Weite Reisen



Atlantische Turbulenzen

Aus gegebenem Anlass greife ich mal wieder in meine Schatztruhe. Dabei kommt die Beschreibung einer Reise nach Nord- und Südamerika zum Vorschein. Wie immer mischt sich sofort Unerwartetes mit Unerträglichem.

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Atlantische Turbulenzen

#1 – Atlantische Turbulenzen

Trump, Kim Jong-un und Putin beschäftigen uns ja eigentlich schon genug. Trotzdem kommen die Probleme von Großbritannien, Syrien und Afghanistan dazu. Obendrauf Dieselskandal, Umweltzerstörung und Europakrise. Reicht es nun?

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#2 – Frankfurt

Als die Abfertigung durchgestanden war, wandte ich mich schüchtern an eine der Stewardessen und fragte, ob ich denn wohl auch hier per Lautsprecher erfahren würde, wann ich nach New York dürfte. Das geinge manchmal ganz schnell, erwiderte sie. Aber die Maschine würde nicht ohne mich fliegen, beharrte ich kämpferisch, denn ich habe Gepäck aufgegeben. Darin könne eine Bombe sein.

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#3 – New York (1)

Die Passkontrolle nahm ich mit weltmännischer Geschwindigkeit, dann stand ich zwanzig Minuten nach einem Gepäckkarren an, immer in der Angst, dass mein Gepäck inzwischen flöten geht, was ja das Anstellen nach dem Karren zur Sinnlosigkeit verdammt hätte. Auch diese war, wie so viele Sorgen, unbegründet. Mein Gepäck hatte gar keine Möglichkeit, flöten zu gehen, und niemand mit ihm, weil es einfach gar nicht erst kam.

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#4 – New York (2)

Am Gate 18 standen zwar keine Abflugzeiten nach irgendwohin, dafür aber jede Menge Menschen. Mit einer gewissen hysterischen Schärfe in der Stimme und wie der Landessprache nicht mächtig schrie ich eine rumstehende Uniformierte an: „Boston? Boston!“ und sie, ebenfalls sprachunfähig, wies stumm auf die Schlange. Ich erwog, mich aufzuregen ...

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#5 – Boston (1)

Es schaukelte und hoppelte, und obwohl ich mir beschwörend eingeredet hatte, dass ich zu müde und erschöpft sei, um mich noch über irgendetwas aufzuregen, regte ich mich ganz schrecklich auf.

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#6 – Boston (2)

Ich stieg also zehn vor acht vor der Symphony Hall in eine Taxe, nachdem ich Ozawas Entzücken über die erfolgreich verlaufene Nachaufnahme geteilt und mit ihm für den nächsten Tag, 19 Uhr, eine Verabredung getroffen hatte. „To the ‚Four Seasons‘ and then to the ‚Chart-House‘“, bat ich. Ich hatte keine Ahnung, wo das ‚Four Seasons‘ war ...

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#7 – Boston (3)

Pünktlich um neun waren wir zur Stelle, Gidon mitsamt seinem wiedergewonnenen Appetit auch. Seit dem Nachtisch vom Vorabend hatte der ihn nicht mehr verlassen und während er darüber klagte, dass er kein Auge zugedrückt habe und die Welt auch sonst scheußlich sei, verdrückte er mehrere Eier mit Schinken, ohne darüber Brötchen, Käse oder Marmelade zu vergessen. Das mit dem zugedrückten Auge hatte noch eine besondere Bewandtnis, die seinen Weltschmerz sichtlich steigerte ...

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#8 – Houston (1)

In Houston kam außer mir zwar mein Koffer an, aber weder mein Anzugsack noch Bill war da. In meinem Anzugsack waren alle Hosen, Hemden und Schuhe, in Bill lag meine Hoffnung auf ein Bett für die Nacht begründet.

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#9 – Houston (2)

Ich war wütend auf mich, dass ich statt Vorfreude Abschiedstrauer empfand. Bill war wütend auf sich, weil er seine Sonnenbrille im Auto vergessen hatte.

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#10 – Caracas (1)

Weil wir noch Geld wechselten, waren wir danach ganz am Ende der Schlange bei der Passkontrolle. Um völlig reguläre Dollarnoten zu tauschen, mussten wir die Pässe zeigen und Formulare wurden umständlich ausgefüllt. Ich mokierte mich ...

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#11 – Caracas (2)

Für die Morgentoilette braucht Bill etwa 60 Minuten, von denen er dreißig unter der Dusche zubringt, danach ist er so ausgelaugt, dass er sich zehn Minuten cremen muss, dann geht es weiter.

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#12 – Caracas (3)

„Och, wir hatten keinen Sex.“ – Natürlich nicht, danach hätte ich ja so auch nicht gefragt. Ach so, die Disco war ganz gut.

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#13 – Caracas (4)

Gegen acht kam Bill zurück, tütenbepackt, und sagte mit grimmiger Genugtuung: „Jetzt weiß ich es: Sie geben keine Nachrichten weiter. Ich habe dreimal von unterwegs angerufen und Nachrichten hinterlassen, aber keine ist da. Abel wird es längst versucht haben.“

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#14 – Caracas (5)

Abel wartete schon, als wir im Hotel zurück waren. Ich unterdrückte eine leichte Müdigkeit, weil ich mir das, was Abel zu bieten haben würde, nicht entgehen lassen wollte.

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#15 – Caracas (6)

Als ich irgendwann in der Nacht aufwachte, merkte ich, dass Bill gekommen sein musste, denn es brannte Licht im Bad. Nach einer Weile fand ich, dass er so lange aber nicht geräuschlos an sich putzen und pudern konnte. Tat er auch nicht.

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#16 – Caracas (7)

Jeden Abend kann man nicht kneifen. Ich bin zwar nicht essen gegangen, aber ich habe mir ein Clubsandwich aufs Zimmer bestellt, die köstlichste Mahlzeit, seit ich in Südamerika bin, ich hatte das nicht für möglich gehalten. Nun werde ich doch noch mal runtergehen in den Club, um mich deprimieren zu lassen – oder auch nicht.

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#17 – Caracas (8)

Gegen drei lief ich wieder zurück, denn es hatte angefangen in Strömen zu gießen: im April! In Caracas!! Bloß um mich zu demütigen!!! Bill lag da wie tot, und ich stellte fest, dass er eine halbe Flasche Rum ausgetrunken hatte.

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#18 – Caracas (9)

Bill kam wirklich überraschend früh, schon kurz vor zwölf, ich war noch wach. Aber wie ich erst später erfuhr, drängten ihn weder Einsicht noch Müdigkeit, sondern das völlig Un- oder jedenfalls nur von mir Erwartete war eingetreten: Romolo.

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#19 – Caracas (10)

Gegen vier war Bill noch nicht zurück, ich aber darmhalber schon zweimal aufgestanden. Die drakonischen Gepflogenheiten des venezolanischen Flugverkehrs zwangen uns, um fünf Uhr am Airport zu erscheinen, damit wir um sieben Uhr fliegen konnten. Gegen viertel nach vier stieß ich an der Klotür mit Bill zusammen. Er war ziemlich betrunken und gab selbst "a lot of" Cuba libres zu. "Good bye, Scheißland Venezuela", schrie er ...

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#20 – Houston (3)

Als wir am Parkplatz angekommen waren, sagte Bill: „Look“, nahm alle Bolivar-Münzen, die er noch hatte, und schmiss sie mit theatralischer Geste über den Zaun von sich, mit sicher entgegengesetzten Wünschen von Rom-Touristen, die Lire-Münzen am Trevi-Brunnen über ihre linke Schulter werfen. Später, zu Hause, zerrte er noch ein Sweatshirt von seinem vorigen Venezuela-Aufenthalt aus dem Schrank und ließ es angeekelt in den Mülleimer fallen.

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Atlantische Turbulenzen

#21 – Houston (4)

Nun war es Nacht, und Texas stellte in fast obszön anmutender Geste den Sternenhimmel zur Schau, den ich in den Tropen erwartet, aber wegen des Smogs nicht zu sehen bekommen hatte. Wir zogen durch die Bars. Im wahrsten Sinne des Wortes: rein, durch, raus – grußlos, drinklos.

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#22 – New York (3)

Von da an ging alles glatt. Die Maschine wurde pünktlich abgerufen, die Stewardess begrüßte mich begeistert, ich glaube, sie hat mich umarmt, ob sie mich geküsst hat, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls setzte sie sich gleich neben mich, während die Passagiere der Econony Class stumm wie Büßer an uns vorbeipilgerten. Ich wartete auf einen Heiratsantrag ...

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Atlantische Turbulenzen

#23 – Hamburg (3)

Der Abflug war pünktlich, ich hatte den schönsten Platz im ganzen Flugzeug und niemanden neben mir. Ich bin angstlos. Ich fliege angstlos. Bill hat mir erzählt, wenn Fassbinder ein neues Drehbuch schrieb, habe er immer einen Langstreckenflug hin und zurück gebucht, weil er nirgendwo sonst die Ruhe zum Schreiben gehabt und empfunden hätte.

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#24 – Zusammenfassung einer Reise

Für ganz Mutige hier noch eine zeitüberbrückende Zusammenfassung der Reise in zwei Teilen:

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DIE ELF

Zweiter Weltkrieg. Ein katholischer Nazi – eine polnische Jüdin. Er überlebt im Schützengraben. Sie überlebt im Berliner Versteck. Er macht ihr ein Kind und kommt ins Gefängnis. Er kommt wieder frei und heiratet sie. Das Kind bin ich, die personifizierte Wiedergutmachung. Ein Leben ohne Gewissensbisse.

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DIE ELF

‚DIE ELF‘ – Leben ohne Gewissensbisse

Zweiter Weltkrieg. Ein katholischer Nazi – eine polnische Jüdin. Er überlebt im Schützengraben. Sie überlebt im Berliner Versteck. Er macht ihr ein Kind und kommt ins Gefängnis. Er kommt wieder frei und heiratet sie. Das Kind bin ich, die personifizierte Wiedergutmachung. Ein Leben ohne Gewissensbisse.

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DIE ELF

#0.1 | Kampfansage

19. Juni 2023: mein Geburtstag. Mein Gott! Siebenundsiebzig! Unser aller Gott. Niemandes Gott. Ein Mas‚gott‘chen vielleicht. – Kalauer sind okay, aber abergläubig bin ich nicht.

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DIE ELF

#1.1 | Der liebe Gott und das schwarze Loch

Als Gott die Erde in sechs Tagen erschuf und am siebten ausruhte, war die Welt noch in Ordnung. Inzwischen müssen wir uns, falls wir nicht lieber blöde bzw. bildungsfern bleiben wollen, mit dem Urknall und seinen Folgen auseinandersetzen.

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DIE ELF

#1.2 | Begehrliche Blicke als Straftatbestand

Zuerst haben die Zweibeiner auch nicht viel schlimmer gewütet als später die Heuschrecken, nicht mal, als Homo erectus schon das Feuer nutzte, um andere Geschöpfe zu braten oder zu verscheuchen. Aber nach und nach haben die Menschen ihr Potenzial potenzartig gesteigert, sodass wir heute da sind, wo wir sind. Noch verheerenderen Einfluss nahmen nur die Cyanobakterien.

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DIE ELF

#2.1 | Umbenennungen

Irena hatte den Krieg überlebt und war weder ins KZ geworfen noch vergewaltigt worden. Nur aus ihrem polnischen ‚A‘ war ein deutsches ‚E‘ geworden: Irene.

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DIE ELF

#3.1 | Was normal ist und was nicht

An den Geburtstag selbst erinnere ich mich nicht. Später habe ich mich gern als Außenseiter stilisiert, weil ich keine Tore schießen konnte. Noch heute träume ich, dass ich nach dem Ball trete und ihn nicht treffe.

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DIE ELF

#3.2 | Keine Asche-Wurst an Silvester

An meinem elften Geburtstag war ich in der sechsten Klasse: Mitschülerinnen, die meinem ‚Café zur schönen Aussicht‘ im Birnbaum gegenüber aufgeschlossen gewesen waren, hatte ich schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr ...

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#3.3 | Acht Kostbarkeiten statt Gefängnis

Damals werde ich die Jahre wohl anders untergliedert haben, aber heute kann ich sie mir am besten daran merken, wie ich die Sommerferien verbrachte. Wo meine Mutter sich ihre Anregungen für die Reisen holte, weiß ich nicht. Für den Aufenthalt in Juan-les-Pins mit meinem Vater vielleicht in der ‚Vogue‘, für die Ferien mit mir sechs Wochen später sicher nicht.

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DIE ELF

#3.4 | Ahnungen und Gewissheiten

Am nächsten Tag fuhren wir über den Großglockner. War sehr hoch. Damals erkannte ich, dass mir blumige Täler mehr liegen als majestätische Höhen. Trotzdem posierte ich dort oben (un?)befangen vor Guntrams Kamera: mit Vaters Hut und meinem Limonadenglas ...

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#3.5 | Zu weit gegangen

Kurz vor meinem elften Geburtstag gönnten sich meine Eltern eine kleine Erholung von mir. Ende Mai sonnten sie sich auf Capri. Meine Großmutter war in Berlin von Guntrams Fahrer abgeholt worden, um das zu leisten, was sie unter Betreuung verstand. In dieser Zeit fand in meiner Schule eine Impfaktion statt: Tetanus.

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#4.1 | Ein Satz reicht

Mein Geburtstag 1968. An den erinnere ich mich ganz genau: Harald, Hans-Dieter und ich saßen in der Loggia, und Irene hatte eine Matjes-Platte vorbereitet.

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#4.2 | Leben in der Bude

Harald, Hans-Dieter und ich waren sehr verschieden. Unsere Elternhäuser und unsere Charaktere waren sehr verschieden. Wieso es trotzdem mit uns klappte, ist mir ein Rätsel.

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DIE ELF

#4.3 | Doppeltes Pech

Nach unserer langen Dreierreise durch Italien studierten Harald und Hans-Dieter weiter. Ich bewarb mich bei der neu gegründeten Filmhochschule in München und fiel durch.

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DIE ELF

#5.1 | Wider die kulturelle Aneignung!

Elf Jahre – das ist schon eine lange Zeit! Vielleicht nicht so sehr im Schatten einer Burg zwischen dem Jahr 1000 und dem Jahr 1011, aber mein Leben zwischen 1968 und 1979, das war komplett anders geworden.

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#5.2 | Ich werde mein Bruder

Meine vielen Reisen hingen mit dem Beruf zusammen, den ich inzwischen – ‚ausübte‘ ist das richtige Wort; ich übte aus, wie weit man gehen kann: in den Straßen von New York, bei Verhandlungen mit Agenten, in der Beeinflussung von Künstlern.

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#5.3 | Ereignislosigkeit als Ziel?

Im November 1975 lernte ich bei Karajan-Aufnahmen in der Berliner Philharmonie Roland kennen, allerdings nicht im Konzertsaal, sondern anschließend im Clublokal: ‚Gay‘.

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#6.1 | Tränen

Ein schlimmer Geburtstag. Roland hatte Aids. Wir saßen zu viert in der Loggia bei meinen Eltern. Hinten im Garten mähte noch der Gärtner. Prosecco und Prosciutto. Ein provisorisches Glück: Notbehelf mit Melone.

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#7.1 | Trinken macht nicht durstig

Spätestens seit ich elf war, kannte ich die meistgehörten Schlager des Jahres und war schon längst vor dem Abitur mit allen internationalen Top-Hits vertraut. Mit Harald gemeinsam hatte ich in den Sechziger- und Siebzigerjahren das jeweilige Musikangebot abgekostet: toll – unerheblich – grässlich.

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#7.2 | Wie das Leben weitergeht

Schon im Jahr nach Rolands Tod sah ich keinen Sinn mehr darin, mit meinen Musikkenntnissen Geld zu verdienen und kündigte. Was genau ich mir damals mit Mitte vierzig vorstellte, dessen bin ich mir nicht sicher.

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#8.1 | Mit der Gabel, mit den Händen

Da habe ich keine Gedächtnislücken. Ich habe ein großes Fest veranstaltet und alle Freunde und Verwandte in den Othmarscher ‚Röperhof‘ eingeladen. Gibt’s sogar als Film.

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#8.2 | Glück gehabt. Angeblich!

Früher saß ich mit Block und Filzstift vor einem Café oder Schreibtisch und schrieb mit lockerer Hand Seite um Seite. Meine Handschrift fehlt mir.

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#9.1 | Mitleid mit den Reichen

Ein stiller Geburtstag. Keine Gäste. Nur Silke und ich in Meran. Mit Joy aus Griechenland. Sie kocht und betreut mich, seit Rafał weg ist.

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#9.2 | Missverständnisse

Mit achtzehn schwärmte ich von der Vergangenheit weitaus mehr als von der Zukunft. Inzwischen sehe ich alle Defizite der Vergangenheit.

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#9.3 | Was sich lohnt

Wer statt zu meckern lieber behauptet, etwas für die Gemeinschaft tun zu wollen, der/die will seine Untertanen/Wähler meistens – auch oder nur – beeinflussen. ‚Gestalten wollen‘ nennen die Wohltäter das.

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#9.4 | Alles Schlechte zum Geburtstag

Die Wirklichkeit zu erkennen ist nötig und unmöglich: Der Standpunkt macht’s. Wenn ich halbwegs bei Verstand bin und sehe, wie es zugeht, will ich entweder etwas verändern oder daran arbeiten, dass die anderen nicht merken, wie es zugeht, damit sie meine gesicherte Position nicht infrage stellen.

