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––„Tante Stine!“, Boris sah ihr tief ins Gesicht, „was machst du eigentlich die ganze Zeit, wenn wir nicht da sind?“"> #10 Sonst ist es aus! - Hanno Rinke

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Das Flammenschwert

#10 Sonst ist es aus!

Tante Stine streichelte Steffi wieder über das Haar, dann setzte sie sich mit der gebotenen Vorsicht auf ihren Gartenstuhl zurück. „Es ist so schön mit euch“, sagte sie, „und wir haben Wochen vor uns – Wochen!“
––Wir setzten uns zu ihr.
––„Tante Stine!“, Boris sah ihr tief ins Gesicht, „was machst du eigentlich die ganze Zeit, wenn wir nicht da sind?“
––„Aach …“, sie hob den Kopf, „… ich lese viel, … ich mache Spaziergänge – manchmal fahr ich rein in die Stadt und seh’ mir die Leute an.“ Ihr Gesichtsausdruck bekam so etwas Fröhliches. „Menschen zuzusehen, das ist lustig. Und traurig. Es gibt mir Anregungen. Ich zeichne doch so viel, nachher werd ich euch etwas davon zeigen. Ich esse. Na, das seht ihr ja. Und abends seh’ ich fern. Das Fernsehen ist ein Segen für die Menschheit, vor allem für die Masse der Einsamen.“ Das Fröhliche blieb in ihrem Gesicht, obwohl sie aufgehört hatte zu reden, es war erstarrt.
––„Hast du denn keine Freunde?“, fragte Boris.
––Es war seltsam: Damals stellte Boris meine Fragen und heute ist er schüchterner als ich – vorsichtiger zumindest. Geworden.
––„Freunde …“, aus ihren Zügen schwand der Ausdruck von Fröhlichkeit zögernd, wie jemand, der sich unbemerkt aus einer Gesellschaft stehlen will, „… bin ich nicht so was wie eine ‚Ulknudel‘?“, fragte sie.
––Sie sah unserem Staunen an, dass wir den Ausdruck nicht kannten. „Ein Partygirl im Ruhestand, eine tolle Nummer – leider schon etwas zu hoch: fünfzig, eine merkwürdige Zahl … – Ich zeichne mir meine Freunde.“ Sie legte ihre Hand auf Boris Hand: „Und ihr seid natürlich meine Freunde.“
––„Darf ich dich auch mal anmalen?“, fragte Boris.
––„Du darfst uns alle anmalen“, sagte Tante Stine, „überall, wo du willst.“
––„Aber wir dürfen es Papi und Mami nicht erzählen“, sagte Boris weise, „sonst ist es aus!“

Es schien so, als ob wir alle das begriffen hätten, Tante Stine, ich sowieso und sogar Steffi. Und es ging ja auch eine ganze Woche lang gut. Immer, wenn unser Vater uns gegen sieben Uhr abends abholen kam, winkte Tante Stine hinter uns her, und wir sagten wahrheitsgemäß, dass es ein schöner Tag gewesen war.
––Steffi drückte sich am Abend brav aus: „Mami, ich muss mal“, sagte sie, wenn das der Fall war, und sie sagte, als die Klotür noch offen stand (ohnehin schon ein Vergehen), während Boris abließ: „Boris pinkelt im Stehen!“ Das war verboten.
––Ich nahm ihre Aussage aber nicht als Petzen, sondern als bewusste Demonstration davon, dass Steffi es verstand, die Terminologie differenziert einzusetzen. Hätte sie ‚Boris pisst‘ gesagt, wäre es kritisch geworden. Doch noch herrschte Harmonie.
––Aber dann am nächsten Sonntag! Konnte denn ein kurzes Wochenende mit unseren fürsorglichen Eltern wirklich das ganze schöne Bild wegradieren, an dem wir noch jahrelang hatten zeichnen wollen?
––Zugegeben, es gab irgendetwas Spannendes im Fernsehen, und unsere Mutter kam später als sonst in unser Zimmer, um uns ‚Gute Nacht!‘ zu sagen. Boris und ich waren noch wach, aber Steffi war schon abgetaucht. Und als unsere Mutter ihr die Hand auf die Stirn legte und sie behutsam auf die Nase küsste, fragte Steffi schlaftrunken, aber leider doch verständlich: „Mami, dürfen wir das denn hier nie, was wir alles bei Tante Stine dürfen?“
––„Was dürft ihr denn bei Tante Stine?“, fragte meine Mutter ahnungsvoll.

