Teilen:

0811
Das Flammenschwert

#1 Urwald

Scham. Wut – auf alles. Und natürlich Ekel: der Tümpel, faulig stinkend und überwimmelt von Blut witternden Mücken. Die Katze: halb verwest schon, grün glitzernde Fliegen statt Augen in den Höhlen. Diese fahle Fratze plötzlich über dem Zaun, ihr Gestammel: drohend, drängend, erbärmlich. Das Brombeergestrüpp: Einmal stolperte ich mitten hinein, meine Arme waren verkratzt, die Beine zerschunden.
––Das sind Bilder, die ich schützend abrufe, wenn ich merke: Es ist wieder so weit. Aber Stiche, die nicht mehr jucken, und Wunden, die verheilt sind, können nichts ausrichten gegen ein Paradies, dessen Vollkommenheit in seiner Regellosigkeit bestand und dessen Einmaligkeit sich in der Erinnerung zur Nullmaligkeit steigert – unwiederbringlich. Und dann bleibt mir nichts weiter übrig, als mich überrollen zu lassen von dieser Welle: Sie auszuhalten und abzuwarten, bis es wieder vorbei ist, bis ich wieder Boden spüre unter den Füßen – die gnädige Gleichgültigkeit, eines Tages wird sie alles versandet haben: Scham, Wut, Ekel. Und den Schmerz.

Immer während der Sommerferien wurden wir damals zu Tante Stine verschickt, tagsüber: Montag bis Freitag. Bloß an den Wochenenden mussten wir mit unseren Eltern zusammenbleiben, das war meistens langweilig: Wir fuhren regelmäßig raus aufs Land und mussten öde Spaziergänge machen, dabei fragte uns unser Vater auch noch die Namen der Bäume und Pflanzen ab: wie in der Schule. Heute habe ich mehr Verständnis dafür und bin ihm sogar dankbar – man muss die Dinge benennen können, um durchs Leben zu kommen.
––Linden und Buchen sind schwieriger zu unterscheiden als Kastanien und Akazien. Und dann die vielen Begriffe, für die es mehrere Wörter gibt: Ein ausgefallenes zum Beispiel, das nur noch von alten Damen und Kunstkritikern gebraucht wird; eins, das gerade alle benutzen, das also demnächst altmodisch sein wird; oder auch mal eins, das als ordinär gilt und nicht gesagt werden darf. Wie man sich ausdrückt, so wird man beurteilt. Wie man spricht, so wirkt man. Was man sagt, was man verschweigt, das ist man. – Denkt man.

‚Stine‘, das war wohl eine Verstümmelung von ‚Christine‘, und sie nahm diese Verunstaltung ihres Namens hin wie eine Erbkrankheit, aber sie bestand darauf, dass man auch wirklich ‚S-tine‘ sagte und nicht etwa ‚Schtine‘.
––Von September bis Juni sahen wir Tante Stine kaum. Wenn es denn sein musste, lud meine Mutter sie zu Weihnachten und zu Ostern ein, aber wenn sich jemand anderes fand, um seinen Familientrieb an ihr zu befriedigen, dann war meiner Mutter das lieber, das spürten sogar wir schon.
––Genau genommen war Stine unsere Großtante, und sie war ‚verrückt‘. Wurde behauptet. Dieses Wort gebrauchten unsere Verwandten jedenfalls immer dann, wenn sie mal – ohne Tante Stine natürlich – zusammensaßen und der Meinung waren, dass wir Kinder zu eifrig spielten, um zu hören, was sie sagten. Erwachsene sind ja so einfältig. Ich gehe davon aus, dass es zumindest meinen Eltern ziemlich egal war, was Tante Stine von ihnen dachte, schließlich war sie keine Nachbarin, aber dass Steffi irgendwann mal plappermäulig zu ihr sagen würde: „Tante Stine, Papi und Mami glauben, du bist verrückt – ist das wirklich wahr?“, das wollten selbst sie nicht riskieren.

Tante Stine war die jüngere Schwester meines Großvaters. Er selbst war 1938 geboren, „im letzten Friedensjahr“, betonte er immer, und es klang ein bisschen wie eine Ausrede dafür, dass er nicht so kämpferisch geworden war wie seine Kriegsschwester. Er heiratete schon mit 21 und wurde mit 22 Vater, das war’s.
––Seine älteste Tochter, meine Mutter, bekam ihr erstes Kind auch mit 22, aber diese Zahlenfolge hat sich nicht fortgesetzt, aus einer Reihe von Gründen.