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0. Vorwort

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‚DIE ELF‘ – Leben ohne Gewissensbisse

Zweiter Weltkrieg. Ein katholischer Nazi – eine polnische Jüdin. Er überlebt im Schützengraben. Sie überlebt im Berliner Versteck. Er macht ihr ein Kind und kommt ins Gefängnis. Er kommt wieder frei und heiratet sie. Das Kind bin ich, die personifizierte Wiedergutmachung. Ein Leben ohne Gewissensbisse.

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#0.1 | Kampfansage

19. Juni 2023: mein Geburtstag. Mein Gott! Siebenundsiebzig! Unser aller Gott. Niemandes Gott. Ein Mas‚gott‘chen vielleicht. – Kalauer sind okay, aber abergläubig bin ich nicht.

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1. Kapitel: MINUS ELF

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#1.1 | Der liebe Gott und das schwarze Loch

Als Gott die Erde in sechs Tagen erschuf und am siebten ausruhte, war die Welt noch in Ordnung. Inzwischen müssen wir uns, falls wir nicht lieber blöde bzw. bildungsfern bleiben wollen, mit dem Urknall und seinen Folgen auseinandersetzen.

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#1.2 | Begehrliche Blicke als Straftatbestand

Zuerst haben die Zweibeiner auch nicht viel schlimmer gewütet als später die Heuschrecken, nicht mal, als Homo erectus schon das Feuer nutzte, um andere Geschöpfe zu braten oder zu verscheuchen. Aber nach und nach haben die Menschen ihr Potenzial potenzartig gesteigert, sodass wir heute da sind, wo wir sind. Noch verheerenderen Einfluss nahmen nur die Cyanobakterien.

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2. Kapitel: NULL

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#2.1 | Umbenennungen

Irena hatte den Krieg überlebt und war weder ins KZ geworfen noch vergewaltigt worden. Nur aus ihrem polnischen ‚A‘ war ein deutsches ‚E‘ geworden: Irene.

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3. Kapitel: PLUS ELF

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#3.1 | Was normal ist und was nicht

An den Geburtstag selbst erinnere ich mich nicht. Später habe ich mich gern als Außenseiter stilisiert, weil ich keine Tore schießen konnte. Noch heute träume ich, dass ich nach dem Ball trete und ihn nicht treffe.

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#3.2 | Keine Asche-Wurst an Silvester

An meinem elften Geburtstag war ich in der sechsten Klasse: Mitschülerinnen, die meinem ‚Café zur schönen Aussicht‘ im Birnbaum gegenüber aufgeschlossen gewesen waren, hatte ich schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr ...

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DIE ELF

#3.3 | Acht Kostbarkeiten statt Gefängnis

Damals werde ich die Jahre wohl anders untergliedert haben, aber heute kann ich sie mir am besten daran merken, wie ich die Sommerferien verbrachte. Wo meine Mutter sich ihre Anregungen für die Reisen holte, weiß ich nicht. Für den Aufenthalt in Juan-les-Pins mit meinem Vater vielleicht in der ‚Vogue‘, für die Ferien mit mir sechs Wochen später sicher nicht.

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#3.4 | Ahnungen und Gewissheiten

Am nächsten Tag fuhren wir über den Großglockner. War sehr hoch. Damals erkannte ich, dass mir blumige Täler mehr liegen als majestätische Höhen. Trotzdem posierte ich dort oben (un?)befangen vor Guntrams Kamera: mit Vaters Hut und meinem Limonadenglas ...

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#3.5 | Zu weit gegangen

Kurz vor meinem elften Geburtstag gönnten sich meine Eltern eine kleine Erholung von mir. Ende Mai sonnten sie sich auf Capri. Meine Großmutter war in Berlin von Guntrams Fahrer abgeholt worden, um das zu leisten, was sie unter Betreuung verstand. In dieser Zeit fand in meiner Schule eine Impfaktion statt: Tetanus.

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4. Kapitel: ZWEIUNDZWANZIG

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#4.1 | Ein Satz reicht

Mein Geburtstag 1968. An den erinnere ich mich ganz genau: Harald, Hans-Dieter und ich saßen in der Loggia, und Irene hatte eine Matjes-Platte vorbereitet.

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#4.2 | Leben in der Bude

Harald, Hans-Dieter und ich waren sehr verschieden. Unsere Elternhäuser und unsere Charaktere waren sehr verschieden. Wieso es trotzdem mit uns klappte, ist mir ein Rätsel.

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#4.3 | Doppeltes Pech

Nach unserer langen Dreierreise durch Italien studierten Harald und Hans-Dieter weiter. Ich bewarb mich bei der neu gegründeten Filmhochschule in München und fiel durch.

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5. Kapitel: DREIUNDDREISSIG

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#5.1 | Wider die kulturelle Aneignung!

Elf Jahre – das ist schon eine lange Zeit! Vielleicht nicht so sehr im Schatten einer Burg zwischen dem Jahr 1000 und dem Jahr 1011, aber mein Leben zwischen 1968 und 1979, das war komplett anders geworden.

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#5.2 | Ich werde mein Bruder

Meine vielen Reisen hingen mit dem Beruf zusammen, den ich inzwischen – ‚ausübte‘ ist das richtige Wort; ich übte aus, wie weit man gehen kann: in den Straßen von New York, bei Verhandlungen mit Agenten, in der Beeinflussung von Künstlern.

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#5.3 | Ereignislosigkeit als Ziel?

Im November 1975 lernte ich bei Karajan-Aufnahmen in der Berliner Philharmonie Roland kennen, allerdings nicht im Konzertsaal, sondern anschließend im Clublokal: ‚Gay‘.

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6. Kapitel: VIERUNDVIERZIG

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#6.1 | Tränen

Ein schlimmer Geburtstag. Roland hatte Aids. Wir saßen zu viert in der Loggia bei meinen Eltern. Hinten im Garten mähte noch der Gärtner. Prosecco und Prosciutto. Ein provisorisches Glück: Notbehelf mit Melone.

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7. Kapitel: FÜNFUNDFÜNFZIG

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#7.1 | Trinken macht nicht durstig

Spätestens seit ich elf war, kannte ich die meistgehörten Schlager des Jahres und war schon längst vor dem Abitur mit allen internationalen Top-Hits vertraut. Mit Harald gemeinsam hatte ich in den Sechziger- und Siebzigerjahren das jeweilige Musikangebot abgekostet: toll – unerheblich – grässlich.

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#7.2 | Wie das Leben weitergeht

Schon im Jahr nach Rolands Tod sah ich keinen Sinn mehr darin, mit meinen Musikkenntnissen Geld zu verdienen und kündigte. Was genau ich mir damals mit Mitte vierzig vorstellte, dessen bin ich mir nicht sicher.

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8. Kapitel: SECHSUNDSECHZIG

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#8.1 | Mit der Gabel, mit den Händen

Da habe ich keine Gedächtnislücken. Ich habe ein großes Fest veranstaltet und alle Freunde und Verwandte in den Othmarscher ‚Röperhof‘ eingeladen. Gibt’s sogar als Film.

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#8.2 | Glück gehabt. Angeblich!

Früher saß ich mit Block und Filzstift vor einem Café oder Schreibtisch und schrieb mit lockerer Hand Seite um Seite. Meine Handschrift fehlt mir.

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9. Kapitel: SIEBENUNDSIEBZIG

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#9.1 | Mitleid mit den Reichen

Ein stiller Geburtstag. Keine Gäste. Nur Silke und ich in Meran. Mit Joy aus Griechenland. Sie kocht und betreut mich, seit Rafał weg ist.

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#9.2 | Missverständnisse

Mit achtzehn schwärmte ich von der Vergangenheit weitaus mehr als von der Zukunft. Inzwischen sehe ich alle Defizite der Vergangenheit.

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#9.3 | Was sich lohnt

Wer statt zu meckern lieber behauptet, etwas für die Gemeinschaft tun zu wollen, der/die will seine Untertanen/Wähler meistens – auch oder nur – beeinflussen. ‚Gestalten wollen‘ nennen die Wohltäter das.

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#9.4 | Alles Schlechte zum Geburtstag

Die Wirklichkeit zu erkennen ist nötig und unmöglich: Der Standpunkt macht’s. Wenn ich halbwegs bei Verstand bin und sehe, wie es zugeht, will ich entweder etwas verändern oder daran arbeiten, dass die anderen nicht merken, wie es zugeht, damit sie meine gesicherte Position nicht infrage stellen.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.1 | Nichts Besonderes

Eine Schar Kinder läuft über das Feld, barfuß, mit bunten Kerzen. Der Wind bläst die Lichter aus. Sie wirbeln auseinander. Fühlst du dein Herz klopfen?

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.2 | Auch nichts Besonderes

Der Brief war fertig. Im Netz: War er die Spinne oder die Fliege? Sie zog die Blätter heraus, entfernte das Kohlepapier und legte den Brief und die Kopien in die Unterschriftenmappe, dann spannte sie den nächsten Bogen ein. Augen zu, einfach abschalten und losschießen.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.3 | Überhaupt nichts Besonderes

Punkt zwölf stand Frau Kleide in der Tür: „Kommst du?“ Er brütete über den Unterlagen. Sie sah auf die Uhr: „Ist es schon wieder so weit?“ Die Seite müsste er fotokopieren. Ein wenig erschrak sie über das Fortschreiten der Zeit.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.4 | Wieder nichts Besonderes

Sie lief die Mönckebergstraße entlang. Er saß in der Mensa. Ein azurblauer Kaschmir-Pullover in einem der Schaufenster gefiel ihr. Gulasch, er kaute lustlos. Sie blieb stehen. Widerwillig stocherte er mit der Gabel zwischen den Fleischbrocken herum. Den könnte sie sich eigentlich leisten.

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1.5 | Immer noch nichts Besonderes

Im Café traf er ein paar Freunde. Dann ging sie zu Frau Kleide, wegen Gutzenka. Sie redeten übers Studium. Frau Kleide fragte: „Finden Sie wirklich, dass er gut aussieht?“ Er hatte die meisten Scheine; für die Anzahl seiner Semester war er ziemlich weit.

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1.6 | Ausgefallen!

Es war kurz vor acht, und er war leicht betrunken. Sie war erschöpft nach Hause gekommen und hatte sich gleich hingelegt. Ein Drittel der Whiskyflasche war ausgetrunken. Jetzt wachte sie auf. Als ob er es nötig hatte, sich Mut zu machen! Sie sah auf die Uhr und erschrak.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.01 | Worum es geht

Die schwer zu beantwortende Frage: Ist dem Leben mit irgendwelchen Moralvorstellungen beizukommen? Nehmen wir zum Beispiel einen Mann von 34, Hans Schmidt, oder wenn das zu billig klingt, meinetwegen Gregor Sollendorf. Der Nachname klingt ein bisschen ambitioniert, aber – macht nichts, er kommt nur einmal vor.

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2.02 | Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn

Sie sagen wieder lange Zeit nichts. „Ist es Ihnen recht, wenn ich das Fenster aufmache?“, fragt Mark kurz vor Hannover. Es ist schon sehr heiß im Wagen. „Ja sicher.“ Gregor hat einen Entschluss gefasst. Er sieht dem Jungen zu, wie er das Fenster runterkurbelt: Das knappe weiße Hemd bringt den Oberkörper gut heraus: sehnig, fest, geschmeidig.

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2.03 | Rollentausch

Bei Kassel müssen sie tanken. „Soll ich mal fahren?“, fragt Mark. „Kennen Sie den Wagen?“, fragt Gregor zurück. „Ja, so ziemlich.“ Gregor lächelt skeptisch. „Was heißt das? Sie haben ihn schon mal an der Kreuzung vorbeifahren gesehen?“

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2.04 | Im Stau

Der Wagen fährt langsamer, noch langsamer, steht. Gregor öffnet die Augen. „Schlange“, sagt Mark. „So weit man sehen kann Autos.“ Gregor richtet sich auf: Beide Spuren sind verstopft. „Wir hätten früher fahren sollen“, sagt Mark. „Ich hab’ fast ’ne Stunde auf dich gewartet.“

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2.05 | Roadmovie

„Die Tankstelle hinter Rastatt hat eine Raststätte“, sagt Mark. „Das beflügelt wohl dein Texterhirn, ist aber, wie das meiste in der Werbung, falsch!“, berichtigt ihn Gregor. „Es handelt sich hier um eine Imbissstube.“ Sie gehen hinein. Mehr ist es wirklich nicht.

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2.06 | Hart an der Grenze

Eine Weile lang sagen sie nichts. „Freiburg“, eröffnet Mark das Gespräch wieder, als sie an der Ausfahrt vorbeifahren. Der Himmel hat sich bewölkt. Kleine, harmlose Schäfchenwolken. „Ja, wir sind bald an der Grenze“, sagt Gregor. „Ich hoffe, dein Pass ist nicht abgelaufen.“

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2.07 | Des Knaben Wunderhorn

Sie umgehen Luzern. Als sie auf den See stoßen, hat die Dämmerung eingesetzt. Zum ersten Mal die Berge. Blau, steil. Die Häuser mit den tief gezogenen Dächern. Zypressen. Eine Ahnung von Süden. Still das Wasser. Die Fähre malt zwei Linien.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.08 | Mehr wissen

Sie sitzen in der Gaststube. Holz und Zinn und Steingut. Gläser stehen vor ihnen. Teller. Um sie herum sind Menschen, ist matte Beleuchtung. Geschäftigkeit und Lachen. Weil alles fremd ist, gehören sie zusammen. Sie essen. Hungrig und doch stockend. Hier und jetzt haben sie nur sich.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.09 | Tunnelblick

Sie gehen zusammen in den Frühstücksraum. Sie trinken Kaffee und essen Brötchen. Die Brötchen sind kross. Die Marmelade ist gut. Frauen sitzen in Kostümen, Männer in Jacken ohne Kragen.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.10 | Grandhotel

Draußen ist es hell. Sehr hell. Erwartet und überraschend zugleich. Gregor fährt den Wagen von der Rampe. Abwärts. Italien entsteht. Der Stil der Häuser, die Aufschriften. Erste staubige Palmen. Sie gleiten hinein in das Paradies der Urlaubsziele und Ruhesitze.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.11 | Abseits der Moral

Mark gibt Iris einen Kuss und geht mit Gregor hinaus. Iris steht wie angewurzelt. Sie gehen zum Auto. Mark stockt plötzlich und nimmt Gregors Arm. „Ich habe gar keinen Führerschein“, sagt er. Gregor starrt ihn an. „Was?!“

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.1 | Zigeuner-Party

„Hast du etwa gern Männer um dich, die am ganzen Körper behaart sind?“, fragte Frau Benedikt ihren Besucher. Sie hatte Christoph mit dieser Frage nur beeinflussen wollen: Er sollte finden, dass sie den Gärtner zu Recht gewechselt hatte. Und so glaubte ihr Gast, sich die Antwort besser zu versagen.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.2 | Mut machen

Sie lagen nebeneinander auf Liegestühlen und hatten die Augen geschlossen. Die Sonne brannte Christoph wie das hitzige Scheuern eines aufgeregten Körpers. Sie biss ihm ins Gesicht und glühte auf seinen Beinen.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.3 | An der Leine

Plötzlich hatte Chico zu knurren angefangen. Ein langgezogener, aufdringlicher Laut, der in heftiges Bellen überging. Christoph drehte sich um, und in zwei Sätzen war der Hund bei ihm, sprang an seinen Beinen hoch und leckte ihm über die Oberschenkel.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.4 | Personal

Ein Mann kam ums Haus, nickte Christoph zu und sagte etwas auf Spanisch. Er war etwa dreißig, hatte ein freundliches, unbedeutendes Gesicht und eine gedrungene Gestalt. Sein Arbeitsanzug ließ darauf schließen, dass er Handwerker war.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.5 | Brandung

Christoph war jetzt allein. Die Sonne stach. Die Luft war reglos. Die Erde fieberte. Christoph atmete die Hitze ein. Seine Haut brannte. Von den Mimosensträuchern quoll ein weicher, einschmeichelnder Geruch herüber. Irgendetwas wie Gefräßigkeit lagerte oberhalb der Palmen und Ziegel ...

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.6 | Dunkler Fleck

Aus Carolas Schlafzimmer drang ein kurzes Lachen, etwas nervös, etwas unecht. Christoph klopfte vorsichtig. „Christoph?“ „Ja.“ „Komm rein!“

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.7 | Spielen

„Nein, vielen Dank, wirklich nicht! Ich krieg’ keinen Bissen mehr runter. Es war wirklich ausgezeichnet, aber jetzt muss ich aufhören, sonst schlafe ich ein.“ Carola lächelte geschmeichelt. Der Kerzenschimmer und das Alter gaben ihr etwas Geheimnisvolles; ein Zauber, der besonders an Abenden wie diesem zur Geltung kam und von vier Gläsern Sangria eher gedämpft als unterstrichen wurde.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

4.1 | Eine Seereise

Da war es wieder und plötzlich ganz dicht unter ihr: das Meer. Anette stand über die Reling gebeugt und starrte auf das Wasser, das in leichter Unruhe vibrierte: ein mildes Auf und Ab, das sie verwirrte, ohne ihr näher zu kommen.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

4.2 | An Deck

„Was soll ich machen?“, fragte Anette. „Soll ich auf Ihr Spiel eingehen?“ Er sah sanft aus. Hinter der Offenheit seines Gesichts lag der Ernst, mit dem man ein Geheimnis hütet – sein eigenes und das der anderen. Der Wille zu schützen, das Wissen, schutzlos zu sein. Gefährdung und Zerbrechlichkeit strömen eine eigenartige Kraft aus, vielleicht ist es auch nur ein Reiz.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

4.3 | Identitäten

Die Musik hatte ausgesetzt. Klatschen und der Lärm, den Fröhlichkeit verursacht, unverdaute Rückstände von Freude. ‚Luxusschiff‘, dachte Anette, ‚Traumjacht, Musikdampfer, Fähre zur Unterwelt.‘ – „Ich habe keine Lust mehr“, sagte sie. Er riss den Kopf herum. „Wozu?“, fragte er scharf.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

4.4 | In der Kabine

„Ich habe die Grenze erreicht“, sagte Andreas. „Ich bin über alle Schatten gesprungen. Ich habe einen Gehirntumor. Unheilbar. Operation wäre zwecklos. – Klingt furchtbar, nicht?

