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“ Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig. „Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“ Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.
weiterlesenGeschmacksrichtungen | 12
„Hast du was?“, Benedikt sah mich forschend an. Wir saßen beim Essen. Ich hatte Wurstscheiben und Käse und Brot auf den Tisch gestellt. „Nein. Wieso?“ „Ich weiß nicht.“ Ich zerschnitt eine Tomate. „Was bedeutet ‚im sauren Bereich gepuffert‘?“
weiterlesenMein Heim | 13
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Kammer etwas herrichte?“, fragte ich ihn beim Frühstück. Er sah mich prüfend an. „Mach, was du willst, du kannst dir freien Lauf lassen.“ Ich lächelte. „Danke!“
weiterlesenIn Ketten | 14
Wir duschten, wir lachten, wir küssten uns. Wir leckten uns die süßen Wassertropfen von der Haut. Wir saßen beim Abendessen, ein normales schwules Ehepaar. Er schnitt Tomaten, ich hackte Zwiebeln. „Gibst du mir das Salz rüber?“ „Danke. Hier ist der Pfeffer.“ Spielt sich so Leben ab?
weiterlesenDas Gott geweihte Leben | 15
Ich hatte das Gefühl, Benedikt kam immer dann, wenn ihn ein neuer Einfall heimgesucht hatte, an dem er sich den ganzen Tag über während seiner Fahrten aufgegeilt hatte. Dann stürzte er sich auf mich, und ich war ihm ergeben. Einmal kam er mit der Schere, schnitt sich mehrere Büschel Sackhaare ab und stopfte sie mir in den Mund.
weiterlesenVerzückung | 16
Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört. Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle? Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
weiterlesenBerichterstattung | 17
Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen.
weiterlesenNachtluft | 18
Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun. Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben ...
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