Bis eben habe ich sorgen- und brustfrei in der Sonne gelegen; jetzt ist sie zwischen Zypresse und Palme hinter dem Bergmassiv verschwunden. Lebte ich hundert Meter oberhalb meines Gartens in Obermais, dann könnte ich mich noch bescheinen lassen. Ungerecht. Die Glocken aller Kirchen läuten das Wochenende ein: 18.00 Uhr. Feierlich klingt das, nach fernen Zeiten ohne Stress, Vollnarkose und Facebook.
Es ist ganz einfach. Alle Menschen müssten bloß gleich schön, gleich klug und gleich reich sein. Dass das jemals klappen könne, glauben nicht mal mehr die Kommunisten, und die Christen haben einen Zustand solch himmlischer Gleichheit auch aufs nächste Leben ausgelagert. Gleiche Chancen für gleiche Qualifikationen: Mehr geht nicht. Bildung für alle. Wenn sie wollen. Elternhaus, Werte, Begabungen. Alles schwierig.
Foto: Oleg Golovnev/Shutterstock
Sicher, lieber krank und glücklich als gesund und unglücklich, aber Hauptsache, du bist ein guter Mensch. Dass mit solchen Sprüchen niemandem geholfen ist, hilft nichts; sie werden trotzdem gesagt.
Natürlich hat ein Aborigine ein anderes Schönheitsideal als ein Graffiti-Sprayer oder ein Kuckucksuhrenschnitzer. Zu wissen, wer den Zweiten Weltkrieg verlor, halten manche für klug, andere finden es klüger, die Straßenseite zu wechseln, wenn ihnen ein betrunkener Schläger entgegenkommt. Für jemanden, der auf der Parkbank schläft, ist jemand, der ein Konto hat, reich. Investmentbanker halten Hartz-IV-Empfänger für arm, wenn auch überbezahlt. Trotzdem finden sie alle Nofretete schön, Einstein klug und Bill Gates reich. Erheblich ist aber nicht der verschwindend kleine Teil von Einsichten, auf den sich alle einigen können, sondern die Unmenge an Auslegungen der Gegebenheiten, die zu Kriegen, Kompromissen und weiter führen.
Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons
Nicht nur Blinde sagen, dass Schönheit keine Vorteile brächte. Die Hässlichen sagen es, weil es für sie Programm ist, die Schönen sagen es, um sich nicht zu verraten – mit so einem Hauch von Koketterie. Denn alle wissen, Schönheit kommt besser an: beim Klassenlehrer, beim Verkaufsgespräch und beim Heiratsantrag. Zum Ärger der Vordenker wissen inzwischen auch die Nachkommen der Hinterwäldler, dass nicht alle hübschen Frauen doof und nicht alle hübschen Männer schwul sind. Wer also in den Spiegel sieht und sieht, schön ist nur sein Herz, der kann sich damit trösten, dass Narziss ertrank, und er kann sein eigenes Aussehen ergeben hinnehmen, was zwischen Moskau, Cincinnati und Yokohama nicht mehr üblich ist, oder er kann sagen: Die Mona Lisa lächelt so blöd und ist trotzdem berühmt.
Da wird gepierct und ‚tatoot‘, und es hilft ja auch, sieht allerdings bei schönen Menschen schöner aus, wenn auch nicht ganz so vorteilhaft wie ohne solche Verzierungen. Wenn ich nicht schön sein kann, dann bin ich eben schrill, war schon im Zweistromland und im Rokoko die Alternative. Früher trauten sich solche Extravaganzen nur die, die sich das gesellschaftlich leisten konnten. Heute ist das genauso, also leisten es sich jetzt alle.
Unauffällig ist hässlicher als hässlich, behauptet der Geist der Zeit, dem man sich in die Arme werfen, verweigern oder mit ein paar grellen Strähnen im Haar gewachsen fühlen kann. Gruselig Anzusehende können bei 10-Euro-Jobs und als Quiz-Kandidaten auf einen Mitleidsbonus hoffen, aber wenn es ernst wird, schon nicht mehr: Das Fernsehpublikum sollte neulich nach ausgiebigen Vorentscheidungen den klügsten Deutschen küren. Der, der mit Abstand die meisten richtigen Antworten blitzschnell gab, war über fünfzig und unattraktiv. Er hatte keine Chance. Obwohl ‚das Erste‘ überwiegend von alten Leuten gesehen wird, die nicht bei jeder Gelegenheit zwanghaft zum Smartphone greifen, bekam der Vielwisser nicht mal fünfzehn Prozent der Stimmen. Die große Mehrheit entschied sich für einen jungen Hübschen: Dann klappt’s auch mit der Intelligenz. Klugheit ist nichts, was man hat, sondern etwas, das einem zugeschrieben wird, erläuterte der TV-Wissenschaftler das Phänomen. Ich habe auch immer als meine intelligenteste Leistung angesehen, anderen Leuten vorspielen zu können, dass ich intelligent sei. Die Fähigkeit, seine Umwelt zu blenden, ist bei mangelnder Klugheit das, was bei mangelnder Schönheit die Garderobe ausgleicht. Banken fallen lieber auf gewiefte Großbetrüger herein, als dass sie langweiligen Kleinunternehmern Kredite gewähren. Chic kommt besser an als Wahrheit, darum gibt es immer noch mehr Poster von Che Guevara als von Walter Ulbricht, der wenigstens mal mit 99 Prozent aller Wählerstimmen Regierungschef war und neben seinem Akzent ja wohl auch eine Vision hatte. Nur will kein Mensch blasse Visionäre. Mancher hat Glück, wie Hitler: In den haben die Begeisterten etwas hineingesehen, das sich den Nachkommen nicht mehr erschließt.