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

4.5 | Die Überschrift

Sie wollte eine Beruhigungspille nehmen und griff, immer noch benebelt von der Schlaftablette, in die Nachttischschublade. Ihre Finger fühlten Papier. Ein Zucken durchlief ihren ganzen Körper. Sie sprang auf, riss das Paket heraus und zerrte an dem Umschlag. Es war ein Stoß Papier.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

4.6 | Resümee

Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei. Den Musik-Boxen fehlt der letzte Groschen. Der Schnaps ist alle. Ich hau’ mich in die Falle.

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Kapitel 1: Ein Stell-dich-ein

Die erste von vier Begegnungen im Sommer 1972

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.1 | Nichts Besonderes

Eine Schar Kinder läuft über das Feld, barfuß, mit bunten Kerzen. Der Wind bläst die Lichter aus. Sie wirbeln auseinander. Fühlst du dein Herz klopfen?

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.2 | Auch nichts Besonderes

Der Brief war fertig. Im Netz: War er die Spinne oder die Fliege? Sie zog die Blätter heraus, entfernte das Kohlepapier und legte den Brief und die Kopien in die Unterschriftenmappe, dann spannte sie den nächsten Bogen ein. Augen zu, einfach abschalten und losschießen.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.3 | Überhaupt nichts Besonderes

Punkt zwölf stand Frau Kleide in der Tür: „Kommst du?“ Er brütete über den Unterlagen. Sie sah auf die Uhr: „Ist es schon wieder so weit?“ Die Seite müsste er fotokopieren. Ein wenig erschrak sie über das Fortschreiten der Zeit.

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1.4 | Wieder nichts Besonderes

Sie lief die Mönckebergstraße entlang. Er saß in der Mensa. Ein azurblauer Kaschmir-Pullover in einem der Schaufenster gefiel ihr. Gulasch, er kaute lustlos. Sie blieb stehen. Widerwillig stocherte er mit der Gabel zwischen den Fleischbrocken herum. Den könnte sie sich eigentlich leisten.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.5 | Immer noch nichts Besonderes

Im Café traf er ein paar Freunde. Dann ging sie zu Frau Kleide, wegen Gutzenka. Sie redeten übers Studium. Frau Kleide fragte: „Finden Sie wirklich, dass er gut aussieht?“ Er hatte die meisten Scheine; für die Anzahl seiner Semester war er ziemlich weit.

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1.6 | Ausgefallen!

Es war kurz vor acht, und er war leicht betrunken. Sie war erschöpft nach Hause gekommen und hatte sich gleich hingelegt. Ein Drittel der Whiskyflasche war ausgetrunken. Jetzt wachte sie auf. Als ob er es nötig hatte, sich Mut zu machen! Sie sah auf die Uhr und erschrak.

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Kapitel 2: Lift nach Lugano

Die zweite von vier Begegnungen im Sommer 1972

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2.01 | Worum es geht

Die schwer zu beantwortende Frage: Ist dem Leben mit irgendwelchen Moralvorstellungen beizukommen? Nehmen wir zum Beispiel einen Mann von 34, Hans Schmidt, oder wenn das zu billig klingt, meinetwegen Gregor Sollendorf. Der Nachname klingt ein bisschen ambitioniert, aber – macht nichts, er kommt nur einmal vor.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.02 | Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn

Sie sagen wieder lange Zeit nichts. „Ist es Ihnen recht, wenn ich das Fenster aufmache?“, fragt Mark kurz vor Hannover. Es ist schon sehr heiß im Wagen. „Ja sicher.“ Gregor hat einen Entschluss gefasst. Er sieht dem Jungen zu, wie er das Fenster runterkurbelt: Das knappe weiße Hemd bringt den Oberkörper gut heraus: sehnig, fest, geschmeidig.

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2.03 | Rollentausch

Bei Kassel müssen sie tanken. „Soll ich mal fahren?“, fragt Mark. „Kennen Sie den Wagen?“, fragt Gregor zurück. „Ja, so ziemlich.“ Gregor lächelt skeptisch. „Was heißt das? Sie haben ihn schon mal an der Kreuzung vorbeifahren gesehen?“

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2.04 | Im Stau

Der Wagen fährt langsamer, noch langsamer, steht. Gregor öffnet die Augen. „Schlange“, sagt Mark. „So weit man sehen kann Autos.“ Gregor richtet sich auf: Beide Spuren sind verstopft. „Wir hätten früher fahren sollen“, sagt Mark. „Ich hab’ fast ’ne Stunde auf dich gewartet.“

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2.05 | Roadmovie

„Die Tankstelle hinter Rastatt hat eine Raststätte“, sagt Mark. „Das beflügelt wohl dein Texterhirn, ist aber, wie das meiste in der Werbung, falsch!“, berichtigt ihn Gregor. „Es handelt sich hier um eine Imbissstube.“ Sie gehen hinein. Mehr ist es wirklich nicht.

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2.06 | Hart an der Grenze

Eine Weile lang sagen sie nichts. „Freiburg“, eröffnet Mark das Gespräch wieder, als sie an der Ausfahrt vorbeifahren. Der Himmel hat sich bewölkt. Kleine, harmlose Schäfchenwolken. „Ja, wir sind bald an der Grenze“, sagt Gregor. „Ich hoffe, dein Pass ist nicht abgelaufen.“

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2.07 | Des Knaben Wunderhorn

Sie umgehen Luzern. Als sie auf den See stoßen, hat die Dämmerung eingesetzt. Zum ersten Mal die Berge. Blau, steil. Die Häuser mit den tief gezogenen Dächern. Zypressen. Eine Ahnung von Süden. Still das Wasser. Die Fähre malt zwei Linien.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.08 | Mehr wissen

Sie sitzen in der Gaststube. Holz und Zinn und Steingut. Gläser stehen vor ihnen. Teller. Um sie herum sind Menschen, ist matte Beleuchtung. Geschäftigkeit und Lachen. Weil alles fremd ist, gehören sie zusammen. Sie essen. Hungrig und doch stockend. Hier und jetzt haben sie nur sich.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.09 | Tunnelblick

Sie gehen zusammen in den Frühstücksraum. Sie trinken Kaffee und essen Brötchen. Die Brötchen sind kross. Die Marmelade ist gut. Frauen sitzen in Kostümen, Männer in Jacken ohne Kragen.

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2.10 | Grandhotel

Draußen ist es hell. Sehr hell. Erwartet und überraschend zugleich. Gregor fährt den Wagen von der Rampe. Abwärts. Italien entsteht. Der Stil der Häuser, die Aufschriften. Erste staubige Palmen. Sie gleiten hinein in das Paradies der Urlaubsziele und Ruhesitze.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

2.11 | Abseits der Moral

Mark gibt Iris einen Kuss und geht mit Gregor hinaus. Iris steht wie angewurzelt. Sie gehen zum Auto. Mark stockt plötzlich und nimmt Gregors Arm. „Ich habe gar keinen Führerschein“, sagt er. Gregor starrt ihn an. „Was?!“

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Kapitel 3: Vorsicht, zärtlicher Hund!

Die dritte von vier Begegnungen im Sommer 1972

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3.1 | Zigeuner-Party

„Hast du etwa gern Männer um dich, die am ganzen Körper behaart sind?“, fragte Frau Benedikt ihren Besucher. Sie hatte Christoph mit dieser Frage nur beeinflussen wollen: Er sollte finden, dass sie den Gärtner zu Recht gewechselt hatte. Und so glaubte ihr Gast, sich die Antwort besser zu versagen.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.2 | Mut machen

Sie lagen nebeneinander auf Liegestühlen und hatten die Augen geschlossen. Die Sonne brannte Christoph wie das hitzige Scheuern eines aufgeregten Körpers. Sie biss ihm ins Gesicht und glühte auf seinen Beinen.

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3.3 | An der Leine

Plötzlich hatte Chico zu knurren angefangen. Ein langgezogener, aufdringlicher Laut, der in heftiges Bellen überging. Christoph drehte sich um, und in zwei Sätzen war der Hund bei ihm, sprang an seinen Beinen hoch und leckte ihm über die Oberschenkel.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.4 | Personal

Ein Mann kam ums Haus, nickte Christoph zu und sagte etwas auf Spanisch. Er war etwa dreißig, hatte ein freundliches, unbedeutendes Gesicht und eine gedrungene Gestalt. Sein Arbeitsanzug ließ darauf schließen, dass er Handwerker war.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

3.5 | Brandung

Christoph war jetzt allein. Die Sonne stach. Die Luft war reglos. Die Erde fieberte. Christoph atmete die Hitze ein. Seine Haut brannte. Von den Mimosensträuchern quoll ein weicher, einschmeichelnder Geruch herüber. Irgendetwas wie Gefräßigkeit lagerte oberhalb der Palmen und Ziegel ...

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3.6 | Dunkler Fleck

Aus Carolas Schlafzimmer drang ein kurzes Lachen, etwas nervös, etwas unecht. Christoph klopfte vorsichtig. „Christoph?“ „Ja.“ „Komm rein!“

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3.7 | Spielen

„Nein, vielen Dank, wirklich nicht! Ich krieg’ keinen Bissen mehr runter. Es war wirklich ausgezeichnet, aber jetzt muss ich aufhören, sonst schlafe ich ein.“ Carola lächelte geschmeichelt. Der Kerzenschimmer und das Alter gaben ihr etwas Geheimnisvolles; ein Zauber, der besonders an Abenden wie diesem zur Geltung kam und von vier Gläsern Sangria eher gedämpft als unterstrichen wurde.

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Kapitel 4: Die letzte Geschichte

Die letzte von vier Begegnungen im Sommer 1972

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4.1 | Eine Seereise

Da war es wieder und plötzlich ganz dicht unter ihr: das Meer. Anette stand über die Reling gebeugt und starrte auf das Wasser, das in leichter Unruhe vibrierte: ein mildes Auf und Ab, das sie verwirrte, ohne ihr näher zu kommen.

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4.2 | An Deck

„Was soll ich machen?“, fragte Anette. „Soll ich auf Ihr Spiel eingehen?“ Er sah sanft aus. Hinter der Offenheit seines Gesichts lag der Ernst, mit dem man ein Geheimnis hütet – sein eigenes und das der anderen. Der Wille zu schützen, das Wissen, schutzlos zu sein. Gefährdung und Zerbrechlichkeit strömen eine eigenartige Kraft aus, vielleicht ist es auch nur ein Reiz.

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4.3 | Identitäten

Die Musik hatte ausgesetzt. Klatschen und der Lärm, den Fröhlichkeit verursacht, unverdaute Rückstände von Freude. ‚Luxusschiff‘, dachte Anette, ‚Traumjacht, Musikdampfer, Fähre zur Unterwelt.‘ – „Ich habe keine Lust mehr“, sagte sie. Er riss den Kopf herum. „Wozu?“, fragte er scharf.

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

4.4 | In der Kabine

„Ich habe die Grenze erreicht“, sagte Andreas. „Ich bin über alle Schatten gesprungen. Ich habe einen Gehirntumor. Unheilbar. Operation wäre zwecklos. – Klingt furchtbar, nicht?

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4.5 | Die Überschrift

Sie wollte eine Beruhigungspille nehmen und griff, immer noch benebelt von der Schlaftablette, in die Nachttischschublade. Ihre Finger fühlten Papier. Ein Zucken durchlief ihren ganzen Körper. Sie sprang auf, riss das Paket heraus und zerrte an dem Umschlag. Es war ein Stoß Papier.

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4.6 | Resümee

Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei. Den Musik-Boxen fehlt der letzte Groschen. Der Schnaps ist alle. Ich hau’ mich in die Falle.

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#1.1 Selbstmord oder Selbstbetrug

Die Idee von Europa als Einheit ist nicht neu. Caesar hatte sie schon, Napoleon auch und Hitler erst recht: alles am Ende scheiternde Eroberungskriege von Diktatoren. Karl der Große bekam das Konzept am besten in den Griff, das ist allerdings über 1 200 Jahre her, und eine Union gleichberechtigter Partner war sein Reich genauso wenig, wie es von den Römern oder den Faschisten geplant war. Im Übrigen ging es durch die Jahrhunderte eher um Abgrenzung: Katholiken gegen Protestanten, Franzosen gegen Preußen, Deutsche gegen den Rest der Welt.

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#1.2 Polizistenmord oder Freispruch

Als wir die Reise am Sonntag, dem 2. August 2015, erwartungsfroh antraten, schien zum ersten Mal seit Langem plötzlich wieder die Sonne. Überrascht waren wir trotzdem nicht: Wir hatten den Wetterbericht gelesen.

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#1.3 Ohne Feuer kein Ruhm

Zehn Jahre später kaufte sich Guntram einen neuen Mercedes und gab mir seinen alten. Nochmal zehn Jahre später, Roland war schon tot, kaufte sich Guntram wieder einen neuen Mercedes und gab mir wieder seinen alten. Mit dem fuhren Silke und ich gerade eines Vormittags über Weimar nach Meran, Guntram war inzwischen ebenfalls tot, als die frisch inspizierte Limousine bei Erfurt stehen blieb und nicht weiterwollte.

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#1.4 Der zahme Westen

Silke fand – nach kurzer Bestürzung im Hirn – im aufgeweckten Netz als Ersatz für die Pension ‚Dittberner‘ das Hotel ‚The Dude‘, und wir fanden es nach einigen Navi-Umwegen auch und angenehm dort. Das Hotel behauptet ‚Mitte‘ zu sein, na ja, es liegt im allerletzten Abschnitt der prolligen Köpenicker Straße, unmittelbar vor Kreuzberg, aber man ist schnell an der Spree und an der Schloss-Attrappe und wird freundlich bedient. Wie immer bekam ich ein Zimmer neben dem Fahrstuhl, aber es war das einzige Mal auf der Reise, dass ich deswegen Raum und Stockwerk wechselte.

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#1.5 Einzelkind

Seit der Einschulung war Detlev Fuhrmann mein bester Freund. Er war verwegen und schlug alle zusammen, die mich auch nur schief anguckten. Außerdem fiel er vom Steg in den See, und es war hilfreich für ihn, dass ich besser schreien als prügeln konnte. Seine Mutter hieß Hella und hatte, dazu passend, ein Lampengeschäft am Kurfürstendamm.

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#1.6 Berlin im Kopf

Berlin: Blut und Boden hatten in diesem viele Jahrtausende lang unbehausten Landstrich gerade wieder mal versagt. Trotzdem waren Ende der Vierzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch etliche Zeitzeugen, zu denen ich ja nun auch demnächst gehören würde, vorhanden: solche, die sich als Nachfolger der trutzigen Germanen fühlten, und solche, die sich wie lebenserneuernde Sozialisten vorkamen. Sie alle wollten aus den Reichstrümmern ihre jeweilige – alte oder neue – Welt aufbauen.

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#1.7 Das Tor zur Welt

Um mein Verhalten nicht nur zu erwähnen, sondern auch zu rechtfertigen, muss ich noch früher einsetzen, kurz nach dem Eisprung: Ich bin kein Kriegskind. Ich wurde somit von Hitler nicht mehr als Ersatz für die Gefallenen benötigt. Meine Mutter war sowohl ledig als auch staatenlos. Eine Abtreibung wäre also eigentlich in unser aller Sinne gewesen.

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#1.8 Altklug, heimtückisch, aufgewühlt

Unsere Haushälterin war zunächst Maria Bartsch aus Breslau gewesen. Sie wechselte dann aber zu Knapps in die Nachbarvilla, die unzerbombt war und immer noch steht. Frau Knapp hatte uns Maria auf die mieseste Weise, die es gibt, weggestohlen: Sie zahlte mehr. Kein Wunder, ihrem Mann gehörte am Kurfürstendamm der ‚Gloria-Palast‘, in dem sagenumwobene Filme wie ‚Die Sünderin‘ Premiere feierten. Ich meine: ‚Gloria!-Palast!‘ Gegen so etwas konnte man mit einem zerflickten Haus wie unserem natürlich nicht ankommen, und deshalb übernahm die achtzehnjährige, preiswerte Annemarie aus Paulinenaue Marias Aufgaben.

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#1.9 Kommunion mit Brausepulver

Heulend nahm ich drei Monate später Abschied von Berlin: Veränderungen war ich ja seit dem Mutterleib abhold und wollte nichts, schon gar nicht nach Hamburg. Wieder einmal waren es Ottos, die wohltuend in mein Leben eingriffen, indem sie mir versicherten, dass es zwischen Hamburg und Berlin einen Tunnel gäbe. Er führe unter der Elbe hindurch, und das sei wirklich so, denn sie selbst seien da auch schon mal durchgefahren.