Steffi war damals, als sie zum ersten Mal mitdurfte zu Tante Stine, fünf, ich war acht, und Boris war zehn. Ich heiße Michael. Zu der Zeit, als wir geboren wurden, waren Boris, Michael und Steffi die Vornamen von populären deutschen Tennisspielern. Gott sei Dank weiß das heute kein Mensch mehr, aber damals kamen wir uns ganz schön blöd vor. Das heißt, nein, im Jahr 1992 waren wir sogar richtig stolz auf unsere Namen.
––Später erst, als die Sieger aufgehört hatten zu siegen, fanden wir, dass die Wahl unserer Eltern mehr von Sportbegeisterung als von Weitsicht zeugte. Wer schleppt sich schon gerne mit dem Namen eines verblichenen Idols ab? Vielleicht gab es im Frühjahr 1945 noch Jungen, die ‚Adolf‘ getauft wurden, aber müssen dann auch gleich ‚Hermann‘ und ‚Edda‘ noch hinterherkommen? Solche Art von Konsequenz hat mir, glaube ich, nie besonders imponiert. Na ja. Inzwischen treten wir – bis auf gestern – eigentlich nie mehr zu dritt auf, und wenn, dann denkt kein Mensch mehr daran, dass wir wie Onkel Dagoberts Neffen Tick, Trick und Track durchs Leben ziehen: Comics halten sich eben länger als Spitzensportler.

Wir lebten in Barmbek, und jeder, der Hamburg kennt, weiß, dass Barmbek so ungefähr das Zugepflastertste ist, was diese grüne Stadt zu bieten hat, dafür liegt es näher an – ja, an was eigentlich? Zugegeben, der Hauptbahnhof ist weniger weit weg, als wenn man in einer der Siedlungen in Steilshoop leben würde, aber was soll man am Hauptbahnhof, wenn man acht ist und nicht verreisen darf?
––Der Flugplatz war auch ziemlich nahe, bloß: Was ging uns das an? Der wurde doch vor allem von den Geschäftsleuten aus Harvestehude und aus den Elbvororten benutzt; die wohnten viel weiter weg von der Start- und Landebahn als wir und bekamen deshalb auch viel weniger von dem Lärm ab.
––Meine Eltern arbeiteten beide, und das Geld reichte aus, darüber gab es nie Streit. Unsere Wohnung war groß genug (obwohl es nicht gerade ideal ist, mit einem älteren Bruder und einer kleinen Schwester das Zimmer zu teilen), nur der Balkon war winzig, und er ging nach Norden zur Straße hin. Dieser Austritt reichte allenfalls dafür aus, um zu testen, ob man eine Jacke überziehen musste, bevor man auf die Straße rannte, und um es unserem Vater am Silvesterabend zu erlauben, den Sekt kalt stellen und drei gut gemeinte Raketen in den farbenprächtigen Neujahrshimmel schicken zu können. Vielleicht waren die Heuler etwas mickrig, aber sie waren doch unser ganz persönlicher Beitrag zum allgemeinen Jubel.

Wenn sie es gewollt hätten, hätten meine Eltern mit uns während der Sommerferien sicherlich an die Nordsee fahren, wahrscheinlich sogar nach Mallorca oder wenigstens an die Schwarzmeerküste fliegen können, aber sie wollten es nicht, vor allem mein Vater wollte es nicht.
––Ihn hatte es aus Oberbayern nach Hamburg verschlagen. Er hatte eine Arbeit, die er mochte, und er war gern im Norden, aber er liebte den Schnee und die Berge, deshalb fuhren wir jedes Jahr während der Osterferien mit dem Auto zum Skilaufen in die Dolomiten: Auf eine ‚Hütte‘; das war unser Familienurlaub, und es gab keinen Grund, sich darüber zu beklagen.
––Unser Vater war den ganzen Tag für uns da, er blieb immer geduldig, selbst wenn für uns die Bretter nicht wie für ihn die Welt bedeuteten und wir uns beim Sport deshalb nicht ganz so geschickt anstellten, wie unsere Namensgeber das hätten erhoffen lassen. Unsere Mutter kochte unsere Lieblingsessen, wofür sie in Hamburg nur selten Zeit hatte, und sie lachte auch häufiger als zu Hause. So beneideten wir unsere Spielgefährten nicht, die im Juli mit ihren Eltern die Berge raufwandern mussten, die wir im März runtergesaust waren.

