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0909

KALBSGULASCH

„Der Sinn des Lebens“ ist – abgesehen von Monty Python – nur den Gläubigen bewusst, nicht den Denkern. Das braucht Philosophen, Schwätzer, schweigende Mehrheiten und zu Koalitionen verurteilte Regierungen nicht davon abzuhalten, sich und ihren Kindeskindern eine atomspaltungsfreie Welt mit Maissprit aus afrikanischen und südamerikanischen Demokratien zu wünschen und überhaupt jedes einzelne Leben so gestalten zu wollen, wie es all den vielen Bakterien, Schildkröten und Menschen gefällt – denen, die dieses Dasein führen müssen, aber auch denen, die ihnen dabei zusehen und beurteilen, ob Gerechtigkeit, Umweltschutz und Toleranz den betrachteten Gruppen von Völkern den eigenen, frommen Wertmaßstäben entsprechen.
Daneben muss man aber auch mal an sich selbst denken: Nahrung, Kleidung, Karriere – Themen von erheblicher Bedeutung für Schlachtvieh, Armani und Frauenquote. Jedes einzelne dieser Themen reicht aus, um sich ausschließlich mit dem Diesseits zu beschäftigen und sogar zu behaupten, man dächte dabei auch oder sogar nur an die Zukunft. Deren Eigenart ist es aber nun mal, dass sie zwar geplant werden muss, sich aber nicht planen lässt.

Das beginnt schon bei Kleinigkeiten: Ich lade meine Nachbarn mit Kindern am Abend zum Kalbsgulasch ein. Bei meinem Fleischer, der sonst immer alles hat, gibt es nur Rindsgulasch. Ich vertraue darauf, dass bei klugem Würzen die Gäste, die sowieso mehr meinen Worten nachlauschen sollen als dem Kuhgeschmack, den Unterschied nicht bemerken werden. Jedoch: Die Mutter meiner Nachbarin hat gegen Mittag etwas ereilt, was eine rüstige, ständig vorbeischauende und durchaus Sensation liebende Bekannte der Muttermutter meiner Nachbarin telefonisch mitteilte; meine Nachbarin muss die knapp 90 Kilometer nach Bad Irgendwas fahren, um zu überprüfen, ob es sich um einen Kreislaufzusammenbruch oder um einen hysterischen Anfall handelt. Ihr Mann ist auf dem Weg vom Büro zu seiner Nachmittagsgeliebten beim Zusammenstoß mit einem überfallenen Gefangenentransport tödlich verunglückt; der Sohn hat aus Schulfrust wegen der strengen pädagogischen Maßnahmen aufgrund einer Amokschützin aus seiner Klasse die Einladung glatt verschusselt, und seine Schwester ist Veganerin, isst also bloß die nackten Kartoffeln; gut, dass ich keine Eiernudeln gemacht habe.

Wenn aber bereits solche unvorhersehbaren Missgeschicke einem Gastgeber sein kleines Abendessen vermiesen können, wie sieht es da erst aus, wenn es um Dinge geht, die ganze Stadtteile oder die Menschheit betreffen? Nicht besser. Einige Menschen, zu denen ich mich zähle, versuchen, dem Problem mit Dramaturgie zu begegnen: Alles läuft so ab, wie es richtig ist, weil ich es mir richtig mache. (Falls Gott das nicht schon für mich getan hat. Dann habe ich gemäß seiner Fügung den ursprünglich vorgesehenen Zug verpasst, um im nächsten Zug einem bestimmten Menschen zu begegnen – oder nicht zu begegnen, das ist ja genauso schicksalsentscheidend. Anstelle von Zügen können auch fiebrige Erkältungen, verlorene Schlüssel und Erdbeben zur Wende beitragen. Wichtig ist, das alles wichtig zu nehmen und richtig einzuordnen.)

Foto oben links: Fiedels/Fotolia | Foto oben Mitte: fotomek/Fotolia | Foto oben rechts: TeamDaf/Fotolia | Foto unten links: ladysuzi/Fotolia | Foto unten Mitte: Robert Kneschke/Fotolia | Foto unten rechts: Antonio Nardelli/Fotolia

Wie auf alles andere bin ich auch auf „Die Brücke von San Luis Rey“ von meiner Mutter aufmerksam gemacht worden. Das Buch beeindruckte mich mit fünfzehn so sehr, dass ich darüber einen Vortrag in der Schule hielt. Ich empfand mich zu jener Zeit noch als gläubigen Katholiken, den die Verbrennung des als Chronist fungierenden Mönches schmerzte, weil als Grund für das Autodafé galt, dass er die Frage nach dem ‚überindividuellen Lebenssinn‘ (Wikipedia) zu stellen gewagt hatte.