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#1.10 Geburtstag mit Einstein

Das Schildhorn, diese Landzunge, die in die Havel ragt, gehört zu meinen Lieblingsplätzen, seit ich das erste Mal dort war. Das war am 3. September 1987 gewesen: Ich war aus Wien eingetroffen, hatte mein Gepäck in der ‚Kempinski‘-Halle zurückgelassen und war mit Michael Zachow und seinem Freund, dem Architekten Jürgen Haug, herausgefahren aus der Stadt. Beide kannte ich durch Roland. Es war ein Abend wie Anfang August: Kähne in der Abendsonne, Lachen in der Luft. Junge Menschen, volle Tische, gutes Essen. Meine erste Reise seit Rolands Lungenoperation, der Anfang vom Ende. Vor zehn Wochen hatten wir damals an meinem Geburtstag auf dem Haveldampfer ‚Großer Kurfürst‘ Würstchen gegessen. Inzwischen war die Welt eingestürzt.

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#1.11 Verschlungene Pfade

Aufwachen ist nichts, was mir gefällt. Ich genieße meine fast immer komplizierten und meist furchtbaren Träume – natürlich erst hinterher, wenn ich mich dafür bewundere, so kompliziert geträumt zu haben, und mich beruhige, dass das wahre Leben ja nicht ganz so furchtbar ist wie meine Träume. Ich war ein verschrecktes Kind, das, wenn überhaupt, nur mit Lampenlicht schlafen konnte und die Helligkeit des Morgens ängstlich herbeisehnte.

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#1.12 Potsdam im Sitzen

Silke eilte voraus zum Anleger, löste die vorbestellten Billetts und erwartete uns vor einem der Schiffe, vermutlich unserem. Martin zuckelte wieder mal hinterher, aber selbst er bekam noch einen der letzten Plätze an Deck. Es war richtig heiß, ‚warm‘ wäre das verkehrte Wort gewesen. Die Leute sahen aus, wie man das auf Ausflugsdampfern gewohnt ist, und fingen bald an, Bier zu bestellen.

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#1.13 Etwas erleben

Als besonders gut und schön gelegen hatte ich das ‚Katz Orange‘ ergoogelt. Dahin fuhren wir nun nicht. Man hatte Silke dort vor vierzehn Tagen einen Tisch um sieben oder um halb neun angeboten. Solche Einschränkungen kann ich nicht besser ausstehen als Frühstücksbuffets. Da gefiel mir das ‚Brecht’s‘ dann schon besser.

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#1.14 Die ganze Zeit

Viertel nach neun klopfte Rafał an die ‚Dude‘-Tür: „Alles gut?“, fragt er jeden Morgen, und jedes Mal möchte ich antworten: „Nein. Sieh dir die Welt doch an! Nichts ist gut!“, und jeden Morgen antworte ich: „Ja“.

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#1.15. „Lebensort Vielfalt“

Es war wieder Morgen, und ich sah auf die Stadt, mein Stück Stadt: erst von oben aus dem Mansardenfenster im vierten Stock, dann auf der Straße, auf dem Stuhl vor dem ‚Dude‘. Früher gehörte mir die ganze Welt, jetzt muss ich mich mit dem Ausschnitt begnügen, den meine Beine meinen Augen gestatten.

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#1.16 Siebzehn Stationen bis zur kleinen Ewigkeit

1969 waren meine Mitlehrlinge und ich am freien 1. Mai abenteuerlustig und deshalb fuhren wir zu fünft mit unserem Schönsten: Achim Hauenschild und seinem Auto über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße nach Ostberlin. Das Wetter war schlecht, die Parade war vorbei, die Innenstadt wirkte ausgestorben. Ich schlug vor, nach Köpenick zu fahren; das war, wegen des Hauptmanns, der einzige Ost-Stadtteil, dessen Namen ich kannte. Ich kam mir fremd vor wie in Nigeria ...

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#1.17 Vom kulinarischen Mosaik zu den sauren Gurken

Das ‚NENI‘ ist sehr angesagt und rühmt sich eines großartigen Blickes über Berlin. Das stimmt schon, allerdings ist die Silhouette von Berlin nicht besonders großartig, und von da aus schon gar nicht. Tische und Stühle vermitteln den Eindruck eines skandinavischen Kindergartens, was in mir aber keine Großvatergefühle weckte. Wir saßen in der Mitte, konnten in alle Richtungen nach draußen gucken, den Lärm genießen und die Speisekarten studieren. Zum Essen und Konzept vom ‚NENI‘ Berlin gehört immer der ‚teilende, leidenschaftliche Moment‘, las ich.

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#2.1 Elbsand und Alsterwasser

Bisher war ich nur selten in Sachsen gewesen und ausschließlich in Leipzig, zuerst 1997 mit meiner Cousine Marina und deren Mann Florian. Wir besuchten da auf einen Nachmittag ihren mittleren Sohn ‚Nicki‘, der sich aber mit seinem Vater so in die Haare kriegte, dass wir zum Abendessen schon wieder auf dem Gendarmenmarkt saßen.

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#2.2 Die entmachtete Vergangenheit

Für den Samstagabend hatte ich ursprünglich das prominente ‚Taschenbergpalais‘ vorgesehen, schon um Silke wieder mal was ohne Papierservietten zu bieten. Es behauptet von sich, es sei ‚Treffpunkt für Feinschmecker und Liebhaber internationaler Tafelkultur: Das Restaurant ‚Intermezzo‘ überzeugt mit bodenständiger Eleganz und raffinierter Einfachheit‘. Kann man mehr verlangen?

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#2.3 Der Gedanke ersetzt die Tat

Giuseppe kam als Erster, dann auch Rafał und schließlich Silke: Mit Kleid kann man sich ja viel effektvoller aufbrezeln als mit Hemd und Hose, und mit einer alterslosen Dame als Gallionsfigur oder im Schlepptau macht man ohnehin mehr her, als drei Kerle unterschiedlichen Alters das von sich aus vermögen. Martin hatte Ausgang.

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#2.4 Plan B

Am Sonntag fiel die Dampferfahrt die Elbe herauf ins Elbsandsteingebirge nicht ins Wasser, sondern, im Gegenteil, aus, weil die Elbe ausgefallen war. Das wussten wir schon seit Samstagmittag, so dass ich bereits einen Elb-Ersatzplan hatte schmieden können, der Martin enger einband.

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#2.5 Schlechtes Benehmen in feiner Umgebung

Das Wetter war ja schön, und so hatte der Tag es verdient, ebenfalls eine schöne Pause zu erhalten. Die bekam er schließlich auch: Schloss Pillnitz an den Weinbergen. Dass es die ehemalige Sommerresidenz Friedrich Augusts des Gerechten war und heute die größte chinoise Schlossanlage Europas ist, wusste ich nicht, war aber sowieso weder mit gerechten Augusten noch mit chinoisen Anlagen so richtig vertraut, nicht mal in chinesische Wertpapiere habe ich Vertrauen.

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#3.1 Aussteigen oder sitzen bleiben

Zum ersten Mal in meinem Leben in Böhmen. Nostalgiker nennen es noch Tschechoslowakei. Sudetendeutsche Landsmannschaften und Egerländer Blaskapellen mussten wir ja bei unserem Einmarsch nicht mehr befürchten; wir alle fühlen uns solchem Brauchtum gegenüber nicht gewachsen. Mir war aber etwas ähnlich Schlimmes eingefallen: Theresienstadt, weil es an der Strecke liegt.

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#3.2 Was kein Prager missen möchte

Im Osten herrschte bis 1989 die Partei, aber nicht durchgehend Ruhe. Am 16. Januar 1969 verbrannte sich der tschechoslowakische Student Jan Palach selbst und lief in Flammen stehend vom Nationalmuseum auf den Wenzelsplatz. Auf dem saßen wir nun, doch statt des Atems der Geschichte wehten in der Nachmittagshitze leicht bekleidete Gestalten an uns und unseren Drinks vorbei. Der Unterschied zu 16.00 Uhr auf der Reeperbahn war nicht gravierend, musste ich mir eingestehen.

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#3.3 Schleusenfahrt mit Belustigung

Morgens schließe ich mich ja immer aus und fühle mich auch so: ausgeschlossen. Dabei könnte ich das ändern und zum Frühstücksbüffet pilgern. Ausgeschlossen! Wenn Rafał an meine Tür klopft, hat Silke schon einen Espresso nebst einem vanillelosen Croissant zu sich genommen, Rafał wenig, Giuseppe viel, und Martin schläft noch. So stelle ich mir das vor, wissen tue ich nur, dass ich kraus geträumt habe und dass ich Leibschmerzen habe, unten rechts ...

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#3.4 Im ‚Parnas‘

Erfreulicherweise war das Mittagessen ausgefallen. Nachmittags durchstreift Rafał gern mit Silke die Boutiquen, nachts die Bars lieber mit Giuseppe. Ich ging in mein Zimmer und übte im Hellgrünen eifrig am Anfängerkurs der schwierigen Disziplin ‚Appetit haben‘.

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#3.5 Im hängenden Café

Silkes und mein Arbeitstag begann um 11.00 Uhr mit einer weiteren Rikscha-Fahrt; Velotaxi heißen diese Folterinstrumente hier. Die anderen drei waren schon mit Sightseeing beschäftigt. Dem höchst unattraktiven, charmelosen, aber pünktlichen Folterknecht schärfte ich in meinem besten Englisch ein, dass wir nicht die Neustadt, sondern die Altstadt und die andere Seite sehen möchten, was für ihn lästig, aber unvermeidlich war. So ruckelte er uns über Straßen und Plätze, dass mir Hören und Sehen verging.

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#3.6 Ein unvermeidlicher Schlenker

Der Donnerstag war als Reisetag vorgesehen. Doch als dann um zehn Uhr wirklich alles Gepäck auf die beiden Wagen verteilt war, kamen mir Zweifel. In anderthalb Stunden würden wir in Brünn sein. Was gab es da wohl zu erleben? Wenig, vermutete ich. Karlsbad war doch nach Prag der bekannteste Ort in Tschechien. Ein kleiner Abstecher wäre ja wohl drin.

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#4.1 In den Kulissen verspielter Stücke

Diese Strecke war ich erst ein Mal im Leben aus Wien heraus- und dann wieder nach Wien zurückgefahren: mit Hanns und Franz. Die Nacht war fast schlaflos gewesen, in den Privaträumen des Opernintendanten Egon Seefehlner, in einer Abstellkammer, in die ich mich mit jemandem zurückgezogen hatte, auf den ich unmöglich hatte verzichten können.

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#4.2 Ausgaloppiert

Vor dem ‚Imperial‘ wartete Martin mit der Kamera. Ich gab mir Mühe, ungekünstelt auszusteigen, so wie man eben im Jahr 2015 seine Kutsche verlässt, mit einem Bein, auf das man sich verlassen kann, und einem, das dazu neigt, seinem Besitzer Streiche zu spielen.

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#4.3 Heiße Nächte, kalter Dreck

Freitagnacht in Wien: Das hatte immer mit einem Essen begonnen, manchmal war ich eingeladen gewesen, oft hatte ich gezahlt, immer auf Geschäftskosten. Mal mit Künstlern, mal mit Lebenskünstlern – gehörte ich selbst zu einer von beiden Gruppen? Danach, wenn es früh genug war, noch woanders hin, sonst gleich in den ‚Stiefelknecht‘; Name war Programm, so dass ich mich auch hier als Außenseiter fühlen konnte.

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#4.4 Über den Naschmarkt fahren

Rafał hatte unter Tag frei. Ein Freundespaar war seinetwegen vom Attersee zurückgekehrt, am Abend wollten wir uns alle beim Heurigen treffen. Ich sah aus meinem hohen Fenster, wie Rafał über die Straße ging und wie er in der Ferne die beiden Schwuchteln begrüßte, ...

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#4.5 Ein Interview im Nirgendwo

Pünktlich um 12 Uhr waren wir da. Die Stühle standen auf den Tischen, draußen, aber drinnen auch. Im ‚Otto e Mezzo‘ brannte kein Licht, die Tür war verschlossen. Wie üblich hatte ich mein Handy nicht dabei.

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#4.6 Was sein könnte und was nicht

Silke und Giuseppe trafen im Restaurant ein, kaum dass Glavinic und ich saßen. Nur höhere Gewalt kann Silke unpünktlich machen. Ich sah über den Platz, den ‚Rilkeplatz‘, kein eindrucksvolles, kein störendes Stück Wien, und bestellte ‚dalmatinischen Prosciutto mit Schafskäse‘, da konnte nichts schiefgehen.

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#4.7 Zwei brechen ab, drei brechen auf

Martin kam, um unser beschauliches Mittagessen zu stören. Ein Oligarch im weißen Bademantel hatte sich seinerseits durch die Drohne gestört gefühlt und seine Bodyguards angewiesen, dem Treiben Einhalt zu gebieten.

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#5.1 In Sackgassen

Beide waren wir kleiner gewesen, als wir uns kennenlernten: Meran und ich. Meran hatte noch keine Vorstadthäuser, ich noch keine Barthaare. 1954, ich war acht. Zum ersten Mal in den Bergen. Ich mochte sie lieber als die graue Nordsee der vergangenen Jahre und genauso gern wie die Adria, von der wir gerade kamen.

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#5.2 Gedanken, Gefühle, Geschichte

Selbstverständlich waren auch die beiden Meran-Tage voll durchgeplant. Eigentlich dienten sie nur dazu, die Herbstgarderobe nicht nach Restitalien weiterschleppen zu müssen, sondern sie dort lassen zu können, wo sie ab Oktober gebraucht würde.

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#5.3 Verführung

Um zehn Uhr hatte sich Rafał vor Ort davon überzeugt, dass Silke nicht bereit war aufzustehen, und auch Martin hatte er im Ort nicht aufgespürt. Ich rief Giuseppe an und teilte ihm mit, wir würden uns ein wenig verspäten, übrigens seien wir nur zu zweit.

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#6.1 Posieren oder abtauchen

Der ‚Exhibitionist‘ kam in Sicht. So habe ich die Statue des Generals Gaetano Giardino getauft. Er hat sich im ersten Weltkrieg Ruhm erworben, steht am Ende der nach ihm benannten Straße auf dem Mittelstreifen zwischen den Fahrbahnen und blickt über die Schlucht zu seinen Füßen hinweg in die letzten Berge der Alpen.

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#6.2 Aufklärung

Nachmittags zeigten Giuseppe und ich Rafał Bassano aus dem Blickwinkel des gusseisernen Generals. Ich hatte mal, zu Lebzeiten der Tata, die Idee, für ein Jahr nach Bassano zu ziehen und fließend Italienisch zu lernen.

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#6.3 In richtig feiner Umgebung

Wir waren um acht die ersten Gäste, aber der lang gestreckte Raum füllte sich schnell. Alle waren elegant gekleidet und sahen aus, wie man es aus Lifestyle-Magazinen kennt, die Wissbegierige beim Friseur durchblättern, um das Lebensgefühl von Frauen zu ergründen ....

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#6.4 Im Banne der geistigen Schamlosigkeit

Zusammen mit meinem Gin Tonic kamen sehr interessante Wolken. Wie immer kippte ich das Eis weg; in einem Garten geht das fast unauffällig. Eis verwässert den Drink und schadet dem Magen.

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#6.5 Karriere ohne Gift

1972 hatten Pali und ich also noch bei Frau Kopp geschlafen, und auch Irene nächtigte dort, als Harald und ich 1975 aus Rom eintrafen. Irene hatte sich mit Pali als Schwiegersohn abgefunden, zumal er über die Westberliner Theaterszene noch etwas besser Bescheid wusste als sie selbst.

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#6.6 Lido

Am Abend gingen wir in die ‚Favorita‘. Es war einfach toll. Diese Ausgelassenheit der Gutgekleideten, eine Stimmung, die als Wortschwall zur Terrassendecke aufstieg und in die Teller mit Scampi und Cozze zurückregnete wie Zitronensaft, so empfand ich es.

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#6.7 Venedig satt

War es eine gute Idee, ausgerechnet den Sonntag für den Venedig-Ausflug vorzusehen? In all den Jahren sind wir frühestens gegen vier aufgebrochen, um nicht eher am ehrwürdigen, verhunzten Gestade anzulegen, als bis zumindest die Tagestouristen das Weite des Vorlandes gesucht und zweifellos auch gefunden hatten.

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#6.8 Abhängig sein

Am Montag war schlechtes Wetter. In Meran auch. Martin filmte nicht, sondern fuhr gleich zurück nach Hamburg. Unterwegs bekam er Fieber und legte sich eine Woche lang ins Bett. „La Perla!“, sagte Rafał.

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#6.9 Rausgeschmissen

Am Dienstag ging ich frühstücken. Na und? Erstens mag ich nicht, dass etwas zum Dogma wird, und zweitens liebte ich immer schon dieses ganz dünn geschnittene Weißbrot, das der Hungrige elektrisch-mechanisch durch eine glühende Vorrichtung transportieren lässt, die aus der blassen Scheibe einen dunkelblonden Toast macht ...

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#7.1 Hilfreiche Überwachung

Am Mittwoch reisten wir bei durchweg wolkenfreiem Himmel mit Schiff und Auto vom Lido an den letzten Ort unserer Reise – der längste Aufenthalt, die reinste Entspannung –: Sirmione. Mittwoch bis Mittwoch.