Foto links: gemeinfrei/Wikimedia Commons | Foto rechts: Bundesarchiv Bild 183-H1216-0500-002, Adolf Hitler, CC BY-SA 3.0 DE
Dass Reichtum unabhängig macht, ist Gemeinplatz, aber besitzlos zu sein, macht natürlich mindestens so unabhängig, nicht vor Steuerfahnder, aber vor Dieben. Wie abhängig bin ich von der Meinung anderer, den Aktienkursen, meinem Leibkoch, meinem Laptop, Elektrizität, Wasser? Die Frage nach der gerechten Verteilung der Vermögen stellt sich angesichts der weltweiten Finanzkrisen brennender als nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks. Umverteilung soll immer stattfinden, und behauptet wird: von oben nach unten. Heuchelei und Anmaßung halten sich dabei die Waage. Gerecht wäre es, wenn jedem nur das zustünde, was er sich erarbeitet hat, wobei Formel-1-Sieger und Fensterputzer den gleichen Lohn erhalten, besonders, wenn sie weiblich sind; Elternschaftsurlaub steht jedem Erziehungsberechtigten zu, auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kindern, die aus künstlich befruchteten Eizellen hervorgegangen sind, die keiner Präimplantationsdiagnostik unterworfen waren, weil diese Methode eine Herabwürdigung der bereits lebenden Krüppel dargestellt hätte. Außerdem steht jedem Menschen, der sich auf dem Territorium eines Staates befindet, bis zu seiner Ausweisung, die wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde unzulässig ist, ein Grundbetrag zur Lebenssicherung zu. Bis zu seiner Volljährigkeit erhält jeder, der von dafür abgerichteten Beamten aufgespürt wird, als Förderungsmaßnahme den doppelten Betrag. Sollte doch jemand übersehen worden sein, kann er sein Recht ein- und seine Eltern verklagen, wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Unzurechnungsfähigkeit geistig behinderter Eltern strafmindernd berücksichtigt. – Das ist der eine Standpunkt.
Der andere Standpunkt: Gerecht wäre es, wenn alle die gleichen Steuern zahlten: jeder 20.000 Euro zum Beispiel. Etwas weniger gerecht, aber noch vertretbar wäre es, wenn alle den gleichen Prozentsatz an Steuern zahlten, etwa 25 Prozent. Wer 1.000 Euro verdient, zahlt 250 Euro, wer 1.000.000 Euro verdient, zahlt 250.000 Euro. Natürlich schlägt sich das im Wahlrecht nieder. Wer keine Steuern zahlt, den Staat und die Gemeinschaft also finanziell nicht unterstützt, der darf folgerichtig auch nicht wählen. Wer bis zu 20.000 Euro zahlt, hat eine Viertelstimme, bis zu 50.000 Euro eine halbe Stimme, bis 100.000 Euro eine ganze Stimme. Danach wird – kein Gesetz ist ganz gerecht – pauschaliert, und es gibt für alle die, die mehr als 100.000 Euro Steuern zahlen, nur zwei Stimmen, egal wie hoch der tatsächliche Betrag ausfällt. Eine harte Strafe für Steuerflüchtlinge. Auf der anderen Seite sehr milde, dass Dieter-Bohlen-Gucken keinen Einfluss auf das aktive Wahlrecht hat. Was ist Demokratie? Ja, Diktatoren aller Länder, vereinigt euch, und gebt es zu: Jeder Staat muss sich an seinem Rechtssystem messen lassen. Muss er?
Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons | Titelillustration mit Material von: Wikimedia Commons
Ich habe deinen ganzen Text gelesen und immer wieder mitgenickt. Hängen blieb „brustfrei“. Soll ich diese Aussage mit Mitleid wahrnehmen oder überlesen? Brustfrei: was verbirgt sich alles in der Brust, sichtbar nach außen gewölbt in verschiedenen Größen oder im Verborgenen mit Herz oder zum Atmen? Ich kann mich nicht frei damit abfinden.
