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Das Flammenschwert

#9 Versteckenspielen

Ein Rabe flog krächzend auf, es war, als ob ein Zauber zerbräche. Für wie lange? Für immer? Eintauchen, untertauchen. Manchmal fängt es erst da wirklich an, wo man meint, es sei zu Ende. Was gab es, wofür wir Tante Stine brauchten, wenn wir es wirklich gewollt hätten? Und wofür brauchte sie uns?
––„Rabe!“, sagte Steffi wie ein Kleinkind. „Ich habe Angst vor Raben.“
––„Sie fressen den Leuten den Samen weg“, sagte Tante Stine, „das mag ich an ihnen.“ Sie dagegen zog uns die leergegessenen Teller weg und stand auf. „Also, wenn ihr etwas Süßes wollt – Nachtisch habe ich nicht, aber ich hab’ noch drei riesige Maikäfer aus Schokolade. Ich hatte damit gerechnet, dass ich zu Pfingsten bei euch eingeladen sein würde. Sie waren die ganze Zeit im Kühlschrank. Ich glaube, sie sind noch essbar, fast so knackig wie ich.“
––Wenn man bedachte, dass sie uns vorher schon zweimal mit Süßigkeiten gelockt hatte, so war das jetzt eine ziemlich klägliche Enthüllung. Hänsel und Gretel waren da planvoller bedrängt worden, was allerdings für Tante Stines Ungefährlichkeit sprach.