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#7.2 Im Blickfeld

Gegen halb sieben ist aus dem Geschubse in den engen Gassen schon ein erwartungsfreudiges Gedränge geworden, und man findet sogar einen freien Tisch in der ersten oder zweiten Reihe des beliebtesten Cafés an der Piazzetta.

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#7.3 Unten Löwe, oben Raubvogel

Wir gingen in mein Lieblingslokal ‚Il Grifone‘ – zu Deutsch: der Greif –, ein Geschöpf, das – wie Sirmione – im zweiten Jahrtausend vor Christus erstmals erwähnt wird, und zwar in Syrien, dem Land, das ja im Augenblick wieder die Welt und seine Einwohner verstört.

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#7.4 Ein Irrtum nach dem anderen

Auf der Piazzetta trinkt Silke meist Sanbittèr, Rafał immer Aperol Spritz, Carsten manchmal auch, und ich trinke immer Negroni ohne Eis. Von Schluck zu Schluck hoffe ich darauf, dass endlich ein Leeregefühl im Magen oder ein Lustgefühl, den Gaumen zu reizen, einsetzt.

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#7.5 Kopf hoch, Blick zur Seite!

Dienstag der erste September, der letzte Tag der Reise. Von der Havel am ersten Berliner Tag über die Brenta in Bassano hatten wir unsere Zeit überwiegend am Wasser zugebracht; bloß dass Dresden an einem Fluss liegen soll, hatte sich uns nicht erschlossen. Aber, halb so wild: Wir kannten die Elbe ja aus Hamburg.

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#8.1 Erster Weltkrieg, letzter Versuch

Dann waren wir wieder im Trentino, noch am See, aber schon auf K.-u.-k.-Gebiet. Wenn die ‚Strada Statale 45bis‘ und das Navi den Autolenker von himmlischen Höhen hinabschicken nach Riva, dann muss er sich auf andrängende Touristenschwärme gefasst machen.

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#8.2 Im übergeordneten Sinne

Für diesen Aufenthalt hatten wir uns vorgenommen, wieder mehr spazieren zu gehen. Im Sommer hatten wir überwiegend träge im Garten gelegen, ich hatte gelesen und geschrieben, statt die Beine zu bewegen und mein Herz von den Schönheiten der Natur bewegen zu lassen.

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#8.3 Möglichst nicht ermordet werden

Gleich zu Beginn der Reise galt es, eine dramatische personelle Entscheidung durchzusetzen: Bei meinen Eltern waltet Frau Resi mit ihrem sardischen Gatten Fausto. In meiner Wohnung säubert traditionsgemäß Maria, ihr Mann Toni mäht den Rasen.

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#8.4 Wie es im Paradies so zugeht

Mit Rücksicht darauf, dass du schon immer ein unmoralischer Mensch warst und mit zunehmendem Alter immer mehr wirst, beende ich mein seichtes Sonntagsgeplänkel und komme zum Ernst des Wochentäglichen ...

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#8.5 Silke soll was zu essen kriegen

Da meine Mittagsschläfe lang sind und ich ja auch meine Stimme für die abendliche Lyriklesung schulen muss, komme ich nur selten früher in meinem Elternhaus an, als ich den Aufschnitt aus dem Kühlschrank zu nehmen habe. An solch raren Tagen erklimme ich dann die Treppe zum ersten Stock, von wo her ich erregtes Stimmengewirr wahrnehme ...

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#8.6 Porsche für Südtirol

Von da an lief alles nach Plan, also nicht erzählenswert. Wir liefen mit Silke den Tappeinerweg entlang und aßen im Garten von ‚Schloss Labers‘, mit Blick auf Meran.

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#8.7 Die Verantwortung der Kassiererin

‚Unterwegs‘ zu sein bedeutete, als wir Anfang August in der Freien und Hansestadt Hamburg auf Reisen gingen, etwas ganz anderes als jetzt, da wir in der österreichisch-italienischen Welt Merans eingetroffen sind. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich verschwenderisch gewesen, doch leider hatte ich das nicht mal angemessen genießen können. Wieso nicht? Sollte da womöglich etwas Freudlos-Protestantisches in mir schlummern? Mein Stammbaum sagte: „Nein“. Ich sagte: „Mein Preußentum ist schuld.“ Shopping-Queen werde ich wohl nie.

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#8.8 Mehr oder weniger

Torsten aus Osnabrück, von dessen versautem Vorschlag mir Rafał geflissentlich berichtet hatte, ging mich wenig an. Vorbei. Bernstein wollte am Morgen immer genau wissen, wer wie die Nacht mit wem verbracht hatte.

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#8.9 Die Menschen und ihre Götter

Während ich das schreibe, höre ich die Abendglocken aller drei Kirchen läuten: ein vertrauter Klang, der nicht fordert, jedenfalls mich nicht, nicht mehr. Mich ruft kein Muezzin zum Gebet, aber ich sehe ein, dass Menschen, denen es weniger gut geht als mir, mit Geboten und Verboten besänftigt werden müssen, damit sie ihr Schicksal ertragen ...

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1. Kapitel: Preußen

Die Idee von Europa als Einheit ist nicht neu. Caesar hatte sie schon, Napoleon auch und Hitler erst recht: alles am Ende scheiternde Eroberungskriege von Diktatoren. Karl der Große bekam das Konzept am besten in den Griff, das ist allerdings über 1 200 Jahre her, und eine Union gleichberechtigter Partner war sein Reich genauso wenig, wie es von den Römern oder den Faschisten geplant war.

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#1.1 Selbstmord oder Selbstbetrug

Die Idee von Europa als Einheit ist nicht neu. Caesar hatte sie schon, Napoleon auch und Hitler erst recht: alles am Ende scheiternde Eroberungskriege von Diktatoren. Karl der Große bekam das Konzept am besten in den Griff, das ist allerdings über 1 200 Jahre her, und eine Union gleichberechtigter Partner war sein Reich genauso wenig, wie es von den Römern oder den Faschisten geplant war. Im Übrigen ging es durch die Jahrhunderte eher um Abgrenzung: Katholiken gegen Protestanten, Franzosen gegen Preußen, Deutsche gegen den Rest der Welt.

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#1.2 Polizistenmord oder Freispruch

Als wir die Reise am Sonntag, dem 2. August 2015, erwartungsfroh antraten, schien zum ersten Mal seit Langem plötzlich wieder die Sonne. Überrascht waren wir trotzdem nicht: Wir hatten den Wetterbericht gelesen.

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#1.3 Ohne Feuer kein Ruhm

Zehn Jahre später kaufte sich Guntram einen neuen Mercedes und gab mir seinen alten. Nochmal zehn Jahre später, Roland war schon tot, kaufte sich Guntram wieder einen neuen Mercedes und gab mir wieder seinen alten. Mit dem fuhren Silke und ich gerade eines Vormittags über Weimar nach Meran, Guntram war inzwischen ebenfalls tot, als die frisch inspizierte Limousine bei Erfurt stehen blieb und nicht weiterwollte.

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#1.4 Der zahme Westen

Silke fand – nach kurzer Bestürzung im Hirn – im aufgeweckten Netz als Ersatz für die Pension ‚Dittberner‘ das Hotel ‚The Dude‘, und wir fanden es nach einigen Navi-Umwegen auch und angenehm dort. Das Hotel behauptet ‚Mitte‘ zu sein, na ja, es liegt im allerletzten Abschnitt der prolligen Köpenicker Straße, unmittelbar vor Kreuzberg, aber man ist schnell an der Spree und an der Schloss-Attrappe und wird freundlich bedient. Wie immer bekam ich ein Zimmer neben dem Fahrstuhl, aber es war das einzige Mal auf der Reise, dass ich deswegen Raum und Stockwerk wechselte.

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#1.5 Einzelkind

Seit der Einschulung war Detlev Fuhrmann mein bester Freund. Er war verwegen und schlug alle zusammen, die mich auch nur schief anguckten. Außerdem fiel er vom Steg in den See, und es war hilfreich für ihn, dass ich besser schreien als prügeln konnte. Seine Mutter hieß Hella und hatte, dazu passend, ein Lampengeschäft am Kurfürstendamm.

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#1.6 Berlin im Kopf

Berlin: Blut und Boden hatten in diesem viele Jahrtausende lang unbehausten Landstrich gerade wieder mal versagt. Trotzdem waren Ende der Vierzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch etliche Zeitzeugen, zu denen ich ja nun auch demnächst gehören würde, vorhanden: solche, die sich als Nachfolger der trutzigen Germanen fühlten, und solche, die sich wie lebenserneuernde Sozialisten vorkamen. Sie alle wollten aus den Reichstrümmern ihre jeweilige – alte oder neue – Welt aufbauen.

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#1.7 Das Tor zur Welt

Um mein Verhalten nicht nur zu erwähnen, sondern auch zu rechtfertigen, muss ich noch früher einsetzen, kurz nach dem Eisprung: Ich bin kein Kriegskind. Ich wurde somit von Hitler nicht mehr als Ersatz für die Gefallenen benötigt. Meine Mutter war sowohl ledig als auch staatenlos. Eine Abtreibung wäre also eigentlich in unser aller Sinne gewesen.

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#1.8 Altklug, heimtückisch, aufgewühlt

Unsere Haushälterin war zunächst Maria Bartsch aus Breslau gewesen. Sie wechselte dann aber zu Knapps in die Nachbarvilla, die unzerbombt war und immer noch steht. Frau Knapp hatte uns Maria auf die mieseste Weise, die es gibt, weggestohlen: Sie zahlte mehr. Kein Wunder, ihrem Mann gehörte am Kurfürstendamm der ‚Gloria-Palast‘, in dem sagenumwobene Filme wie ‚Die Sünderin‘ Premiere feierten. Ich meine: ‚Gloria!-Palast!‘ Gegen so etwas konnte man mit einem zerflickten Haus wie unserem natürlich nicht ankommen, und deshalb übernahm die achtzehnjährige, preiswerte Annemarie aus Paulinenaue Marias Aufgaben.

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#1.9 Kommunion mit Brausepulver

Heulend nahm ich drei Monate später Abschied von Berlin: Veränderungen war ich ja seit dem Mutterleib abhold und wollte nichts, schon gar nicht nach Hamburg. Wieder einmal waren es Ottos, die wohltuend in mein Leben eingriffen, indem sie mir versicherten, dass es zwischen Hamburg und Berlin einen Tunnel gäbe. Er führe unter der Elbe hindurch, und das sei wirklich so, denn sie selbst seien da auch schon mal durchgefahren.

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#1.10 Geburtstag mit Einstein

Das Schildhorn, diese Landzunge, die in die Havel ragt, gehört zu meinen Lieblingsplätzen, seit ich das erste Mal dort war. Das war am 3. September 1987 gewesen: Ich war aus Wien eingetroffen, hatte mein Gepäck in der ‚Kempinski‘-Halle zurückgelassen und war mit Michael Zachow und seinem Freund, dem Architekten Jürgen Haug, herausgefahren aus der Stadt. Beide kannte ich durch Roland. Es war ein Abend wie Anfang August: Kähne in der Abendsonne, Lachen in der Luft. Junge Menschen, volle Tische, gutes Essen. Meine erste Reise seit Rolands Lungenoperation, der Anfang vom Ende. Vor zehn Wochen hatten wir damals an meinem Geburtstag auf dem Haveldampfer ‚Großer Kurfürst‘ Würstchen gegessen. Inzwischen war die Welt eingestürzt.

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#1.11 Verschlungene Pfade

Aufwachen ist nichts, was mir gefällt. Ich genieße meine fast immer komplizierten und meist furchtbaren Träume – natürlich erst hinterher, wenn ich mich dafür bewundere, so kompliziert geträumt zu haben, und mich beruhige, dass das wahre Leben ja nicht ganz so furchtbar ist wie meine Träume. Ich war ein verschrecktes Kind, das, wenn überhaupt, nur mit Lampenlicht schlafen konnte und die Helligkeit des Morgens ängstlich herbeisehnte.

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#1.12 Potsdam im Sitzen

Silke eilte voraus zum Anleger, löste die vorbestellten Billetts und erwartete uns vor einem der Schiffe, vermutlich unserem. Martin zuckelte wieder mal hinterher, aber selbst er bekam noch einen der letzten Plätze an Deck. Es war richtig heiß, ‚warm‘ wäre das verkehrte Wort gewesen. Die Leute sahen aus, wie man das auf Ausflugsdampfern gewohnt ist, und fingen bald an, Bier zu bestellen.

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#1.13 Etwas erleben

Als besonders gut und schön gelegen hatte ich das ‚Katz Orange‘ ergoogelt. Dahin fuhren wir nun nicht. Man hatte Silke dort vor vierzehn Tagen einen Tisch um sieben oder um halb neun angeboten. Solche Einschränkungen kann ich nicht besser ausstehen als Frühstücksbuffets. Da gefiel mir das ‚Brecht’s‘ dann schon besser.

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#1.14 Die ganze Zeit

Viertel nach neun klopfte Rafał an die ‚Dude‘-Tür: „Alles gut?“, fragt er jeden Morgen, und jedes Mal möchte ich antworten: „Nein. Sieh dir die Welt doch an! Nichts ist gut!“, und jeden Morgen antworte ich: „Ja“.

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#1.15. „Lebensort Vielfalt“

Es war wieder Morgen, und ich sah auf die Stadt, mein Stück Stadt: erst von oben aus dem Mansardenfenster im vierten Stock, dann auf der Straße, auf dem Stuhl vor dem ‚Dude‘. Früher gehörte mir die ganze Welt, jetzt muss ich mich mit dem Ausschnitt begnügen, den meine Beine meinen Augen gestatten.

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#1.16 Siebzehn Stationen bis zur kleinen Ewigkeit

1969 waren meine Mitlehrlinge und ich am freien 1. Mai abenteuerlustig und deshalb fuhren wir zu fünft mit unserem Schönsten: Achim Hauenschild und seinem Auto über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße nach Ostberlin. Das Wetter war schlecht, die Parade war vorbei, die Innenstadt wirkte ausgestorben. Ich schlug vor, nach Köpenick zu fahren; das war, wegen des Hauptmanns, der einzige Ost-Stadtteil, dessen Namen ich kannte. Ich kam mir fremd vor wie in Nigeria ...

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#1.17 Vom kulinarischen Mosaik zu den sauren Gurken

Das ‚NENI‘ ist sehr angesagt und rühmt sich eines großartigen Blickes über Berlin. Das stimmt schon, allerdings ist die Silhouette von Berlin nicht besonders großartig, und von da aus schon gar nicht. Tische und Stühle vermitteln den Eindruck eines skandinavischen Kindergartens, was in mir aber keine Großvatergefühle weckte. Wir saßen in der Mitte, konnten in alle Richtungen nach draußen gucken, den Lärm genießen und die Speisekarten studieren. Zum Essen und Konzept vom ‚NENI‘ Berlin gehört immer der ‚teilende, leidenschaftliche Moment‘, las ich.

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2. Kapitel: Sachsen

Bisher war ich nur selten in Sachsen gewesen. Dabei kommt Sachsen in meiner Familiengeschichte durchaus eine gewisse Bedeutung zu. Mein väterlicher Großvater Reinhold wurde Kommandeur in Wurzen, wo seine Frau Maria alle vier Söhne zur Welt brachte. Dann kam der Erste Weltkrieg – und die Familie meines Vaters lebte verstreut zwischen Front, Essen, Harz und Südtirol, bevor Anfang der Zwanzigerjahre alle in Berlin wieder zusammenfanden: national-konservativ, katholisch, standesbewusst …

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#2.1 Elbsand und Alsterwasser

Bisher war ich nur selten in Sachsen gewesen und ausschließlich in Leipzig, zuerst 1997 mit meiner Cousine Marina und deren Mann Florian. Wir besuchten da auf einen Nachmittag ihren mittleren Sohn ‚Nicki‘, der sich aber mit seinem Vater so in die Haare kriegte, dass wir zum Abendessen schon wieder auf dem Gendarmenmarkt saßen.

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#2.2 Die entmachtete Vergangenheit

Für den Samstagabend hatte ich ursprünglich das prominente ‚Taschenbergpalais‘ vorgesehen, schon um Silke wieder mal was ohne Papierservietten zu bieten. Es behauptet von sich, es sei ‚Treffpunkt für Feinschmecker und Liebhaber internationaler Tafelkultur: Das Restaurant ‚Intermezzo‘ überzeugt mit bodenständiger Eleganz und raffinierter Einfachheit‘. Kann man mehr verlangen?

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#2.3 Der Gedanke ersetzt die Tat

Giuseppe kam als Erster, dann auch Rafał und schließlich Silke: Mit Kleid kann man sich ja viel effektvoller aufbrezeln als mit Hemd und Hose, und mit einer alterslosen Dame als Gallionsfigur oder im Schlepptau macht man ohnehin mehr her, als drei Kerle unterschiedlichen Alters das von sich aus vermögen. Martin hatte Ausgang.

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#2.4 Plan B

Am Sonntag fiel die Dampferfahrt die Elbe herauf ins Elbsandsteingebirge nicht ins Wasser, sondern, im Gegenteil, aus, weil die Elbe ausgefallen war. Das wussten wir schon seit Samstagmittag, so dass ich bereits einen Elb-Ersatzplan hatte schmieden können, der Martin enger einband.