Bis ich neunzehn war, habe ich Tante Stine dann nicht wiedergesehen. Sie kam ja sofort in die Psychiatrie, und unsere Eltern verboten uns strikt, sie je zu besuchen. Verdächtig oft erläuterten sie uns wortreich, wie schädlich es für uns und für Tante Stine wäre, falls wir einander wieder begegneten: „Tante Stine ist sehr, sehr krank. Sie braucht vollkommene Ruhe.“
––Nie behaupteten sie, dass Tante Stine gefährlich sei, aber wahrscheinlich bereuten sie es doch, dass sie uns wie Hänsel und Gretel Tante Stines Wechseljahren ausgesetzt hatten.
––Als die Verbote unserer Eltern nichts mehr zählten, hatte die Zeit ihr Werk schon getan. Eine Mischung aus Scheu und Grauen hinderte mich noch lange daran, die Anstalt zu betreten: süße Erinnerungen, bittere Erfahrungen, die Furcht vor dem, was die Gegenwart aus der Vergangenheit gemacht haben würde.

Vor ihrem Gartenzaun habe ich noch ein paar Mal gestanden – und kam mir dabei vor wie der Drogensüchtige –, vor dem Bauzaun später auch und sogar vor dem grabgrauen Mietshaus, das jetzt dort klotzt. Höher als vier Stockwerke durfte es sich dem Himmel nicht nähern: wegen der Einflugschneise, die sie so geliebt hatte.
––Sicher wäre Stine damals nicht gleich in die geschlossene Abteilung gekommen, aber dann knackte sie dieser Schwester, die ihr einen Schlauch in den Mund einführen sollte, den Zeigefinger ab, einfach so. Das heißt, nein, das ist ungerecht von mir. Sie hatte zu dieser Zeit bestimmt noch genügend Grimm in sich, um herzhaft und gezielt zuzubeißen.
––Aber dann, elf Jahre später, gab sie vor, mich gar nicht mehr zu erkennen. „Entweder haben ihr die Drogen so zugesetzt oder sie hat die Zeit dazu genutzt, sich das Lügen anzutrainieren“, dachte ich mir. Ich hatte gehofft, wenn ich ihr erkläre, wer ich bin, würde sie sagen: ‚Michael! Du bist es?‘, aber es gab wohl gar nichts mehr, an das sie sich noch erinnern wollte.
––„Tante Stine!“, sagte ich, „o Gott, du bist ja so dünn!“
––„Ich weiß ja nicht, wer Sie sind“, antwortete Tante Stine und betrachtete mich mit Interesse, „jedenfalls sind Sie jung und Sie sind frei. Aber können Sie mir vielleicht einen Grund nennen, weshalb ich diesen Fraß hier runterwürgen sollte? Um zuzunehmen etwa?“
––Ich bin dann nicht mehr hingegangen. Mir hätte es nur wehgetan und ihr hätte es nichts genutzt. Oder doch?

„Tante Stine! Du hast ja zugenommen!“
––„Man kann es schon merken, nicht? Also wissen Sie, das Essen hier ist ja eigentlich furchtbar, aber manchmal kommt so ein junger Mann mich besuchen – dem möchte ich gefallen. Ich seh’ sowas in ihm – vielleicht kann er mithelfen, aus der Welt das zu machen, was uns nicht gelungen ist. Darum esse ich jetzt. Damit er in mir eine Kraft sieht – jemanden, der nicht aufgegeben hat. Nicht aufgeben, verstehen Sie? Nicht aufgeben! Und wenn man es doch tut, sich nichts anmerken lassen! Nicht für einen selbst, sondern für die anderen. Die dürfen das nicht merken! Das entmutigt doch sonst so.“
––Das hat Tante Stine nie gesagt, denn ich war ja nie mehr da, und so hatte sie nie einen Grund gehabt, es zu sagen. Ob es wohl irgendein Zauberwort gegeben hätte, das sie hätte zurückholen können in unsere Welt? Ein ganz säuisches vielleicht, eins von damals. Ein Wort, das wie ein Bewusstseinsschub gewirkt hätte. Plötzlich wäre alles wieder da gewesen. Doch wozu?