Und doch: Beim Einsturz der Brücke starben alle zum genau richtigen Zeitpunkt ihres Lebens, lässt sich aus den Biografien ableiten. Damals nahm ich mir vor, es dereinst genauso hinzubekommen, und bis es so weit wäre, immer so zu leben, dass sich der Zeitpunkt dieses entscheidenden Augenblicks für Gott und für mich von Jahr zu Jahr deutlicher herauskristallisieren würde. Immer habe ich versucht, aus Zufall ‚Geschick‘ zu formen und im willkürlich Erscheinenden das übergeordnete Notwendige klar zu erkennen. Damit das besser klappte, habe ich Tagebücher, Bücher, Gedichte und Theaterstücke geschrieben, ich habe Songs und Sinfonien verfasst, bei denen es in meiner Macht stand, Form und Inhalt zu bestimmen, und ich habe mir den Ablauf des Lebens in meinen Filmen so zurechtgebastelt, dass er sinnstiftend rüberkam.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Weil ich diese Eigeninitiative für ein notwendiges Lebensprinzip halte, erlebe ich es immer mit empörter Missbilligung, wenn ich Menschen fragen höre, warum Gott ein ihnen geschehenes Leid zugelassen hat, oder wenn ich das alberne Wort ‚Warum‘ auf einem Kindergrabstein lese. Wie furchtbar wichtig nimmt sich der Fragende? Alle paar Minuten passiert überall auf der Welt jemand anderem etwas gleich Schlimmes. Naja, der Fragensteller nimmt sich genauso wichtig, wie ich mich nehme. Und dann frage ich eben entweder nach dem ‚überindividuellen Lebenssinn‘ oder ich besaufe mich an Kunst oder an Schnaps oder an (einem?) Menschen, damit ich den Genuss dieser Drogen wieder in das mir gemäße Leben einordnen kann, das zu meinem folgerichtigen Tod führen wird. Kein Gotteszweifler soll mein Grab je mit einem „Warum?“ schänden. Zur Vervollständigung der Antwort darauf habe ich jeden Tag beigetragen; so bin ich meinem Tod furcht-, aber unbeugsam entgegengeschlendert. Und wenn es so weit ist, dann werde ich mit keinem Gebet Gottes Willen, mir meinen eigenen gelassen zu haben, beleidigt hinterfragen, oder ihn gar um mildtätige Änderung seiner vor Anbeginn aller Zeiten gefällten Entschlüsse anbettel

Musikalisch habe ich für meine achttägige Beisetzung schon ziemlich gut vorgesorgt. Alle meine Lieblingsstücke gibt es digital abrufbar. Albinoni bis Adele – meine Biografie in Tönen. Mir wird am Kopfhörer bewusst: Ich bin zu alt zum Leben und zu jung zum Sterben, und so ist beim Hin- wie beim Weghören die Wehmut meine Grundstimmung – ach, sie war es doch, so grell ich sie auch manchmal zu übertünchen trachtete, immer. Da bleibt halt alles gleich, während es sich ständig verändert.

Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Jenny Sturm/Fotolia

7 Kommentare zu “KALBSGULASCH

  1. Irgendwie sind unsere heutigen Diäten doch wahnsinnig asozial. Der eine isst vegan, der nächste laktosefrei, der andere paleotisch, und Gluten wird natürlich von allen verteufelt. Das gemeinsame Essen, der soziale Aspekt kommt heute nur noch vor, wenn man zufällig auf eine Gruppe von Gleichgesinnten trifft. Das eigene Gewissen muss rein bleiben. Karma über alles. Alles andere zählt nicht.

  2. Einen übergeordneten Sinn des Lebens gibt es wahrscheinlich wirklich nicht. Kreieren wir nicht vielmehr jeder unsere eigene Idee von einem Sinn, einer Daseinsberechtigung? Einfach um nicht das Gefühl zu haben, völlig plan- und nutzlos durch den Alltag zu duseln. Mir persönlich reicht das. Wer da etwas mehr Anleitung von ‚oben‘ braucht… soll mir auch recht sein.

    1. Ich denke manchmal, dass vielen Menschen erst wenn es Zeit für das „Warum?“ ist auffällt, dass es diesen höheren Lebenssinn eben nicht gibt. Tod zu akzeptieren ist natürlich immer eine große, eigentlich unlösbare Aufgabe. Für die Hinterbliebenen selbstverständlich mehr als für den Gehenden. Spätestens dann ist es Zeit sich ein paar Fragen zu stellen, die man bis dahin clever vermieden hat.

  3. Zufall und Schicksal sind meiner bescheidenen Meinung nach eh ein und dasselbe. Man trifft dann natürlich Entscheidungen und beeinflußt das Geschehen dementsprechend. Am Ende geht es darum, was man aus einer bestimmten Situation macht. Die Verantwortung hat man letztendlich also doch selbst. Sonst wäre es ja auch nur zu gemütlich jede Situation und jede Wendung im Leben als gottgewollt abzutun. Da bräuchte man sich dann um nichts mehr kümmern. So einfach läuft das Leben aber leider nicht.

    1. Und ich hab‘ trotzdem das Gefühl, dass die meisten Wendungen in meinem Leben völliger Zufall waren. Mein persönliches Zutun schätze ich da gar nicht allzu hoch ein. Bisher hat trotzdem immer alles ziemlich gut funktioniert. Ich klopf dreimal auf Holz, dass sich das auch in Zukunft einigermaßen ausgehen wird.

  4. Ich finde übrigens, wir sollten unsere Beerdigung alle selbst organisieren. Das würde den lieben Angehörigen nochmal zusätzliches Leid ersparen. Und die Erinnerung an unser Leben würde nicht schon ein paar Tage nach unserem Tod verwässert oder komplett durch den Fleischwolf gedreht. Amen.

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