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#2.5 Schlechtes Benehmen in feiner Umgebung

Das Wetter war ja schön, und so hatte der Tag es verdient, ebenfalls eine schöne Pause zu erhalten. Die bekam er schließlich auch: Schloss Pillnitz an den Weinbergen. Dass es die ehemalige Sommerresidenz Friedrich Augusts des Gerechten war und heute die größte chinoise Schlossanlage Europas ist, wusste ich nicht, war aber sowieso weder mit gerechten Augusten noch mit chinoisen Anlagen so richtig vertraut, nicht mal in chinesische Wertpapiere habe ich Vertrauen.

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3. Kapitel: Böhmen

Zum ersten Mal in meinem Leben in Böhmen. Nostalgiker nennen es noch ‚Tschechoslowakei‘. Sudetendeutsche Landsmannschaften und Egerländer Blaskapellen mussten wir ja bei unserem Einmarsch nicht mehr befürchten; wir alle fühlen uns solchem Brauchtum gegenüber nicht gewachsen. Mir war aber etwas ähnlich Schlimmes eingefallen: Theresienstadt.

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#3.1 Aussteigen oder sitzen bleiben

Zum ersten Mal in meinem Leben in Böhmen. Nostalgiker nennen es noch Tschechoslowakei. Sudetendeutsche Landsmannschaften und Egerländer Blaskapellen mussten wir ja bei unserem Einmarsch nicht mehr befürchten; wir alle fühlen uns solchem Brauchtum gegenüber nicht gewachsen. Mir war aber etwas ähnlich Schlimmes eingefallen: Theresienstadt, weil es an der Strecke liegt.

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#3.2 Was kein Prager missen möchte

Im Osten herrschte bis 1989 die Partei, aber nicht durchgehend Ruhe. Am 16. Januar 1969 verbrannte sich der tschechoslowakische Student Jan Palach selbst und lief in Flammen stehend vom Nationalmuseum auf den Wenzelsplatz. Auf dem saßen wir nun, doch statt des Atems der Geschichte wehten in der Nachmittagshitze leicht bekleidete Gestalten an uns und unseren Drinks vorbei. Der Unterschied zu 16.00 Uhr auf der Reeperbahn war nicht gravierend, musste ich mir eingestehen.

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#3.3 Schleusenfahrt mit Belustigung

Morgens schließe ich mich ja immer aus und fühle mich auch so: ausgeschlossen. Dabei könnte ich das ändern und zum Frühstücksbüffet pilgern. Ausgeschlossen! Wenn Rafał an meine Tür klopft, hat Silke schon einen Espresso nebst einem vanillelosen Croissant zu sich genommen, Rafał wenig, Giuseppe viel, und Martin schläft noch. So stelle ich mir das vor, wissen tue ich nur, dass ich kraus geträumt habe und dass ich Leibschmerzen habe, unten rechts ...

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#3.4 Im ‚Parnas‘

Erfreulicherweise war das Mittagessen ausgefallen. Nachmittags durchstreift Rafał gern mit Silke die Boutiquen, nachts die Bars lieber mit Giuseppe. Ich ging in mein Zimmer und übte im Hellgrünen eifrig am Anfängerkurs der schwierigen Disziplin ‚Appetit haben‘.

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#3.5 Im hängenden Café

Silkes und mein Arbeitstag begann um 11.00 Uhr mit einer weiteren Rikscha-Fahrt; Velotaxi heißen diese Folterinstrumente hier. Die anderen drei waren schon mit Sightseeing beschäftigt. Dem höchst unattraktiven, charmelosen, aber pünktlichen Folterknecht schärfte ich in meinem besten Englisch ein, dass wir nicht die Neustadt, sondern die Altstadt und die andere Seite sehen möchten, was für ihn lästig, aber unvermeidlich war. So ruckelte er uns über Straßen und Plätze, dass mir Hören und Sehen verging.

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#3.6 Ein unvermeidlicher Schlenker

Der Donnerstag war als Reisetag vorgesehen. Doch als dann um zehn Uhr wirklich alles Gepäck auf die beiden Wagen verteilt war, kamen mir Zweifel. In anderthalb Stunden würden wir in Brünn sein. Was gab es da wohl zu erleben? Wenig, vermutete ich. Karlsbad war doch nach Prag der bekannteste Ort in Tschechien. Ein kleiner Abstecher wäre ja wohl drin.

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4. Kapitel: Österreich

Im Fiaker fast herrschaftlich durch Wien. Mein Wien war das eher nicht. Mein Wien habe ich, immer in Eile, manchmal nur von mir selbst gehetzt, im Sturmschritt durchlaufen. Vom ‚Sacher‘ zu ‚Dehmel‘, vom Konzerthaus zum Musikverein, von der Oper zur Burg. Und dann wieder saß ich stundenlang im Kaffeehaus, im Tonstudio, im Schneideraum. Zeitweise hatte ich engere Freunde in Wien als in Hamburg, so schien es mir.

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#4.1 In den Kulissen verspielter Stücke

Diese Strecke war ich erst ein Mal im Leben aus Wien heraus- und dann wieder nach Wien zurückgefahren: mit Hanns und Franz. Die Nacht war fast schlaflos gewesen, in den Privaträumen des Opernintendanten Egon Seefehlner, in einer Abstellkammer, in die ich mich mit jemandem zurückgezogen hatte, auf den ich unmöglich hatte verzichten können.

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#4.2 Ausgaloppiert

Vor dem ‚Imperial‘ wartete Martin mit der Kamera. Ich gab mir Mühe, ungekünstelt auszusteigen, so wie man eben im Jahr 2015 seine Kutsche verlässt, mit einem Bein, auf das man sich verlassen kann, und einem, das dazu neigt, seinem Besitzer Streiche zu spielen.

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#4.3 Heiße Nächte, kalter Dreck

Freitagnacht in Wien: Das hatte immer mit einem Essen begonnen, manchmal war ich eingeladen gewesen, oft hatte ich gezahlt, immer auf Geschäftskosten. Mal mit Künstlern, mal mit Lebenskünstlern – gehörte ich selbst zu einer von beiden Gruppen? Danach, wenn es früh genug war, noch woanders hin, sonst gleich in den ‚Stiefelknecht‘; Name war Programm, so dass ich mich auch hier als Außenseiter fühlen konnte.

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#4.4 Über den Naschmarkt fahren

Rafał hatte unter Tag frei. Ein Freundespaar war seinetwegen vom Attersee zurückgekehrt, am Abend wollten wir uns alle beim Heurigen treffen. Ich sah aus meinem hohen Fenster, wie Rafał über die Straße ging und wie er in der Ferne die beiden Schwuchteln begrüßte, ...

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#4.5 Ein Interview im Nirgendwo

Pünktlich um 12 Uhr waren wir da. Die Stühle standen auf den Tischen, draußen, aber drinnen auch. Im ‚Otto e Mezzo‘ brannte kein Licht, die Tür war verschlossen. Wie üblich hatte ich mein Handy nicht dabei.

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#4.6 Was sein könnte und was nicht

Silke und Giuseppe trafen im Restaurant ein, kaum dass Glavinic und ich saßen. Nur höhere Gewalt kann Silke unpünktlich machen. Ich sah über den Platz, den ‚Rilkeplatz‘, kein eindrucksvolles, kein störendes Stück Wien, und bestellte ‚dalmatinischen Prosciutto mit Schafskäse‘, da konnte nichts schiefgehen.

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#4.7 Zwei brechen ab, drei brechen auf

Martin kam, um unser beschauliches Mittagessen zu stören. Ein Oligarch im weißen Bademantel hatte sich seinerseits durch die Drohne gestört gefühlt und seine Bodyguards angewiesen, dem Treiben Einhalt zu gebieten.

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5. Kapitel: Südtirol

Beide waren wir kleiner gewesen, als wir uns kennenlernten: Meran und ich. Meran hatte noch keine Vorstadthäuser, ich noch keine Barthaare. 1954, ich war acht. Zum ersten Mal in den Bergen. Ich mochte sie lieber als die graue Nordsee der vergangenen Jahre und genauso gern wie die Adria. Trotzdem mussten Meran und ich zwölf Jahre warten, bis wir uns wiedersahen, doch von da an sahen wir uns Jahr für Jahr.

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#5.1 In Sackgassen

Beide waren wir kleiner gewesen, als wir uns kennenlernten: Meran und ich. Meran hatte noch keine Vorstadthäuser, ich noch keine Barthaare. 1954, ich war acht. Zum ersten Mal in den Bergen. Ich mochte sie lieber als die graue Nordsee der vergangenen Jahre und genauso gern wie die Adria, von der wir gerade kamen.

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#5.2 Gedanken, Gefühle, Geschichte

Selbstverständlich waren auch die beiden Meran-Tage voll durchgeplant. Eigentlich dienten sie nur dazu, die Herbstgarderobe nicht nach Restitalien weiterschleppen zu müssen, sondern sie dort lassen zu können, wo sie ab Oktober gebraucht würde.

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#5.3 Verführung

Um zehn Uhr hatte sich Rafał vor Ort davon überzeugt, dass Silke nicht bereit war aufzustehen, und auch Martin hatte er im Ort nicht aufgespürt. Ich rief Giuseppe an und teilte ihm mit, wir würden uns ein wenig verspäten, übrigens seien wir nur zu zweit.

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6. Kapitel: Veneto

Der Exhibitionist kam in Sicht. So habe ich die Statue des Generals Gaetano Giardino getauft. Er hat sich im Ersten Weltkrieg Ruhm erworben, steht am Ende der nach ihm benannten Straße auf dem Mittelstreifen zwischen den Fahrbahnen und blickt über die Schlucht zu seinen Füßen hinweg in die letzten Berge der Alpen.

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#6.1 Posieren oder abtauchen

Der ‚Exhibitionist‘ kam in Sicht. So habe ich die Statue des Generals Gaetano Giardino getauft. Er hat sich im ersten Weltkrieg Ruhm erworben, steht am Ende der nach ihm benannten Straße auf dem Mittelstreifen zwischen den Fahrbahnen und blickt über die Schlucht zu seinen Füßen hinweg in die letzten Berge der Alpen.

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#6.2 Aufklärung

Nachmittags zeigten Giuseppe und ich Rafał Bassano aus dem Blickwinkel des gusseisernen Generals. Ich hatte mal, zu Lebzeiten der Tata, die Idee, für ein Jahr nach Bassano zu ziehen und fließend Italienisch zu lernen.

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#6.3 In richtig feiner Umgebung

Wir waren um acht die ersten Gäste, aber der lang gestreckte Raum füllte sich schnell. Alle waren elegant gekleidet und sahen aus, wie man es aus Lifestyle-Magazinen kennt, die Wissbegierige beim Friseur durchblättern, um das Lebensgefühl von Frauen zu ergründen ....

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#6.4 Im Banne der geistigen Schamlosigkeit

Zusammen mit meinem Gin Tonic kamen sehr interessante Wolken. Wie immer kippte ich das Eis weg; in einem Garten geht das fast unauffällig. Eis verwässert den Drink und schadet dem Magen.

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#6.5 Karriere ohne Gift

1972 hatten Pali und ich also noch bei Frau Kopp geschlafen, und auch Irene nächtigte dort, als Harald und ich 1975 aus Rom eintrafen. Irene hatte sich mit Pali als Schwiegersohn abgefunden, zumal er über die Westberliner Theaterszene noch etwas besser Bescheid wusste als sie selbst.

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#6.6 Lido

Am Abend gingen wir in die ‚Favorita‘. Es war einfach toll. Diese Ausgelassenheit der Gutgekleideten, eine Stimmung, die als Wortschwall zur Terrassendecke aufstieg und in die Teller mit Scampi und Cozze zurückregnete wie Zitronensaft, so empfand ich es.

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#6.7 Venedig satt

War es eine gute Idee, ausgerechnet den Sonntag für den Venedig-Ausflug vorzusehen? In all den Jahren sind wir frühestens gegen vier aufgebrochen, um nicht eher am ehrwürdigen, verhunzten Gestade anzulegen, als bis zumindest die Tagestouristen das Weite des Vorlandes gesucht und zweifellos auch gefunden hatten.

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#6.8 Abhängig sein

Am Montag war schlechtes Wetter. In Meran auch. Martin filmte nicht, sondern fuhr gleich zurück nach Hamburg. Unterwegs bekam er Fieber und legte sich eine Woche lang ins Bett. „La Perla!“, sagte Rafał.

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#6.9 Rausgeschmissen

Am Dienstag ging ich frühstücken. Na und? Erstens mag ich nicht, dass etwas zum Dogma wird, und zweitens liebte ich immer schon dieses ganz dünn geschnittene Weißbrot, das der Hungrige elektrisch-mechanisch durch eine glühende Vorrichtung transportieren lässt, die aus der blassen Scheibe einen dunkelblonden Toast macht ...

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7. Kapitel: Lombardei

Die Geschichte der Halbinsel Sirmione geht auf das zweite Jahrtausend vor Christus zurück, wer kann damit schon konkurrieren? Zur Zeit der Römer war die Halbinsel ein Ferienort höhergestellter Familien, die sicher nie heizten, also noch jetzt genau das Richtige für uns, und so lernte Rafał nun, über Roland und mich als Zwischenträger, von einem venezianischen, vielleicht längst verblichenen Koch die Schönheiten der Burg und der Altstadt kennen. Meinen Eltern hatten wir Sirmione schon 1982 gezeigt und es von da an als festen Programmpunkt vereinnahmt.

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#7.1 Hilfreiche Überwachung

Am Mittwoch reisten wir bei durchweg wolkenfreiem Himmel mit Schiff und Auto vom Lido an den letzten Ort unserer Reise – der längste Aufenthalt, die reinste Entspannung –: Sirmione. Mittwoch bis Mittwoch.

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#7.2 Im Blickfeld

Gegen halb sieben ist aus dem Geschubse in den engen Gassen schon ein erwartungsfreudiges Gedränge geworden, und man findet sogar einen freien Tisch in der ersten oder zweiten Reihe des beliebtesten Cafés an der Piazzetta.

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#7.3 Unten Löwe, oben Raubvogel

Wir gingen in mein Lieblingslokal ‚Il Grifone‘ – zu Deutsch: der Greif –, ein Geschöpf, das – wie Sirmione – im zweiten Jahrtausend vor Christus erstmals erwähnt wird, und zwar in Syrien, dem Land, das ja im Augenblick wieder die Welt und seine Einwohner verstört.

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#7.4 Ein Irrtum nach dem anderen

Auf der Piazzetta trinkt Silke meist Sanbittèr, Rafał immer Aperol Spritz, Carsten manchmal auch, und ich trinke immer Negroni ohne Eis. Von Schluck zu Schluck hoffe ich darauf, dass endlich ein Leeregefühl im Magen oder ein Lustgefühl, den Gaumen zu reizen, einsetzt.

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#7.5 Kopf hoch, Blick zur Seite!

Dienstag der erste September, der letzte Tag der Reise. Von der Havel am ersten Berliner Tag über die Brenta in Bassano hatten wir unsere Zeit überwiegend am Wasser zugebracht; bloß dass Dresden an einem Fluss liegen soll, hatte sich uns nicht erschlossen. Aber, halb so wild: Wir kannten die Elbe ja aus Hamburg.

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8. Kapitel: Trentino/Alto Adige

Nun waren wir wieder im Trentino, noch am See, aber schon auf K.-u.-k.-Gebiet. Wenn die ‚Strada Statale 45bis‘ und das Navi den Autolenker von himmlischen Höhen hinabschicken nach Riva, dann muss er sich auf andrängende Touristenschwärme gefasst machen. Dem gilt es schnellstmöglich zu entkommen, und zwar nicht südlich nach Malcesine, wo selbst Goethe seit 1786 nicht mehr gewesen ist, sondern nördlich, die Passstraße hinauf Richtung oberes Etschtal, italienisch: Alto Adige.

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#8.1 Erster Weltkrieg, letzter Versuch

Dann waren wir wieder im Trentino, noch am See, aber schon auf K.-u.-k.-Gebiet. Wenn die ‚Strada Statale 45bis‘ und das Navi den Autolenker von himmlischen Höhen hinabschicken nach Riva, dann muss er sich auf andrängende Touristenschwärme gefasst machen.

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#8.2 Im übergeordneten Sinne

Für diesen Aufenthalt hatten wir uns vorgenommen, wieder mehr spazieren zu gehen. Im Sommer hatten wir überwiegend träge im Garten gelegen, ich hatte gelesen und geschrieben, statt die Beine zu bewegen und mein Herz von den Schönheiten der Natur bewegen zu lassen.

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#8.3 Möglichst nicht ermordet werden

Gleich zu Beginn der Reise galt es, eine dramatische personelle Entscheidung durchzusetzen: Bei meinen Eltern waltet Frau Resi mit ihrem sardischen Gatten Fausto. In meiner Wohnung säubert traditionsgemäß Maria, ihr Mann Toni mäht den Rasen.

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#8.4 Wie es im Paradies so zugeht

Mit Rücksicht darauf, dass du schon immer ein unmoralischer Mensch warst und mit zunehmendem Alter immer mehr wirst, beende ich mein seichtes Sonntagsgeplänkel und komme zum Ernst des Wochentäglichen ...