Der längst überholte Genuss an zur Schau gestellter Schamlosigkeit. Selbst die dreckigsten Ausdrücke bleichen irgendwann aus wie zu oft gewaschene Reizwäsche, aber vielleicht machen solche Zungen-Schläge trotzdem Mut, wenn man sie oft genug austeilt und wenn man sich daran gewöhnt hat, dass Übertretungen die einzig richtigen Schritte sind. Erst muss man lernen, ‚Scheiße‘ zu sagen, bevor man zu fragen lernt: ‚Woran liegt es eigentlich, dass alles so beschissen ist?‘
––„Hattest du früher, in deiner Glanzzeit, geglaubt, dass es so funktioniert, Tante Stine?“
––In deiner Jugend gab es eine Zeit, da galt Verrohung als Waffe. Als ich Kind war, da war das schon längst nicht mehr so, da war Verrohung bereits Alltag – und Verfeinerung auch: Primitiver und komplizierter zugleich ist alles geworden. Natürlich hattest du damals recht gehabt: 1960 war das Rad auch schon erfunden, aber es dreht sich immer schneller, je älter man wird. Und da merkt man eines Tages, dass einem von Anfang an, ohne dass man es so wollte, das Wort ‚Scheiße‘ viel häufiger über die Lippen gekommen ist als das Wort ‚Liebe‘.

21 Kommentare zu “#10 Sonst ist es aus!

  1. Das Wort Scheiße kommt einem viel häufiger über die Lippen als das Wort Liebe. Ach wie ist das doch wahr!

    1. Wie George Clooney schon sagte: Verdammte Scheiße, ihr verwichsten Vampire, ich werde jeden Einzelnen von euch gottlosen, verfickten Scheißkerlen töten!

  2. Primitiver und komplizierter zugleich könnte man das benennen, was sich rund um die verschiedenen Internetforen abspielt. Je komplizierte und schneller die Themen, desto primitiver fallen die Reaktionen darauf aus.

    1. Jetzt verstehe ich einige vorherige (unangenehme) Teile der Geschichte besser. Irgendwie beruhigend, dass sich am Ende alles wieder normalisiert.

      1. Ich fand diese Auflösung auch erleichternd. Die Geschichte bleibt schwer verdaulich. Aber dass es eben nicht um das Normalisieren von diesen Spielchen geht, beruhigt mich.

      2. Und trotzdem auch ein wenig unbefriedigend, nicht? Auf einmal ist sie weggesperrt. So richtig geklärt hat sich ihr Verhalten nicht.

      3. Menschen und ihr Verhalten zu verstehen ist zwar ungemein spannend, aber nicht immer möglich. Nicht alles lässt sich nachvollziehbar aufklären.

      4. Ich hätte zu Beginn nicht damit gerechnet, aber es bleibt doch spannend.

    1. Schlimm trifft es. Sowohl das Verhalten der Tante in den ersten 9 Abschnitten, wie auch das Schicksal in der Psychatrie.

  3. Die Cousine meines Vaters endete laut den Erzählungen meiner Familie ebenfalls in der geschlossenen Abteilung. Wirklich nicht schön, was dort alles passieren kann. Und auch erschreckend wie schnell man dort mitunter landet.

    1. Schnell landen weiss ich nicht, aber dort versacken ist sicher ein Thema. Zumindest in den auf Profit ausgerichteten Häusern in den USA. Ich erinnere mich an den Film ‚Unsane‘ von Soderbergh…

      1. Jede Gesellschaft ist daran zu messen, wie sie mit ihren Außenseitern umgeht. Alles dulden kann man nicht, alle wegsperren kann man womöglich, sollte man aber nicht.

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