Sie ging mit den Tellern ins Haus. Keinem von uns kam der Einfall, ihr zu helfen. Wir waren überhaupt nur selten in ihrer Wohnung, aber ich erinnere mich dunkel: In ihrem Haus herrschte die Unordnung souverän – wie eine Königin in ihrem Reich.
––„Pisse“, sagte Boris lauernd.
––„Scheiße“, sagte Steffi anfeuernd.
––Ich ging noch weiter. Boris ging nochmal eins weiter und ließ das klobige Wort auf seiner Zunge zerschmelzen, bis es weg war. Im Wettbewerb um das Aussprechen des Unsäglichsten wollte unbedingt er es sein, der als Erster an die Spitze vordrang. Die Sprache ist dann auch seine bevorzugte Sportart geblieben.
––Vertrocknete Fliederblüten, wuchernde Farne. Die Geheimnisse, die ich dem Garten heute unterstelle – vielleicht waren sie nichts als Verwahrlosung, aus der ein paar Tomatenstauden herausragten wie Matrosen aus einem sinkenden Schiff: im Gesicht gespielte Tapferkeit, in der Hose das Herz und noch mehr.
––„So, hier sind sie“, sagte Tante Stine und setzte sich wieder.
––Die Schokoladen-Maikäfer waren wirklich so groß, dass wir schreiend davongelaufen wären, wenn es sich um lebendige Kreaturen gehandelt hätte. Steffi zupfte als Erste an dem bunten Papier, entblößte einen schon etwas blässlich schimmernden Körper und biss sorglos in den plumpen Leib. Boris und ich fanden wohl beide, dass wir nun nicht zimperlicher sein durften als jemand, der zum Pinkeln in die Hocke gehen muss, und pulten ebenfalls an unseren Rieseninsekten herum.
––„Schade“, sagte Tante Stine, „bis September gibt es jetzt nichts mehr. Dann geht es ja wieder mit den Lebkuchenherzen los, und bald danach kommen auch die Weihnachtsmänner.“ Sie öffnete sich eine neue Flasche, und ich fand, dass sie viel selbstverständlicher mit dem Korkenzieher umging als unser Vater. „Und dann sind wieder die Nugateier dran.“ Sie nahm einen Festtagsschluck. „Es müsste noch ein Karfreitagsmarzipan geben“, sagte sie, „so einen Christus am Kreuz, dem könnte man dann den Kopf abbeißen wie zwei Tage später dem Osterhasen.“
––Wir spürten alle drei, dass sie gar nicht mit uns sprach, und kauten an unserer ältlichen Schokolade. Plötzlich fühlte auch sie es und sagte: „Solche Gedanken darf man sich aber nicht anmerken lassen“, eine Ermahnung, die sie selbst vermutlich nicht vorhatte zu beherzigen. „Mögt ihr Versteckenspielen?“, fragte sie uns dennoch folgerichtig, und trotzdem kam es mir immer noch so vor, als ob sie nicht mit uns redete.
––„Jaaa!“, rief Steffi und rannte in die Sträucher.
––„Aber wenn niemand sucht … oder wenn alle suchen, überall …“, Tante Stine strich sich mit beiden Händen die wirren Haare zurück – eine entschlossene Gebärde, die nichts weiter war als hilflos.
––„Halt!“, schrie Boris, „wir müssen doch erst abzählen!“
––Mein Gott, war sie bunt! Bunt und fett. Ich glaubte, sie würde mir besser schmecken als der Maikäfer. Steffi kam zurück, ein bisschen enttäuscht, aber einsichtig. Die Sonne strahlte inzwischen so flach in den Garten, dass sie ihn verklärte.
––„Ich könnte jetzt pinkeln“, sagte Steffi verheißungsvoll.
––Tante Stine seufzte. Es klang nicht nach einem unterdrückten Tadel, sondern eher gleichgültig. Weitere Reaktionen bekam Steffi nicht. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als zu fragen: „Wer will mir zugucken?“
––„Ich“, sagte ich, denn – warum nicht?
––Tante Stine sah sie nur an, aber es lag eine gewisse Zustimmung in ihrem Blick, wahrscheinlich war es Höflichkeit: ‚ja, bitte‘. Boris strich das Papier seines Maikäfers glatt, so dass das Abbild eines grotesken Lebewesens auf Stanniol vor ihm lag.
––Ich hatte mir von dem Anblick meiner pinkelnden Schwester sowieso kaum etwas versprochen und so war ich nicht sonderlich enttäuscht darüber, nichts weiter zu sehen als ein kleines Mädchen in der Hocke. Steffi selbst hatte sich aber offenbar mehr Beifall erträumt und schrie eigensinnig: „Kacke!“
––„Steffi“, sagte Tante Stine ernst, „wir alle hier waren schon mal so alt wie du, aber du warst noch nie so alt wie wir. Wenn du alles in die Welt hinausposaunst, wirst du zum Schluss nichts mehr übrig behalten.“ Sie sprach zu Steffi, wie man zu einem Haustier spricht: Undenkbar, dass es die Worte begreift, aber möglich, dass es den Sinn erfasst.
––„Kacke“, wiederholte Steffi, diesmal flüsternd, und ich fand damals, dass Steffi mit ihren fünf Jahren nicht besser hätte ausdrücken können, dass sie verstanden hatte, worum es ging.
––„Wörter“, sagte Tante Stine, „das sind ja nur Wörter: ‚Faschistenknecht‘ … ‚Bullenschwein‘ … ‚Kommunistensau‘. Es sind alles nur un-anständige Worte. Aber sie können vernichten.“ Irgendetwas an ihr sah plötzlich schmal aus.

Boris behielt unbenässte Hände. Steffi weinte nicht mehr, nicht an jenem Nachmittag, und ich begann eine Abneigung zu entwickeln: Tränen, Schweiß, Blut, Samen – ich mag keine menschlichen Ausscheidungen, egal, ob sie ‚Sputum‘, ‚Urin‘ und ‚Exkremente‘ genannt werden oder ‚Rotze‘, ‚Pisse‘ und ‚Kacke‘. Wenn jemand ‚Scheiße!‘ flucht, zucke ich zusammen. Wahrscheinlich ist es noch mehr Scham als Ekel.