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#8.5 Silke soll was zu essen kriegen

Da meine Mittagsschläfe lang sind und ich ja auch meine Stimme für die abendliche Lyriklesung schulen muss, komme ich nur selten früher in meinem Elternhaus an, als ich den Aufschnitt aus dem Kühlschrank zu nehmen habe. An solch raren Tagen erklimme ich dann die Treppe zum ersten Stock, von wo her ich erregtes Stimmengewirr wahrnehme ...

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#8.6 Porsche für Südtirol

Von da an lief alles nach Plan, also nicht erzählenswert. Wir liefen mit Silke den Tappeinerweg entlang und aßen im Garten von ‚Schloss Labers‘, mit Blick auf Meran.

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#8.7 Die Verantwortung der Kassiererin

‚Unterwegs‘ zu sein bedeutete, als wir Anfang August in der Freien und Hansestadt Hamburg auf Reisen gingen, etwas ganz anderes als jetzt, da wir in der österreichisch-italienischen Welt Merans eingetroffen sind. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich verschwenderisch gewesen, doch leider hatte ich das nicht mal angemessen genießen können. Wieso nicht? Sollte da womöglich etwas Freudlos-Protestantisches in mir schlummern? Mein Stammbaum sagte: „Nein“. Ich sagte: „Mein Preußentum ist schuld.“ Shopping-Queen werde ich wohl nie.

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#8.8 Mehr oder weniger

Torsten aus Osnabrück, von dessen versautem Vorschlag mir Rafał geflissentlich berichtet hatte, ging mich wenig an. Vorbei. Bernstein wollte am Morgen immer genau wissen, wer wie die Nacht mit wem verbracht hatte.

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#8.9 Die Menschen und ihre Götter

Während ich das schreibe, höre ich die Abendglocken aller drei Kirchen läuten: ein vertrauter Klang, der nicht fordert, jedenfalls mich nicht, nicht mehr. Mich ruft kein Muezzin zum Gebet, aber ich sehe ein, dass Menschen, denen es weniger gut geht als mir, mit Geboten und Verboten besänftigt werden müssen, damit sie ihr Schicksal ertragen ...

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Fast am Ziel

‚Fast am Ziel – 99 Umwege‘ zeigt Hanno Rinke mit Leidensgenossen unterwegs durch Zeit und Raum. (PROLOG) Es gibt einen Intelligenztest: Futter liegt hinter einer kurzen Glaswand. Die meisten Tiere stoßen mit der Schnauze immer wieder gegen die Wand, statt um sie herum zu laufen. Nur wenige Arten erkennen, dass sie sich entfernen müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Einsichtiges Verhalten setzt die Fähigkeit voraus, in ungewohnten Situationen durch Umwege zum Erfolg zu kommen. Wer die kerzengerade Strecke sucht, wer in Gedanken und Gefühlen Abschweifungen sieht, wer Erinnerungen als Ballast empfindet, der sollte einen anderen Reiseführer wählen. Hier läuft das so: Der Weg ist die Richtung. Der Umweg ist das Ziel.

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Fast am Ziel

Einrede statt Ausrede | Fast am Ziel

‚Ich‘ zu schreiben, entspricht dem Zeitgeist. Man sagt nicht mehr ‚man‘: klingt irgendwie frauenfeindlich. Außerdem habe ich alles, was ich behaupte, ja auch wirklich erlebt. Zumindest im Kopf. Kein fake!

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Fast am Ziel

Unweg statt Umweg | #1

Im vorigen Jahr haben wir eine Reise gemacht, die das neue Auto auf die Probe stellen sollte: Ein Mercedes, der noch nicht wie ein Tesla mit Autopilot fuhr, aber dafür war ja Rafał da. Ich saß neben ihm, Silke und Giuseppe saßen hinten ...

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Fast am Ziel

Ins Wasser gefallen | #2

Am nächsten Vormittag waren wir im Wedding. Bei ALEKS & SHANTU in der Müllerstraße. Dort lernte ich Tobi kennen, der seither meine Homepage betreut und sich ausdenken muss, wie das hier ins Netz gelangt.

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Tote Oma mit Schlossblick | #3

Am Mittwoch war das Wetter auch nicht besser, aber wir wollten sowieso abreisen: nach Halle! Also nicht wirklich, aber es mal kurz ansehen, das wollte ich. Die beiden ältlichen Kommissare des Hallenser ‚Polizeiruf 110‘ (die ehemalige DDR-Antwort auf den ARD-‚Tatort‘) ziehe ich mir auch in den Wiederholungen masochistisch gern rein und rede mir ein: Das ist jetzt meine Altersklasse und mein Niveau, und dabei komme ich mir vor wie ein schwanzschlaffer Rentner, der sich nur noch zu gebisslosen Nutten traut.

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Fast am Ziel

„Mit dem Tick Raffinesse“ | #4

Am frühen Morgen ging Silke in ihr Bad. Als sie es wieder verlassen wollte, bedachte sie nicht die drei Stufen, die den sanitären vom Schlafbereich trennten und stürzte abwärts. Ihr rechter Fuß war schlimm verstaucht und machte ihr zunehmend zu schaffen. Eine Stadtbesichtigung aus dem Autofenster war nicht nur durch den beruhigten Verkehr erschwert, sondern wegen der aufgebrachten Katholiken nahezu unmöglich. Immerhin sahen wir jenseits der gläubigen Menge den Neubau der Paulinerkirche, der dem Original glaubwürdig nachempfunden ist.

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Fast am Ziel

Kröte, Gaul und Sushi | #5

Am nächsten Morgen war das Wetter nicht mehr ganz so gut, und während Rafał unser Gepäck aus den Zimmern holte – im Unterschied zu Grandhotels gibt es in ‚Romantik-­Hotels‘ stimmungsvollerweise keine Gepäckträger –, beschwerten sich zwei Autofahrer, dass sie nicht an unserem vor der Eingangstür wartenden Mercedes vorbei kämen. Rafał wurde zum ersten Mal ungehalten und wies die zeternden Franken darauf hin, dass er vor dem Hoteleingang richtig stand, verkehrt stand das Auto daneben, am Dorfbrunnen. Wohl wahr, vorbei kam trotzdem niemand.

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Ziele, Ideale und was davon bleibt | #6

Nun beginnt also die erste Ruhephase. Ist das erholsam oder anstrengend? Früher wollte ich an jedem Morgen wissen: Ich bin verantwortlich für etwas, ich muss nach London fliegen, ich muss ein Meeting vorbereiten oder ich muss einen Vortrag halten. Wofür steht man denn sonst überhaupt auf? Heute schlafe ich schon schlecht, wenn ich um elf einen Friseurtermin habe. Aufstehen ist jetzt eine unangenehme Unterbrechung meiner meist unangenehmen Träume, deren Charme ausschließlich in ihrer Konsequenzlosigkeit besteht.

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Aufgaben aufgeben | #7

So, nun also die ersehnte Zeit der Aufgabenlosigkeit. Die macht ja fast jeden verrückt. Rafał war davon am wenigsten betroffen, weil er den Haushalt führen und kochen musste. Ich, der ich immer schon sehr liederlich, aber recht rezeptfreudig war, redete ihm kaum in die Kochwäsche rein, machte aber allmorgendlich für das Mittagessen Vorschläge, die zu meiner Freude als Weisungen ausgelegt wurden.

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Ende der Einsamkeit | #8

Als Erste kam Susi. Am Sonntag. Sechzehn Tage nach uns. Susi fügt sich gut ein, und wenn sie das nicht kann oder will, bleibt sie für sich. Wir kennen uns seit 1969, haben also schon viele Tote gemeinsam. Aus Solidarität oder Ehrgeiz schloss sich Susi meiner bereits seit einer Woche durchgehaltenen Abstinenz an, machte allerdings meine Quarkdiät nicht mit.

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Ein abgeschaffter Feiertag | #9

Die längste Zeit meines Lebens war das ein Feiertag gewesen: der Tag der deutschen Einheit, an die niemand mehr glaubte. Als sie dann doch kam, wurde er abgeschafft. Seither liegt mein Geburtstag etwas ungeschützt irgendwo in der Woche, was aber nicht so schlimm ist, weil ich gleichzeitig aufhörte, ins Büro zu gehen.

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Lebende und Unsterbliche | #10

Alle saßen pünktlich in den Autos, für die sie eingeteilt waren. Rafał fuhr mit Bo, Ingrid und mir vorneweg und verzichtete wegen seiner guten Ortskenntnisse auf die Navigatorin, was uns und die anderen drei Autos hinter unseren Rücken mehrfach durch Algund führte. An der ewig selben ewig roten Ampel machten wir uns Mut, die Nachzügler würden das bestimmt für eine Ortsbesichtigung halten, dann kamen wir doch nach Töll, wobei Rafał unentwegt den Rückspiegel anschrie, warum Giuseppe so langsam führe.

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Fünf Sterne unter grauem Himmel | #11

Siebzig zu werden ist kein Ruhmesblatt, seit es Antibiotika gibt. Bedeutende Menschen haben dieses Alter zuvor nicht erreicht, längst Vergessene haben es seither weit übertroffen. Ich liege wie üblich im Mittelfeld dazwischen, habe also eine noch mindestens so glorreiche Zukunft, wie Honecker sie der DDR zum vierzigsten Jubiläum vorhergesagt hat.

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Wie wichtig bin ich? | #12

Vor ihrer Abreise durften Thomas und Loïc beim Frühstück auf der Hotelterrasse feststellen, dass es in Meran auch wolkenlosen Himmel geben kann; den hatten sie dann bis zum Abflug in Verona. Anette stieg stattdessen in den Bus und kam ganz ohne Zwischenfälle, also nicht weiter erwähnenswert, nach Südfrankreich in ihren provenzalischen Urlaub ganz ohne WLAN, was einem ja heute vorkommt, wie ohne fließend Wasser.

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Tier und Mensch | #13

Nachdem sich auch Bo und Ingrid wieder auf den Weg nach Stockholm gemacht hatten, war die Party vorbei. Susi blieb etwas länger bei Silke, Giuseppe bei mir. Beide hatten ja Zimmer mit Bad. Wo man nicht teilen muss, stört man auch nicht. Carsten blieb am längsten, im zweiten Stock der ‚Villa‘, Rafałs Reich, und Sally mit beiden.

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Schachfiguren | #14

Dass wir am Freitag, dem 15. Juli, gerade in der Mitte des Monats, aufbrachen, war genauso zufällig, wie dass wir auf den Tag genau vier Wochen später zurück sein würden: nämlich kein bisschen.

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Die drei Venezien | #15

Bis auf den kurzen Zubringer hatten wir den Rest der Strecke Autobahn. An Venedig vorbei – eigentümlich, dort nicht wie fast jedes Jahr zu verweilen, sondern dort wie noch nie einfach entlangzurauschen – aus dem Veneto über das Friaul nach Venezia Giulia. Wer sich ausschließlich für mich interessiert, muss jetzt runterscrollen, wer auch ein bisschen Geschichte aushält, liest weiter.

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Greif Maria! | #16

Wir befolgten die Anweisungen der Navigatorin und verließen die Autobahn. Von Zeit zu Zeit mache ich Rafał darauf aufmerksam, dass er ihre Stimme durch eine männliche ersetzen will, aber er hat in der Gebrauchsanweisung immer noch nicht den Trick gefunden, wie das geht. Meine wiederholte Nachfrage hat damit zu tun, dass unsere Verwünschungen, wenn wir uns fehlinformiert fühlen, einfach zu frauenfeindlich klingen, und da könnte sich Silke hinten düpiert vorkommen.

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Aufschneider & Abstecher | #17

Es war mein drittes Mal in Triest. 1991 war ich – auch von Meran aus – dort gewesen, in Vor-MeBo-Zeiten, neun Monate nach Rolands Tod. Mit Bill (tot) und mit Giuseppe (lebt noch).

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Brust oder Flasche | #18

Zunächst mal musste ich ‚alter Hase‘ den beiden Neulingen ja Triest zeigen. Triest ist das Österreichischste, was Italien außerhalb Südtirols zu bieten hat, so viel wusste ich noch, viel mehr auch nicht. Die Häuser sind überwiegend vierstöckig, Ende neunzehntes Jahrhundert, ein bisschen wie Prag, etwas abgeblätterter, aber im Zentrum ist es schön unübersichtlich, ein wirbeliges Durcheinander von Gassen und Menschen.

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Der istrische Kopf | #19

Wir waren uns einig, dass es in Slowenien anders aussah als in Italien. Die Berge? Die Häuser? Vielleicht lag es nur an den unleserlichen Schildern. Doch gleich an der Peripherie des ersten Ortes grüßten die vertrauten Supermärkte, riesig, und Unmengen von neuen Autos, zum Verladen bereit.

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Rückblenden und Lachnummern | #20

Zwischen 1975 und 1990 habe ich meine Jahresfilme gedreht. Ich habe gelebt, um zu filmen und gefilmt, um zu leben. Jetzt, 2016, hält man einfach sein Handy in die Luft. Damals musste man sich jede Einstellung genau überlegen. Filmen war teuer, und die traurige Kapitalisten-Erkenntnis ist: Was nichts kostet, ist nichts wert. Dafür war dann der fertig geschnittene Film eine Kostbarkeit, für mich jedenfalls. Der Film ist besser geeignet, eine Reise zu beschreiben, als ein Text es ist; man kann ihm zusätzlich die passenden Geräusche und die passende Musik unterlegen.

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Rückzu | #21

Silke und Rafał waren zurück. Sie hatten betrachtet, was von der glorreichen Herrschaft Venedigs übrig geblieben war und was in den Schaufenstern der Gegenwart auslag.

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Duino | #22

Dreimal war ich von meinem weiß lackierten Terrassenstuhl aufgestanden, weil ich ein Klopfen vom Zimmer her gehört zu haben glaubte. Jetzt stand Rafał wirklich im Flur. Er und Silke hatten nicht nur Kaufenswertes entdeckt, sondern sogar den Eingang vom ‚Duca D’Aosta‘. Eher unscheinbar. Kein Monument glorreicher Zeiten.

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Kriegsfrieden | #23

Wir versuchten, was wir konnten, aber diesen Schlossblick von der Bucht in den Sonnenuntergang, den erwischen wir einfach nicht.

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Die Schweine und der Adel | #24

Um 10 Uhr waren wir schon wieder in Slowenien. Wir hatten es geschafft, uns eine halbe Stunde eher als vom Plan befohlen, auf den Weg zu machen. Rafał hatte meine Habseligkeiten eingesammelt und verstaut, während ich in mein ‚Reisekostüm‘ geschlüpft war: taubenblaue Jeans, taubenblaues Polohemd, taubenblauer, serviettendünner Pullover über den Schultern.

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Willkommene Enttäuschung | #25

Seit Kroatien selbstständig ist, haben sich alle viel Mühe gegeben. Als wir den Stau zum Zentrum hinter uns hatten, kamen wir auf eine gepflegte Palmenpromenade mit herrschaftlichen Hotels aus K.-u.-k.-Glanzzeiten.

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Am Hang | #26

Die Überfahrt nach Cres dauerte keine Stunde. Rafał flitzte wie immer durch die Gegend. Ich saß mit Silke auf einer Bank.

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Am Ziel, am Start | #27

Wir überquerten eine handtuchschmale Brücke, höchstens sechs Meter, dann waren wir auf der nächsten Insel: Lošinj, da wollten wir nun bleiben, ursprünglich eine Woche und dann wieder zurück, aber den siebten Tag, auch noch den Sonntag, an dem Gott ruht, hatte ich abgeknapst, um drei zusätzliche Wochen dranzuhängen, die alle Orte am Mittelmeer, die mir mal etwas bedeutet hatten, zu vereinen. Ein kühner Plan? Ein bescheuerter Plan? – Ein Plan!

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Lautlos | #28

Was macht man, wenn es nichts zu sagen gibt? Man schweigt. Ich doch nicht! Und eigentlich niemand: Wenn alles überflüssige Gerede in den Hälsen der Sprecher stecken bliebe, herrschte eine wundervolle Ruhe, schon deshalb, weil die Menschheit erstickt wäre. Kein Palaver.

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Höhepunkte und Amokläufe | #29

Wir hatten es einfach schön, was am Anfang des Unterwegsseins immer Probleme aufwirft: Wird der Rest der Reise ein Abstieg werden, ein Niedergang? Höhepunkte habe ich immer angestrebt und vermieden.

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Die Endlosigkeit des ewigen Augenblicks | #30

Am Samstag ließen wir uns vom Hotel-Minibus den gesperrten Weg auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht zur ‚Lanterna‘ fahren. Der Name hat wohl nichts mit Beleuchtung zu tun.

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Hirn contra Schleimhaut | #31

Gegen 20 Uhr nehmen wir unsere Plätze auf der Terrasse ein und bei Harfenmusik unseren Aperitif. An unseren Dinner-Tisch begeben wir uns erst, wenn es ringsherum schon genügend Menschen gibt, deren Aufmerksamkeit wir erregen können. An schwachen Abenden sind das bloß die Kellner. Dafür ist das Risotto mit Foie gras unschlagbar.

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Alle wollen Zadar | #32

Eigentlich hatte ich am Sonntag im ‚Boutique Hotel Alhambra‘ eintreffen und am Montag wieder abreisen wollen. Mit einer Woche dazwischen. Dann fand ich aber Sonntag bis Sonntag formal befriedigend genug. Es war ohnehin der längste Aufenthalt der Reise, die einzig geplante Neuentdeckung, und es war gut, dass es so gut gewesen war.