Wie gut, dass nicht alle Menschen gleich schön, gleich klug und gleich reich sind. Wie langweilig wäre das. Wo ist denn da die Reibung? Da gäbe es bei DSDS ja nur Gewinner. Und in der Musik müsste man sich alles anhören was produziert wird anstatt der paar Alben, die einen irgendwie interessieren. Und jeder müsste jedem auf Instagram folgen. Und von morgens bis abends Twitter durchlesen, weil alle Tweets so schlau und relevant sind. Kriege und Hungersnöte und so gäbe es natürlich auch nicht. Klingt trotzdem viel zu anstrengend.
Demokratie ist wenn man Diether-Bolen-Gucker aushalten kann. Oder muss. Und wenn gleichermaßen Platz ist für Dschungelcamp und Literarisches Quartett ist. Und wenn man sich über Cristiano Ronaldo’s Gehalt und über den faulen Hartz IV-Empfänger aufregen kann. Und wenn man sagen kann was man Scheisse findet. Und wenn man als Journalist nicht gleich ins Gefängnis muss. Oder als Fake News diffamiert wird. Aushalten, Aufregen und Aufbegehren sind die magischen Wörter.
Also, dass sich heutzutage jedermann leistet extravagant zu sein, möchte ich mal stark bezweifeln. Im Gegenteil! Es wird doch alles immer gleicher und angeglichener und langweiliger. Mainstream ist in. Massenware ist gefragt. Die letzte Sinus-Jugendstudie kam doch zu dem wahnsinnig schrecklichen und erschreckenden Ergebnis, dass die heutige Jugend am liebsten so sein will „wie alle“. Individualität war gestern. Es kommt doch nicht von ungefähr, dass die AfD stark ist. Oder dass Trump die Präsidentenwahl in den USA gewonnen hat. Oder dass es wieder vermehrt Angriffe auf Homosexuelle gibt. Weniger Toleranz, weniger Vielfalt, geschlossene Grenzen und alles bleibt beim Alten. So wird’s gewünscht. „Wir schaffen das“ ist der einzige Angriffspunkt der ewigen Frau Merkel in der diesjährigen Bundestagswahl. Ich habe das Gefühl unsere Gesellschaft war schon einmal sehr viel weiter…
Würde ich genau so unterschreiben. Jetzt, wo es uns allen soweit ganz gut geht, wollen wir, dass das auch bitte schön so bleibt. Da ist’s mit der Toleranz dann nicht so wahnsinnig weit her.
Um es nochmal ironiefrei zu formulieren: Extra-vaganz für alle ist natürlich nur noch Vaganz. Als Extra muss das Arschgeweih in der Zahnlücke herhalten. „Ich will ganz was Besonderes sein, bloß auffallen will ich nicht. Lieber im Schwarzen Block als weiß am Strand …“
Ironie hin oder her…man will doch heute nicht mal mehr was Besonderes sein. Wie traurig.
Spannende Fragen. Was ist denn nun gerecht? Wenn der, der Tag und Nacht für seinen Erfolg arbeitet, irgendwann belohnt wird oder wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen auch den Faulenzer und Sozialschnorrer gemütlich absichert? Die Antwort liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Naja, vielleicht nicht ganz in der Mitte. Damit sollte sich die kommende Regierung noch einmal auseinander setzen. Frau Merkel würde dazu bestimmt entspannt ‚Wir schaffen das‘ sagen. Na dann.
Da stellt sich halt auch wieder einmal die Frage: ‚Wieviel Demokratie verträgt ein Land‘? Muss ein Dieter-Bohlen-Gucker wählen dürfen? Warum sind geistig behinderte Menschen von der Wahl ausgeschlossen, Nazis mit einem IQ von 56 aber nicht? Muss es zu jedem Thema Volksentscheide geben? Sollten Politiker (zumindest im Optimalfall) nicht ein wenig mehr über die zu verhandelnden Themen wissen als der ‚Normalbürger‘?
Wie gerecht ist es bitte, wenn alle 20.000 EUR zahlten??? Bitte was? Ich glaub Herr Rinke vergisst ein paar Millionen Menschen, die nicht einmal das Brutto verdienen, obwohl sie tagtäglich arbeiten. Unverschämt! // Sozial gerecht ist, wenn Wohlhabende unterstützend zur Gesellschaft mehr dazusteuern, als diejenigen, die wenig haben, gleichsam belastet werden.
Liebe Frau Maylak,
Sie lesen sehr gerecht, aber vielleicht nicht ganz gründlich. Ich stelle doch beide Positionen „die einen“ – „die anderen“ als Karikatur gegenüber. Dass es weder so noch so geht, ist selbstverständlich. Vielleicht formuliere ich meine Entrüstung etwas weniger direkt, als Sie es gewohnt sind. Das tut mir leid. Meine Art, die Welt zu betrachten, wird das trotzdem nicht ändern, und da ich nach meinem Schlaganfall die Keule nicht mehr schwingen kann, um die Welt zu verbessern, bleibt mir wenig mehr, als die Tastatur mit der linken Hand zu bedienen, um mit meinen Gedanken andere glücklich, traurig oder kampfeslustig zu machen,
herzlich,
Hanno Rinke