„Wir brauchen nicht abzuzählen“, sagte Tante Stine, „ich suche euch freiwillig. Hinter was sollte ich mich denn auch verstecken? Ich zähle laut bis zwanzig, dann müsst ihr verschwunden sein.“
––„Jungen riechen unten anders als Mädchen, nicht?“, sagte Boris.
––„Wie kommst du jetzt darauf?“, fragte Tante Stine; sie gestand sich wohl nur ungern ein, dass ihr diese Frage nicht passte.
––„Wir haben das mal getestet in der Schule“, sagte Boris.
––„Was? Im Unterricht?“, fragte Tante Stine verblüfft.
––„Nein, in der Pause. Es ist irgendwie anders.“
––„Wir wollen doch Versteckenspielen“, sagte Tante Stine ausweichend.
––„Im Paradies kann jeder machen, was er will, oder nicht?“, fragte Boris.
––„Kann schon sein“, antwortete Tante Stine, „aber meistens will jeder was machen, bei dem die anderen mitmachen müssen. Nur, die wollen das gar nicht.“
––„Und dann?“, fragte Boris.
––„Dann wird die Kulisse gewechselt“, sagte Tante Stine, „und aus dem Paradies wird die Hölle.“
––„Kann ich mal zugucken, wie du das machst, wenn du strullst?“, fragte Steffi. Offenbar war sie der Meinung, dass sie noch was lernen müsste, damit sie beim nächsten Mal mehr Applaus bekäme.
––„Weißt du“, sagte Tante Stine, „bei mir ist das alles furchtbar mühsam. Nur das Essen ist einfach. Euer Vater hat völlig recht, ich bin viel zu fett. Wenn ich häufiger bei euch zum Essen eingeladen sein würde, wäre ich vermutlich schlanker.“
––„Ich find’ das toll, dass du so bist“, sagte Boris.
––„Ich auch“, sagte ich, und Steffi rannte mit ihrem Kopf direkt in Tante Stines Bauch und sagte: „Ich auch!“

25 Kommentare zu “#9 Versteckenspielen

  1. Wenn niemand sucht … ich habe mich als Kind mal versteckt. Für mehrere Stunden. Am Ende war ich nicht mehr sicher, ob mich überhaupt irgendjemand gesucht hatte.

    1. Mehrere Stunden? Ernsthaft? Ich habe es in der Regel nie länger als ein paar Minuten ausgehalten. Dann wurde mir entweder mir oder meinen Freunden langweilig.

  2. Diese Schoko-Maikäfer kenne ich auch noch von früher. Hab mich immer ein bischen geekelt. Hasen und Weihnachtsmännder waren mir lieber 😉

  3. Die Kraft von Wörtern wird immer wieder unterschätzt. Sie können eine ungemein gefährliche und verletzende Waffe sein.

      1. Erstaunlich, wie oft sich die „Droge“ auf wenige, simple Wörter beschränkt. Vielen Menschen reichen Cartoons mit Sprechblase. So sieht es dann ja auch aus in der Welt. Wer nicht hören will, muss glotzen.

      2. Grob dosiert sind Worte definitiv einfacher zu gebrauchen. Man sieht es ja tagtäglich im Internet.

      1. Das Schulsystem sollte dringend überarbeitet werden. Freunde aus Frankreich haben ihre Kinder per Homeschooling ausgebildet. Ohne die Tortur einer regulären Schule und mit ziemlich beeindruckendem Erfolg.

      2. In der Theorie klingt das gut und richtig. Aus meiner eigenen Schulerfahrung würde ich dieses Ziel allerdings nicht als erreicht beschreiben.

      3. Ich habe auch eher gelernt wie schnell man nicht mehr zur Gemeinschaft gehört. Aber wahrscheinlich gehen die Erlebnisse da schon auseinander.

  4. „Ich finde toll, dass du so bist“ – An Bodypositivity mangelt es der Geschichte jedenfalls in keinster Weise.

  5. Im Paradies machen wir alle was wir wollen, mit wem wir wollen, solange wir wollen. Meine Phantasie reicht zwar nicht ganz aus, aber es klingt doch gut.

    1. Vielleicht würden wir uns alle etwas mehr um die Erde kümmern, wenn wir uns nicht auf die Versprechungen des Paradieses verlassen würden?

      1. Tun das noch viele? Diejenigen, die die Erde ruinieren, tun das doch aus Unwissenheit oder aus Gleichgültigkeit, nicht weil sie meinen, dass es so richtig hübsch erst im Himmel wird.

      2. Gleichgültigkeit ist das große Problem. Wen kümmert es denn wenn die Erde nach unserem Tod nicht mehr so richtig bewohnbar ist? Wer keine Kinder hat, kümmert sich jedenfalls wenig.

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