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Ich stürze Rechte! | #33

Rührend! Silke und Rafał wollten mir so viel wie möglich von Zadar zeigen. Zugegeben, ‚Besichtigung‘ hatte ich wirklich in die Vormittagsplanung geschrieben, aber wir kamen trotz Rafałs Unverfrorenheit von keiner Seite mit dem Auto an die geschlechtliche Mitte des Körpers heran, der Zadar früher mal war.

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Die Vermeidung beider Weltkriege | #34

Für die bosnischen Grenzbeamten war natürlich Rafałs polnischer Pass erregender als Silkes und mein langweiliger deutscher, aber viel Aufhebens machten sie trotzdem nicht. Das Ganze ist ohnehin lächerlich, auch wenn die bosnischen Zöllner nicht lächelten, um ihre Bedeutsamkeit nicht infrage zu stellen.

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Benedikts Eier | #35

Gegen viertel nach neun klopft Rafał immer an meine Hotelzimmertür. So hat es sich eingebürgert. Um 9.16 Uhr werde ich unruhig, wenn er noch nicht geklopft hat. Um 9.17 Uhr wehre ich eine Panikatacke ab, und 9.19 Uhr ist es noch nie geworden.

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Wunderschön und völlig anders | #36

Den Nachmittag verbrachte ich in meinen Gemächern. Das ist Luxus: Die Sonne scheint, aber man braucht nicht rauszugehen. Für solch ein Verhalten wurde ich früher ‚Stubenhocker‘ genannt.

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Aus der Keule geschnitten | #37

Wenn alles schön ist, gibt es nichts zu berichten. Katastrophen sind dagegen fast immer erzählenswert. Der Mittwoch war so ein Tag dazwischen: nichts los, aber trotzdem unbefriedigend. Grund: Um elf Uhr vormittags mussten wir aus unseren Zimmern, um zehn Uhr abends sollte unsere Fähre ablegen.

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Pfahl im Fleisch | #38

Bari: Ganz extrem bildungsferne Leser mögen jetzt womöglich denken, wir hätten inzwischen österreichisches Fahrwasser verlassen.

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Wallende Gewänder | #39

Obwohl – oder weil? – ich Einzelkind war, waren meine Eltern nicht das, was man heute ‚Helikopter-Eltern‘ nennt. Ich durfte alles, und Überwachung per Smartphone gab es ja sowieso nicht.

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Handkuss | #40

Irene hatte inzwischen Erika kennengelernt, bei ‚Horn‛ am Kurfürstendamm. Damals war ‚Horn‛ das prominenteste Modehaus Berlins, und Erika war dort Empfangsdame.

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Du Spiegel der göttlichen Heiligkeit | #41

1967 ließ ich Sizilien weg und machte ansonsten die Reise noch einmal mit Harald und Hans-Dieter im farblosen VW Käfer meiner fahrscheuen Mutter. Wir drei waren zusammen in derselben Abitur-Klasse gewesen, vorher auf Klassenreise in der Würzburger Residenz und als Rokoko-Figuren im Park von Veitshöchheim.

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Steuerbetrug, mal anders | #42

Schon im Hamburger Winter hatte sich herausgestellt, dass es das Hotel ‚Grotta Palazzese‛ nicht mehr gab. Silke, rührig wie immer, hatte einen Ersatz-Vorschlag, der mir gefiel, und so befanden wir uns also am Donnerstagmorgen gegen halb zehn erst auf dem Weg zu und dann auf der Suche nach dem Hotel ‚Borgobianco‛.

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Nein, nein | #43

Ein Tag, der der Entspannung dienen sollte, was er bis zum Abend auch tat. Wir schlugen unser Hauptquartier am Pool auf; Silke aalte sich im grellen Licht: Ihr Ehrgeiz verlangt nach gleichmäßiger Bräunung sämtlicher Seiten, die sie hat.

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Maßnahmen | #44

Das Leben. Man darf sich nicht nur auf die pralle Mitte konzentrieren, sondern man muss sich mit den ausfransenden Rändern beschäftigen: die gesunde Abtreibung und den wünschenswerten Tod. Jede Schwangere muss, reine Routine, auf das Planungsamt gehen und unterschreiben, dass sie das Kind will.

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Frechheit um halb zehn | #45

Wir fuhren durch völlige Finsternis, umso erleuchteter war der Ort. Ganz Apulien schien sich an Buden vorbei dem Mark entgegenzuschieben, dementsprechend gesperrt war alles, was uns den rechten Weg gewiesen hätte.

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Spinnen Moslems, Juden und Christen? | #46

Ein Tag Pause, das musste reichen. ‚Unterwegs sein‘ heißt, unterwegs zu sein und nicht, sich an einen Ort zu binden wie an einen Marterpfahl.

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Ein Abend verändert mein Leben | #47

Friedrich II. scheiterte mit dem Versuch, seine universelle Kaiseridee zu verwirklichen, an den norditalienischen Städten und am Papst. Aber durch seine Forderung nach einer von der Kirche unabhängigen Staatsgewalt war er ein Wegbereiter der modernen Monarchien in Europa.

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Geschmacklosigkeiten mit weißen Handschuhen | #48

Am Wochenende zuvor war Roland mit Karin in eine Wohnung in Steglitz gezogen, und er nahm mir, oder vielleicht auch Karajan, mit Recht übel, dass wir uns nicht eine Woche früher kennengelernt hatten: Dann hätte er sich diesen Umzug sparen können, denn Ende Januar zog er zu mir nach Hamburg. Es war ja tatsächlich – ‚Liebe‘ ist so ein Wort ... – Besessenheit oder Besitzenwollen auf den ersten Blick gewesen, bei mir jedenfalls.

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Fast am Ziel

Champagner-Muffel | #49

Haltlos fuhren wir dieses Mal an Avelino vorbei; Silke döste, Rafał achtete auf den Abzweiger nach Salerno, und ich behielt meine Erinnerungen für mich, zumal die Gegenwart genug zu bieten hatte: Wenn wir die Autobahn erst verlassen würden, wären Rafałs Fahrkünste gefragt.

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Kugelstoßerin im Hosenrock | #50

Dass alles einfach sein soll, ist ein verständlicher Wunsch. Reisen ohne Grenzkontrollen und ohne unterschiedliche Währungen ist angenehm und spart Zeit.

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Singende Sirenen | #51

Heute ist der erste Tag des Monats und gleichzeitig der erste Tag der Woche. Das befriedigt meinen Ordnungssinn. Es wäre doch wunderbar, wenn alle Monate 28 Tage hätten.

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„In solchen Kreisen“ | #52

Sorrent ist schon im 8. Jahrhundert vor Christus von den Phöniziern gegründet worden und war bereits 200 Jahre vor ihm Sommersitz römischer Aristokraten. Davon sahen wir nicht so viel. Wir sahen vor allem Menschen und Autos, aber keine Parkplätze. Rafałs übliche Chuzpe nutzte auch nichts.

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Häppchenweise erwachsen | #53

Zum Leidwesen meiner Mutter entdeckte ich nach unserer Rückkehr in Hamburg, dass es noch sehr viele Männer gab, die ich noch nicht kennengelernt hatte. Schon auf Palis und meiner gemeinsamen Geburtstagsfeier Ende Juni wurde mir das bewusst.

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Sturm und Drang und Einbahnstraßen | #54

‚Weggehen oder Bleiben‘, das ist das eine: aktiv oder passiv. Das andere ist ‚Eintreffen oder Weggehen‘, beides aktiv. Unser Deutschlehrer Herr Wiechers war die Verkörperung von ‚Sturm und Drang‘. Er war es, der mich nach den Pauker-Attrappen der Mittelstufe feurig durchs Abitur ritt.

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Alles über Teresa | #55

Alles ist – bis zu einem gewissen Grade – rückwärtsgerichtet; denn die Mittel, die man nutzt, um etwas darzustellen, hat man in der Vergangenheit erlernt. Ohne Bezüge zu dem, was war, kann man nicht einmal einen Science-Fiction-Film drehen. Diese anfechtbare Überlegung dient mir immer dazu, nach bestem Wissen und mit nicht allzu schlechtem Gewissen hemmungslos in die Vergangenheit abzutauchen.

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Die Hände im Schoß, die Füße im Becken | #56

Unsere Anlaufstelle in Rom war das Hotel ‚Condotti‘. Bereits 1967 traute ich mich ins ‚Spundloch‘, nie solo, aber in ‚Damenbegleitung‘ und sogar mit Harald. Allein hätte ich nicht gewagt, die Stufen zu diesem Etablissement herabzusteigen, denn da verkehrten Männer, die mit Männern verkehrten ...

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Noch mehr über Teresa | #57

Zeit, wieder in den August 2016 zurückzukehren: Rafał verließ die Autostrada und uns das Glück. Über Schlaglöcher und Schienen holperten wir in die Hauptstadt der Campagna ein: ‚Vedi Napoli e poi muori‘.

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Benedikt, ohne Eier | #58

Als Rafał ‚Montecassino‘ auf dem ‚Uscita-Schild‘ las, sagte er: „Das haben Polen erobert“, und riskierte einen Blick nach rechts in die Berge. Dass er so etwas weiß!

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Marsch auf Rom | #59

Eine Stunde später begannen wir unseren ‚Marsch auf Rom‘. Er verlief etwas geordneter als der Einzug in Neapel, zumal das Navi uns ohne Federlesens zum eingegebenen Parkhaus führte. Kaum waren wir am Colosseum, da erkannte ich jede Straße wieder. Wieso auch nicht? Oft genug war ich hier gewesen, und die Palazzi sind keinen Wolkenkratzern gewichen.

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Caffè Greco | #60

Zu leben, das stellt keinen Wert an sich dar. Da sein zu dürfen, bedeutet oft nur, da sein zu müssen. Die Religionen verlangen immer Dankbarkeit für diesen Zustand. Ich wäre so gern abgetrieben worden! Na ja, zu spät, stattdessen war jetzt der letzte Tagesordnungspunkt für heute dran: das ‚Caffè Greco‘.

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Die Würde der anderen | #61

Aufwachen und wissen: Ich bin in Rom! Gleich fühlte ich mich, als hätte ich das Schicksal, das diese Begegnung gar nicht mehr für mich vorgesehen hatte, draufgängerisch überlistet. Aufwachen und wissen: Ich bin nicht allein. Zwischen 1975 und 1990 bin ich zu Hause nie allein aufgewacht (unterwegs ziemlich oft auch nicht). Inzwischen kann ich mich gar nicht mehr erinnern, wann ich wohl zuletzt im selben Zimmer mit jemandem geschlafen habe.

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Cowboys, Kaiser, Zwillinge und Gänse | #62

Am meisten freute sich Rafał auf das Pantheon. Wir wälzten uns hinein und wieder hinaus. Wir waren da gewesen, einschließlich Selfie, also verbrieft.

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Wie Schweinejauche prima abläuft | #63

Um eins hatten die Pferde uns wieder beim Hotel ‚Condotti‛ abgeliefert. Nun sollte es eine knappe Rast in der Nähe geben.

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Eintracht bei Otello | #64

Die Sonne war höflich genug, etwas zu sinken; die Minibar gab ein Gin- und ein Tonic-Fläschchen frei, und ich blätterte im ‚Spiegel‘ vom Allgemeinen ins Besondere.

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Die Stadt und ich | #65

Dass, wenn ich ins Bett gehe, Rafał das noch lange nicht tut, weiß ich. Ich spüre das Laken unter mir und horche in mich hinein, um zu stöbern, ob ich da wohl in einer unaufgeräumten Ecke ein Quäntchen Neid entdecke, aber ich fördere höchstens etwas Nostalgie, na ja, nicht zutage, aber in die Nacht. Damals, als ich ... wie ich da ..., oh Gott, und dann ... so viele Enttäuschungen, so viele Siege. Nichts hat mich nachhaltig verwundet, nichts hat mich nachhaltig geheilt.

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Roter Teppich | #66

Viel eher als von mir erwartet kamen Silke und Rafał an unseren Tisch. Engelsburg und Vatikan lagen hinter ihnen, die Getränkekarte lag vor ihnen. Erstaunlich: Manche Besucher brauchen mehrere Tage, um sich Roms bekannteste Attraktionen anzueignen, manche Schaulustige nur den Reiseführer, besonders, wenn er hübsch ist.

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Abend der Gaukler | #67

In der Nachmittagssonne auf der Terrasse sitzen und alles an sich vorbeirauschen lassen: das, was man unterlassen hat, und das, was man getan hat. Mein Hirn ist das Kanu, an dem im Blut alles vorbeischnellt: das Erreichte und das Versäumte.

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Überwältigt am Ende der Welt | #68

Die Abreise aus Rom verlief unproblematisch. Meiner Kreditkarte wurde vertraut, Giuseppe wurde verabschiedet, das Gepäck lustlos, aber verlustlos verstaut und der Wagen unbeschädigt aus der Parkgarage verbracht. Auf der Ausfallstraße vermutete ich erleichtert, dass ich dem Schicksal wohl ein Schnippchen geschlagen hatte. Ganz sicher kann man da ja nie sein.

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Gerechtigkeit für alle | #69

Den Nachmittag verbrachte ich in meinen weißen Räumen, wo sonst? WLAN klappte wie fast überall erst nach allen möglichen Manipulationen. Einfach Kennwort eingeben und loslegen, das geht ganz selten mal – entweder mein PC ist zu alt oder ich bin es.

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Ein Triumph | #70

Als ich erst meine Augen öffnete und dann auch die Gardinen, sah ich, die Welt war wieder im Lot: blauer Himmel. Die beiden Balkone meiner Luxus-Suite boten darüber hinaus einen besonderen Komfort: Ich hatte Anschluss an die Öffentlichkeit. Gleich unter meiner Balustrade wurde geräuschvoll gefrühstückt.

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Eine Frage der Perspektive | #71

1982 hatte Roland sein Jura-Studium genauso an den Nagel gehängt, wie ich meins schon viel früher geschmissen hatte. Nachdem wir im Mai auf Mykonos gewesen waren, hatte er seine Praxis eröffnet.

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Die Steigerung der Steigerung | #72

Ich könnte doch auch einfach nur glücklich sein. Der größte Teil meines Lebens liegt hinter mir, und es sind ‚unterwegs‘ nur zwei richtig schlimme Dinge passiert. Dass Menschen, die über achtzig sind, sterben, muss man hinnehmen.

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Rohrschneider mit Schneidrädchen | #73

Den Nachmittag verbrachte ich wie den Vormittag auf meiner Terrasse und sah der Sonne dabei zu, wie sie ihre seit Millionen von Jahren festgelegte Bahn zurücklegte; sie wurde angebetet, verehrt und verflucht und ist doch nichts als ein Stern.

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Der schöne Wahn | #74

Rafał war noch immer tief geknickt wegen der unscheinbaren kleinen Beule in unserem herrschaftlich großen Auto, und ich wog ab, während er meinen unrettbar siechenden Leib balsamierte, ob es ihn trösten würde, wenn ich ihm „Ist doch nicht so schlimm!“ sagte.

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Aus dem Krater | #75

Der Weg zum Ziel führt über einen Bergkamm in das dünn besiedelte Tal der Albegna. Dort steigt aus einem Krater etwas auf, das mit dem Wort ‚Wasser‘ ziemlich freundlich beschrieben ist. Es stinkt und brodelt, 500 Liter pro Sekunde. Aber es kommt nicht aus der Hölle, sondern ganz unschuldig aus dem Himmel: Regenwasser vom Monte Amiata.

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Margherita heiratet schon wieder | #76

Auch bei unserem knappen Mittagsmahl setzte sich Silke wohltuend von den Bademäntlern ab, obwohl sie sich nicht hatte umziehen können, sondern noch Reisekleidung trug, während ich bereits die Annehmlichkeiten eines eigenen Hotelzimmers hatte auskosten dürfen. Bademäntel am Esstisch findet Silke rücksichtslos gegenüber Gästen in Rock und Bluse und in einem Hotel dieser Kategorie eigentlich nicht hinnehmbar. Seh ich ein. Aus der langgestreckten ‚piscina‘ drangen würzige Schwaden an unseren Tisch, beeinträchtigten aber den Geschmack der Speisen kaum. Nach wenigen Minuten nimmt man den Schwefel wie eine Zutat wahr, ohne die der Luftstrom fade röche, jedenfalls mir geht es so.

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Die Natur | #77

Die beiden letzten unserer achtundzwanzig Reisetage, die der reinen Entspannung dienen sollten, lagen vor uns, und bis zum Abend des ersten Tages wussten wir nicht, dass es sogar der allerletzte sein würde ...

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Außen kross und innen blutig | #78

Das Faustische habe ich immer in mir zu entdecken versucht und dachte meist: Armer Mephisto, an mir hättest du dir die Zähne ausgebissen. In Wahrheit hätte Mephisto seinen Spaß an mir gehabt: Wie oft habe ich für einen durchgeknallten Augenblick alles riskiert! Aber bis auf den heftigen Schlaganfall ist mir nie etwas Schlimmes passiert, immer nur den anderen.

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Fast am Ziel

Was mich am Sport begeistert | #79

Ach nee! Das Wetter war schlecht und machte so meinen Plan zunichte, im Liegestuhl ausgestreckt, abwechselnd die ‚Weltgeschichte to go‘ und die Umherwandelnden zu verfolgen: mit neidischem Blick, aber entspannter Seele. Da musste ich mir stattdessen etwas Raffinierteres ausdenken und tat das auch: ein Ausflug nach Pitigliano.

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