Aber auch unsere Eltern hatten Glück: Sie konnten im Sommer auf Tante Stine zurückgreifen; das ließ der Familienkasse mehr Spielraum, als wenn sie uns in ein Ferienlager verfrachtet hätten, und hatte außerdem noch etwas Einmaliges – kein Vergleich mit den paar armseligen Spielplätzen der Umgebung.
––Nicht, dass Tante Stine eine Villa am Elbhang in Blankenese gehabt hätte – sonst wäre es wohl zu Weihnachten und zu Ostern und womöglich sogar zwischendurch zwar immer noch eine Überwindung, aber doch auch eine Ehre gewesen, sie zu Gast zu haben –, Tante Stine wohnte in einer Laubenkolonie: Sie hatte ein kleines Holzhaus und einen Garten, der mir damals groß vorkam.
––Bei Tante Stine dufteten die Tomaten an den Sträuchern sogar dann schon, wenn man sein Gesicht noch nicht gegen die Schale gepresst hielt, die Radieschen waren zwar dünn, aber so scharf, dass es in der Nase kitzelte, wenn man hineinbiss. Die Rosenhecke war so undurchdringlich, wie man das von Dornröschen her gewohnt war, und das Gras wuchs da, wo es nicht von rabiateren Gewächsen überwuchert wurde, so hoch, dass sich die Nachbarn beschwerten: „Wir sind hier doch nicht im Urwald!“
––Aber damit hatten sie unrecht. Wir waren im Urwald!

28 Kommentare zu “#1 Urwald

  1. Oh, ich bin sprachlos, das liest sich wie ein Thriller und hätte ich nach den Gedichten nun nicht erwartet. Bin ganz gespannt wie es nun weiter geht.

    1. Thriller ist jetzt vielleicht ein wenig übertrieben, aber ich freue mich natürlich auch über die neue Story…

  2. Die Katze ist sehr gruselig am Ende, aber genau richtig, gar beachtenswert in Szene gesetzt. Grundsätzliche finde ich Ihre vielseitige Art der Bebilderung sehr bewundernswert und es gibt immer wieder etwas neues zu Entdecken.

    1. Ach, ein Märchen aus früheren Zeiten! Wenn der Großvater 1938 geboren wurde, seine Tochter 22 Jahre später zur Welt kam, dann kann sie schlecht die Mutter von Hanno sein – oder habe ich etwas falsch verstanden? Das Leben ist so kompliziert. Und die Literatur, wenn sie gut ist, auch.

  3. Hahaha, die Katze ist super! Am Anfang dachte ich schon, „liegt da wirklich eine Katze im Gras?“, und als ich am Ende die Nahaufnahme mit den Gedärmen sah, musste ich lauthals lachen. Ist vielleicht etwas markaber von mir, aber so gelungen.

      1. Manchmal muss aber auch der Holzhammer her. Subtilität ist Gold wert, passt aber nicht zu jedem Vorhaben.

      2. Mit acht Jahren brennen sich Bilder noch anders in den Kopf ein als später im Leben. Da ist das verwesende Kätzchen durchaus angebracht.

  4. ich spiele ja sehr gern tennis und weiß ganz genau wer mit steffi und boris gemeint ist. 🙂 wird im verdornten garten später auch tennis gespielt?

      1. „Namen sind Schall und Rauch“, sagt wieder mal der Faust des inzwischen gefackten Göhte. Faust will damit aber bloß davon ablenken, dass er an keinen leibhaftigen Gott glaubt. Namen, die man durch sein ganzes Leben schleppt, bedeuten sehr viel. Vornamen sagen vor allem etwas über die Eltern und deren Idole aus. Lady Gaga statt Stefani Joanne Angelina Germanotta oder Gerda statt Gerd verrät dagegen viel über die Namensträgerin. Den Ich-Erzähler ärgert die Banalität dieser Dreier-Kombination. Dabei fällt bei jedem für sich der Bezug gar nicht auf.

      2. Dass der gute Goethe ähnlich populär war wie heute Lady Gaga ist wohl schon eine ganze Weile her. Ein bischen mehr Poetik und Neugier auf Literarisches würde aber sicher auch heute wieder gut tun.

  5. Wie man spricht, so wirkt man. Wie man sich kleidet ebenfalls. Äußere Dinge sind den Inneren näher als man manchmal wahrhaben möchte.

    1. Das Äußere gehört halt genauso zum Menschen wie der Rest. Wie wir uns anziehen, wer wir sein wollen, welche Maske wir tragen ist ein großer Teil unserer Identität.

  6. Scham, Wut, Ekel, Schmerz … was für eindrückliche Erinnerungen an diese Jugend-/Sommerzeit! Meine Erinnerungen sind da doch weit weniger aufregend.

  7. Ich habe meine Sommerferien jahrelang an der Ostsee verbringen müssen und mich doch immer nach den Bergen gesehnt.

    1. Man sehnt sich immer nach dem, was weit entfernt ist. Als Kind besonders. Für die buddhistische Zufriedenheit braucht es meistens viele sehnsuchtsvolle Jahre.

    2. In jedem Falle ist es toll wenn Kinder so viel Natur mitbekommen. Heute, wo mehr und mehr Menschen in die Großstädte ziehen, ist das doch gar nicht mehr garantiert.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

5 + eins =